T 0396/21 03-05-2023
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THERAPEUTISCHE NUTZUNG VON WASSERSTOFFMOLEKÜLEN
Ausreichende Offenbarung - Nacharbeitbarkeit (ja)
Beschwerdeentscheidung - Zurückverweisung an die erste Instanz (ja)
I. Die vorliegende Beschwerde der Anmelderin (Beschwerde-führerin) richtet sich gegen die am 11. Februar 2021 zur Post gegebene Entscheidung der Prüfungsabteilung, die europäische Patentanmeldung Nr. 13 770 444.1 zurückzuweisen.
II. Grundlage für die angefochtene Entscheidung waren die am 28. Januar 2021 eingereichten geänderten Anspruchssätze gemäß Hauptantrag und Hilfsantrag 1-12.
III. Der Hauptantrag weist fünf Patentansprüche auf. Anspruch 1 ist der einzige unabhängige Anspruch und lautet wie folgt:
"1. Dragee, Tablette, Pulver oder Kapsel zur Verwendung bei der Prophylaxe oder Behandlung von oxidativem Stress bei Mensch oder Tier mittels therapeutisch wirksamer Wasserstoffmoleküle,
wobei das Dragee, die Tablette, das Pulver oder die Kapsel zur direkten oralen Verabreichung oder indirekten Verabreichung in einem wässerigen Lösungs- und Verabreichungsmittel formuliert sind und die folgenden Komponenten umfasst:
- eine erste Komponente umfassend Magnesium zur gezielten chemischen Synthese der Wasserstoff-moleküle bei der Reaktion mit wässeriger Säure und
- eine zweite Komponente, wobei die zweite Komponente mindestens eine Säure ausgewählt aus der Gruppe bestehend aus Ascorbinsäure, Acetylsalicylsäure, Zitronensäure und Weinsäure umfasst und in Bezug auf das Magnesium der ersten Komponente chemisch inert vorliegt."
IV. In der Sache kam die Prüfungsabteilung zu dem Ergebnis, dass der Gegenstand keines der ihr vorliegenden Anträge im Sinne von Artikel 83 EPÜ hinreichend offenbart sei, und zwar im Hinblick auf die Umsetzung des funktionellen Merkmals "wobei die zweite Komponente (...) in Bezug auf das Magnesium der ersten Komponente chemisch inert vorliegt".
V. Zusammen mit ihrer Beschwerdebegründung reichte die Beschwerdeführerin Anspruchssätze gemäß Hauptantrag und Hilfsantrag 1 bis 12 ein. Diese sind identisch mit den Anspruchssätzen, die der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegen (s.o. Punkt II).
Des weiteren legte die Beschwerdeführerin eine schriftliche Erklärung des Erfinders vor ("Schriftliche Erklärung unter Eid des Erfinders Dr. Kurt Lucas nach Artikel 117(1)(g) EPÜ" vom 5. November 2020, im folgenden als D9 bezeichnet). Diese war zuvor bereits im Verfahren vor der Prüfungsabteilung Bestandteil des Schriftsatzes vom 8. Dezember 2020 gewesen.
VI. Die Argumentation der Beschwerdeführerin lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Da sich die angefochtene Entscheidung allein auf den Einwand betreffend mangelnde Ausführbarkeit stütze, sei davon auszugehen, dass die Anspruchssätze gemäß dem Hauptantrag und den Hilfsanträgen 1-12 die weiteren Patentierungsvoraussetzungen, einschließlich die von Artikel 56, 56 und 84 EPÜ, erfüllten.
Was das Kriterium der Ausführbarkeit gemäß Artikel 83 EPÜ betreffe, so offenbare die Anmeldung selbst, insbesondere in Ausführungsbeispiel 1, bereits anspruchsgemäße Pulver und Tabletten und damit mindestens einen gangbaren Weg zur Umsetzung. Die Herstellung entsprechender Pulver sei durch Vermischen der Bestandteile und die Herstellung von Tabletten durch gemeinsames Verpressen der beiden aktiven Komponenten mit beispielsweise Lactose oder Mannose ohne weiteres mit üblichen Verfahren möglich. Wie in D9 dargelegt, habe der Erfinder entsprechende Tabletten ohne Schwierigkeit mit üblichen Mitteln herstellen können. Die Anmeldung verweise zudem ergänzend auf Literatur zum allgemeinen Fachwissen der Galenik. Daher wäre ein Fachmann ohne weiteres in die Lage versetzt gewesen, auf der Grundlage der Offenbarung in der Anmeldung und seines eigenen einschlägigen Fachwissens die beanspruchten Darreichungsformen herzustellen.
Somit stehe einer Patenterteilung nichts entgegen.
VII. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und
- falls die Kammer eine Prüfung der Erfordernisse gemäß Artikel 54, 56 und/oder 84 EPÜ als notwendig erachten sollte, die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Prüfungsabteilung,
- oder andernfalls die Erteilung eines Patents.
Grundlage für die Prüfung sollten dabei die mit der Beschwerdebegründung eingereichten Anspruchssätze gemäß dem Hauptantrag und den Hilfsanträgen 1 bis 12 sein.
1. Zulässigkeit der Beschwerde
Die Beschwerde erfüllt die Erfordernisse von Artikel 106 bis 108 und Regel 99 EPÜ; sie ist zulässig.
2. Hauptantrag - Ausführbarkeit (Artikel 83 EPÜ)
2.1 Die zu verwendende Darreichungsform wird in Anspruch 1 des Hauptantrags über die folgenden Angaben definiert:
a) Sie liegt als Dragee, Tablette, Pulver oder Kapsel vor.
b) Sie ist "formuliert", also von ihrer Formulierung her geeignet, zur Verabreichung in einem wässrigen Lösungsmittel oder zur oralen Verabreichung.
c) Sie enthält Magnesium und mindestens eine Säure ausgewählt aus Ascorbinsäure, Acetylsalicylsäure, Zitronensäure und Weinsäure.
d) Das Magnesium dient zur gezielten Synthese von Wasserstoff durch Reaktion mit wässriger Säure, d.h. die Darreichungsform muss eine solche Reaktion grundsätzlich ermöglichen.
e) Die Säurekomponente liegt in Bezug auf das Magnesium aber "chemisch inert" im Produkt vor. Diese funktionelle Anforderung wird nicht weiter durch technische Merkmale konkretisiert.
2.2 Die Prüfungsabteilung war der Auffassung, dass die Angaben in der Patentanmeldung zusammen mit dem allgemeinen Fachwissen einen Fachmann nicht dazu befähigt hätten, Magnesium und Säure in einer der beanspruchten Darreichungsformen gemeinsam so zu formulieren, dass das Kriterium "chemisch inert" gemäß Punkt e) erfüllt würde. Der Einwand bezüglich der Ausführbarkeit betrifft also die Ausgestaltung der Darreichungsform bzw. ihre Herstellbarkeit. Diese Bedenken wurden mit der bekanntermaßen hohen Reaktionsbereitschaft von Magnesiumpulver begründet. Diese bringe zusätzliche Schwierigkeiten und Anforderungen mit sich, auf welche die Anmeldung nicht ausreichend eingehe.
2.3 Die Kammer kommt aus den folgenden Gründen zu einem anderen Ergebnis:
2.3.1 Das Merkmal "chemisch inert" bedeutet im vorliegenden Zusammenhang, dass die beiden Komponenten unter den Bedingungen, die in der jeweiligen Darreichungsform Dragee, Tablette, Pulver oder Kapsel vorliegen, nicht miteinander reagieren.
2.3.2 Laut der Anmeldung findet die Reaktion der Säure mit dem Magnesium, bei der Wasserstoff entwickelt wird, in wässriger Lösung statt (Seite 4, Zeile 32 bis Seite 5, Zeile 1 der ursprünglich eingereichten Fassung), was nicht dem Zustand der Komponenten in den beanspruchten festen Darreichungsformen entspricht.
2.3.3 Weiter ist der Anmeldung zu entnehmen, dass Magnesium-pulver mit Ascorbinsäurepulver gemischt und für den Handel luftdicht in Tütchen verpackt werden kann. Es wird angegeben, dass eine Reaktion der beiden Substanzen bei dieser Ausführungsform bei längerer Lagerung aufgrund von vorhandener Restfeuchte erfolgen könnte (Beispiel 1: Seite 20, Zeilen 19 bis 25).
2.3.4 Wenn bei Abwesenheit von Restfeuchte also offenbar keine Reaktion stattfindet, ist die Bedingung "chemisch inert" bereits erfüllt, wenn die Säure als Feststoff neben dem Magnesium in einer Pulvermischung ohne Restfeuchte vorliegt.
2.3.5 Auch die Herstellung von Tabletten durch Direkt-tablettierung, wobei das Magnesium und die Säurekomponente zusammen mit Hilfsstoffen verpresst werden, ist in der Anmeldung als mögliche Ausführungsform offenbart (Beispiel 1: Seite 21, Zeile 12 bis Seite 22, Zeile 2). Hilfsstoffe tragen zusätzlich zur Trennung von Magnesium und Säure bei, "falls für längere Lagerung erforderlich" (Seite 21, Zeile 15). Ohnehin ist es üblich, Füllstoffe einzusetzen, gerade auch, wenn benötigten Wirkstoffmengen eher gering sind (wie im vorliegenden Fall, vgl. Seite 20, Zeilen 9 bis 17). Im Zusammenhang mit der Tablettierung wird im Text noch auf gängige, aus dem Stand der Technik bekannte Hilfsstoffe, insbesondere Füll, Binde-, Spreng- und Gleitmittel, verwiesen (Seite 21, Zeile 27 bis Seite 22, Zeile 2). Die Tabletten, die im übrigen eine bevorzugte Darreichungsform darstellen, können in übliche Blister oder Röhrchen verpackt werden (Seite 21, Zeilen 12 bis 14).
2.3.6 Aus D9 geht hervor, dass entsprechend dieser Ausführungsform mittels üblicher Tablettenpressen aus Magnesiumpulver, Ascorbinsäure und Lactose oder Mannose, sowie mit Magnesiumstearat als gängigem Gleitmittel, geeignete Tabletten hergestellt wurden. Diese waren längere Zeit lagerfähig und setzten nach mehr als zwei Jahren Lagerung beim Einbringen in Wasser noch Wasserstoff frei (vgl. D9: Seite 5). Tabletten des gleichen Typs wurden außerdem auch mit Zitronensäure statt Ascorbinsäure hergestellt.
2.3.7 Diese Resultate bestätigen die sich aus der Lehre der Anmeldung ergebende Folgerung, dass auch bei der vorgeschlagenen Direktverpressung keine (vorzeitige) Reaktion der trockenen Komponenten zu befürchten wäre.
2.3.8 Die Herstellung von Kapseln (durch Abfüllen eines Mischpulvers in Kapseln) und von Dragees (mit einer gepressten Pulvermischung als Kern) wäre auf Grundlage der Ausführungsformen Pulvermischung und Tablette ebenfalls mit bekannten Verfahren möglich gewesen.
2.3.9 Der Fachmann wäre sich aufgrund seines allgemeinen chemischen Fachwissens der Reaktivität von Magnesium mit Luftsauerstoff und mit Wasser bewusst und würde bei der Ausführung des Anspruchsgegenstandes darauf achten, allzu kleine Partikelgrößen sowie Verfahren und Lagerungsbedingungen zu vermeiden, bei denen das Magnesium in Kontakt mit Zündquellen oder Feuchtigkeit kommen könnte. Dies hätte auch am Anmelde- bzw. Prioritätszeitpunkt gegolten. Dem Fachmann standen anhand des allgemeinen Fachwissens zum Umgang mit Magnesium daher durchaus Kriterien zur Wahl geeigneter Ausführungsmöglichkeiten zur Verfügung.
2.3.10 Die Kammer stellt außerdem fest, dass in den vorliegenden Ansprüchen keine besonderen Vorgaben zur Lagerfähigkeit der Darreichungsformen gemacht werden und dass auch nicht die Herstellung größerer Chargen verlangt wird. Auch ein durch Vermischen kleinerer Mengen der beiden Komponenten in Pulverform oder durch Direkt-Tablettierung kleinerer Mengen mit Füllstoff hergestelltes Produkt und dessen zeitnahe Verwendung sind anspruchskonform und erfordern keinen unvertretbar hohen Aufwand zu ihrer Realisierung.
2.3.11 Die Kammer ist aus diesen Gründen der Auffassung, dass die Ausführung der Darreichungsform gemäß Anspruch 1 des Hauptantrags im Hinblick auf das Merkmal "chemisch inert" hinreichend offenbart ist und der von der Prüfungsabteilung unter Artikel 83 EPÜ angeführte Einwand somit nicht zutrifft.
3. Zurückverweisung (Artikel 111(1) EPÜ)
3.1 Mit der angefochtenen Entscheidung hat die Prüfungs-abteilung ausschließlich über die Ausführbarkeit gemäß Artikel 83 EPÜ entschieden.
3.2 Der Entscheidung ist keine abschließende positive Beurteilung der Gewährbarkeit der Anträge im Hinblick auf weitere Erfordernisse des EPÜ zu entnehmen.
3.3 Auf der Grundlage der inhaltlich sehr ähnlichen Anspruchssätze vom 8. Dezember 2020 hatte die Prüfungsabteilung zudem in ihrem Bescheid vom 28. Januar 2021 (Kurzmitteilung, s. dort die Punkte 2, 8, 12 und 16) bereits mögliche Einwände betreffend die erfinderische Tätigkeit angesprochen.
3.4 Nachdem die Kammer zu dem Schluss gekommen ist, dass der von der Prüfungsabteilung unter Artikel 83 EPÜ erhobene Einwand der Erteilung eines Patents auf der Grundlage des Hauptantrags nicht entgegensteht (s.o. Punkt 2.3.11), ist bei der in 3.1 bis 3.3 erörterten Sachlage keine Patenterteilung ohne eine weitergehende Prüfung möglich, die gemäß Artikel 111(1) EPÜ entweder durch die Kammer selbst oder nach Zurückverweisung durch die Prüfungsabteilung erfolgen kann.
3.5 Die Beschwerdeführerin hat mitgeteilt (Beschwerde-begründung, Punkt II.2.2), dass sie in diesem Falle eine Zurückverweisung der Angelegenheit an die Prüfungsabteilung bevorzugen würde.
3.6 Die Kammer hält es im vorliegenden Fall für angemessen, der Beschwerdeführerin die Möglichkeit einer Prüfung über zwei Instanzen zuzugestehen. Da sich die Prüfungsabteilung im Hinblick auf die vorliegenden Anträge nicht zu den Erfordernissen gemäß Artikel 54, 56 und 84 geäußert hat, müsste die Kammer ansonsten eine umfassende Prüfung im Rahmen der Zuständigkeit der Prüfungsabteilung vornehmen, die in ihrem Umfang weit über das vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens hinausginge, die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen (Artikel 12(2) VOBK). Sollte im Ergebnis festgestellt werden, dass keiner der vorliegenden Anträge gewährbar wäre, würde der Beschwerdeführerin sodann keine Beschwerdemöglichkeit mehr offen stehen.
3.7 Aus diesen Gründen hat die Kammer entschieden, die Angelegenheit zur weiteren Behandlung an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen.
3.8 In Anbetracht des in Punkt 3.3 benannten Sachverhalts wird voraussichtlich zumindest die erfinderische Tätigkeit gemäß Artikel 56 EPÜ zu prüfen sein.
3.9 Im Hinblick auf die Erfordernisse von Art. 84 EPÜ und die Auslegung wäre gegebenenfalls zu prüfen, ob die vorliegenden Ansprüche ausschließlich eine weitere medizinische Verwendung im Sinne von Artikel 54(5) EPÜ betreffen (vgl. Seite 10, Zeilen 13 bis 20 der Anmeldung zu nichtmedizinischen Indikationen) und aufgrund welcher technischen Merkmale die als Desideratum geforderte therapeutische Wirksamkeit des Wasserstoffs erzielt wird (wobei Anspruch 1 des Hautantrags im aktuellen Wortlaut keine spezielle gesundheitliche Beeinträchtigung oder Patientengruppe nennt und für den anzuwendenden Wasserstoff weder Verabreichungsweg (s.o. Punkt 2.1.b) noch Dosierung vorzugeben scheint).
4. Entscheidung im schriftlichen Verfahren
Da der Beschwerde stattgegeben wird, konnte die Entscheidung im schriftlichen Verfahren nach Aktenlage getroffen werden.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird zur weiteren Entscheidung an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen.