T 0965/21 31-03-2023
Download und weitere Informationen:
MÖBEL- UND/ODER RAUMTEILERSTRUKTURELEMENT
Sandler AG
Vitra AG
Recytex GmbH & Co. KG
Änderungen - Berichtigung von Mängeln (nein)
Änderungen - zulässig (nein)
I. Die Patentinhaberin legte Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung ein, das Europäische Patent EP 3 241 462 zu widerrufen.
II. Im Einspruchsverfahren hatten die Einsprechenden Einwände unter Artikel 100 a) EPÜ (mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit), Artikel 100 b) EPÜ (fehlende Ausführbarkeit der Erfindung) und Artikel 100 c) (unzulässige Änderungen) geltend gemacht.
III. Die Einspruchsabteilung hat entschieden, dass der Gegenstand des unabhängigen Anspruchs 1 des Hauptantrags, sowie der Hilfsanträge 1 und 2 jeweils über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehe.
IV. Am 31. März 2023 fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt, an deren Ende die vorliegende Entscheidung verkündet wurde.
a) Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Einsprüche zurückzuweisen, d. h. das Patent aufrechtzuerhalten wie erteilt. Hilfsweise beantragte sie, das Patent in geänderter Fassung auf der Grundlage eines der mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsanträge 1 - 5 aufrechtzuerhalten.
b) Die Beschwerdegegnerinnen (Einsprechende 1 bis 3) beantragten, die Beschwerde zurückzuweisen.
V. Anspruch 1 des Hauptantrags lautet wie folgt:
"Möbel- und/oder Raumteilerstrukturelement (1; 10), mit zumindest einem raumseitigen Flächenelement (2), welches ganz oder teilweise als überwiegend glatt-flächiges Formvlies aus Kunststoff ausgebildet ist, wobei das Formvlies aus einem Faserverbundwerkstoff hergestellt ist, dadurch gekennzeichnet , dass
- der Faserverbundwerkstoff aus Kunststofffasern besteht, die mechanisch und/oder chemisch und/oder thermisch sowie bindemittelfrei miteinander verbunden sind, wobei
- das Formvlies ein spezifisches Gewicht von weniger als 0,6 g/cm3 aufweist."
Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 verlangt ausgehend vom Hauptantrag zusätzlich noch das folgende Merkmal:
"die bindemittelfreie Verbindung der Kunststofffasern wird so vorgenommen und umgesetzt, dass die jeweilige Kunststofffasern zunächst mit einer Weichmacherlösung benetzt und dann bei einer erhöhten Temperatur im Bereich von ca. 80 °C bis 160 °C miteinander verklebt werden"
Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 2 verlangt zudem noch das folgende Merkmal:
"das Formvlies erreicht im Frequenzbereich von 100 Hz bis 5000 Hz einen Schallabsorptionsgrad von wenigstens 0,5"
Die Hilfsanträge 3 und 4 unterscheiden sich von den Hilfsanträgen 1 und 2 lediglich dahingehend, dass im ersten Merkmal des Kennzeichens des Anspruchs 1 der Ausdruck "sowie miteinander verbunden" ersetzt wurde durch "miteinander verfestigt, sowie bindemittelfrei miteinander verbunden".
VI. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin kann wie folgt zusammengefasst werden:
a) Die Änderung der auf Seite 6, Zeilen 23 und 24 genannten Einheit im Ausdruck "spezifischen Gewicht von weniger als 0,6 g/cm2 und vorzugsweise von 0,5 g/cm2 und weniger" in "g/cm3" sei eine Korrektur im Sinne der Regel 139 EPÜ.
Der Fachmann erkenne aus dem Kontext des Absatzes, dass als Einheit Masse/Volumen gemeint sein müsse und würde daher die Einheit cm2 durch cm3 ersetzen. Dabei sei es unerheblich, dass der korrigierte Wert von 0,6 g/cm3 bzw. 0,5 g/cm3 zu Widersprüchen mit den weiteren im selben Absatz genannten Größen führe.
b) Entsprechend werde das Merkmal "das Formvlies weist ein spezifisches Gewicht von weniger als 0,6 g/cm3 auf" ursprünglich auf Seite 6 offenbart, so dass seine Aufnahme in den Anspruch 1 keine unzulässige Änderung im Sinne des Artikels 123(2) EPÜ darstelle.
VII. Das Vorbringen der Beschwerdegegnerinnen lässt sich wie folgt zusammenfassen:
a) Der Fachmann erkenne zwar sofort, dass die Einheit g/cm2 falsch sein müsse. Die Berichtigung sei jedoch nicht derart offensichtlich, dass nichts anderes beabsichtigt sein konnte, als die Einheit
g/cm3 zu verwenden.
Denkbar sei auch, dass hier ein Übertragungsfehler stattfand, der auch den Zahlenwert betraf, da selbst bei korrigierter Einheit der genannte Wert von 0,6 g/cm3 nicht mit den weiteren im Kontext genannten Nennwerten in Übereinstimmung gebracht werden könne.
Die Abänderung der Einheit stelle daher keine Berichtigung im Sinne der Regel 139 EPÜ dar.
b) Der in Anspruch 1 aufgenommene Zahlenwert von 0,6 g/cm3 werde daher in den ursprünglichen Unterlagen nicht genannt, so dass die Änderung unzulässig sei.
1. Der Ersatz der Einheit "g/cm2" durch "g/cm3" in der erteilten Beschreibung in Absatz [0023] stellt keine Korrektur im Sinne der Regel 139 EPÜ dar.
1.1 Die entsprechende Passage der ursprünglich eingereichten Anmeldung im letzten Absatz auf Seite 6 der Beschreibung und den ersten beiden Zeilen der Seite 7 (entspricht Absatz [0019] der veröffentlichten Anmeldung) lautet wie folgt:
"Tatsächlich verfügen auf diese Weise hergestellte Formvliese typischerweise über ein spezifisches Gewicht von weniger als 0,6 g/cm2 und vorzugsweise von 0,5 g/cm2 und weniger. Geht man von einer Materialstärke einer auf diese Weise realisierten Platte von bis zu ca. 50 mm, insbesondere bis zu ca. 30 mm und vorzugsweise in einem Bereich von 5 mm bis 20 mm aus, so bemisst sich das durchschnittliche Flächengewicht einer solchen Formvliesplatte zu in etwa 2.000 g/cm2 bis 3.000 g/cm2 , was deutlich niedriger angesiedelt ist als das Plattengewicht von Holzwerkstoffplatten. Tatsächlich werden für solche Holzwerkstoffplatten Flächengewichte von 9000 g/m2 und mehr beobachtet, betragen also das 3- bis 4-fache des Formvlieses."
1.2 Die Kammer stimmt mit der Beschwerdeführerin überein, dass aus dem Kontext klar wird, dass hier mit dem Ausdruck "spezifisches Gewicht von weniger als 0,6 g/cm2" eigentlich eine Dichte, angegeben typischerweise mit der Einheit Masse/Volumen, gemeint sein muss. Dies ergib sich nicht zuletzt auch aus der Struktur des Absatzes, da ausgehend von einer Dichte (in der Einheit Masse/Volumen) über die Dicke einer Platte (in einer Längeneinheit, hier "mm") auf ein Flächengewicht (in der Einheit Masse/Fläche, hier "g/cm2") geschlossen wird.
1.3 Es ist jedoch nicht zweifelsfrei klar, dass die einzig mögliche Korrektur "0,6 g/cm3" sein kann. Ganz im Gegenteil lässt sich die vermeintliche Korrektur "0,6 g/cm3" nicht mit den weiteren, im vorliegenden Absatz genannten Größen in Einklang bringen und zwar aus den folgenden Gründen:
a) Eine Dichte von bevorzugt 0,5 g/cm3 und eine präferierte Dicke von 30 mm der Platte führt zu einem Flächengewicht von 15.000 g/m2. Dieser Wert liegt aber weit entfernt von dem in Zeile 29 genannten Zielbereich von 2.000 g/cm2 bis 3.000 g/cm2, selbst wenn man dabei berücksichtigt, dass hier ersichtlich 2.000 g/m2 bis 3.000 g/m2 gemeint sein muss, wie sich aus dem in Zeile 1 der Seite 7 genannten Vergleichswert von 9.000 g/m2 und der Wiederholung der Werte auf Seite 14, Zeilen 4 und 5 ergibt (siehe hierzu auch Gründe 1.2.2 der angegriffenen Entscheidung).
b) Selbst wenn man die weiter bevorzugte Dicke von 5 mm bis 20 mm zugrunde legt, erhält man ein Flächengewicht von 2.500 g/m2 bis 10.000 g/m2. Dieser Bereich überschneidet sich aber nur in einem kleinen Bereich mit dem Zielbereich von 2.000 bis 3.000 g/m2, so dass auch hier die vermeintliche Korrektur zu Widersprüchen führt.
c) Die Beschwerdegegnerin-Einsprechende 3 führte eine Parameterstudie durch, deren Ergebnis sie in der mündlichen Verhandlung zeigte (siehe Screenshot, dem Protokoll angehängt). Auch hier ist zu erkennen, dass die meisten der im letzten Absatz auf Seite 6 genannten Werte für die Dicke mit dem korrigierten Wert für die Dichte nicht zum angestrebten Zielbereich für das Flächengewicht führen, so dass die Korrektur im Widerspruch zum Zielbereich des Flächengewichts von 2.000 bis 3.000 g/m2 steht.
d) Die mit den bevorzugten Werten erzielten Flächengewichte entsprechen zudem auch nicht der in der ersten Zeile der Seite 7 genannten Relation (Holzwerkstoffplatte hätten Flächengewichte in Höhe von 9.000 g/m2, entsprechend dem 3- bis 4-fachen eines Formvlieses). Stattdessen wären die Flächengewichte bei der schon bevorzugten Dichte von 0,5 g/cm3 (also 5.000 g/m2) vergleichbar zum Flächengewicht einer normalen Holzwerkstoffplatte, wenn nicht sogar die Formvliese schwerer wären als eine vergleichbare Holzwerkstoffplatte (siehe beispielsweise Wikipedia-Eintrag, eingereicht von der Beschwerdegegnerin in der mündlichen Verhandlung: übliche Holzwerkstoffplatte hat Flächengewicht von 4.000 bis 6.000 g/m2). Dies stellt einen weiteren Widerspruch dar, der sich aus der Korrektur ergäbe.
e) Zudem widersprechen die aus dem korrigierten Wert errechneten Flächengewichten auch dem erfinderischen Konzept der Gewichtsreduktion (Absatz [0010]: Aufgabe der Erfindung ist die Schaffung eines leichtgewichtigen Produkts), da kein Gewichtsvorteil zu einer konventionellen Holzwerkstoffplatte erkennbar ist.
f) Selbst wenn man denkbare spezifische Gewichte von unter 0,5 g/cm2 als möglichen besonders bevorzugten Bereich mit in die Überlegung einbezöge und von den als besonders bevorzugt bezeichneten Plattenstärke von 5-20 mm ausginge, gäbe es keinen Wert oder Wertebereich, aus dem sich der angegebene Zielbereich von 2.000 bis 3.000 g/m2 herleiten ließe, da dieser Bereich viel zu wenig gespreizt ist. Es sind damit keine Werte erkennbar, die mit ganz überwiegender Wahrscheinlichkeit den auf Seiten 6/7 angestellten Berechnungen zugrunde liegen und zu den dort genannten Vorteilen führen würden.
g) Der Ausdruck "spezifisches Gewicht von 0,6 g/cm3" ist zuletzt in sich widersprüchlich, da der einschlägige, in Masse/Volumen gemessene Kennwert des Werkstoffs als "Dichte" bezeichnet wird. Ein spezifisches Gewicht dagegen wird üblicherweise als "Wichte" bezeichnet und in "Gewichtskraft/Volumen" gemessen.
1.4 Bei der Beurteilung, ob die Korrektur tatsächlich derart offensichtlich ist, dass sofort erkennbar ist, dass nichts anderes beabsichtigt sein konnte, darf nicht nur die isolierte Änderung (hier also von g/cm2 auf g/cm3) beurteilt werden, sondern es muss auch der Kontext der Änderung berücksichtigt werden, d. h. ob die mit Hilfe des korrigierten Wertes abgeleiteten Schlussfolgerungen in sich stimmig sind.
Die vorstehend aufgezählten Widersprüche lassen sich aber auch mit einer Korrektur der Einheit von g/cm2 auf g/cm3 nicht auflösen.
1.5 Daher folgt die Kammer der Entscheidung der Einspruchsabteilung (Entscheidungsgründe 1.2.3) und sieht es nicht als derart offensichtlich im Sinne von Regel 139 Satz 2 EPÜ an, dass die Korrektur nur darin bestehen kann, dass die falsche Einheit g/cm2 ersetzt wird durch g/cm3.
2. Die Änderungen auf Seite 6 und die damit begründeten Änderungen des Anspruchs 1 sind daher nach Artikel 123(2) EPÜ unzulässig, da die ursprünglich eingereichte Anmeldung nicht offenbart, dass das Formvlies ein spezifisches Gewicht von weniger als 0,6 g/cm3 aufweist.
2.1 Der Hauptantrag erfüllt daher nicht die Erfordernisse des Artikels 100 c) EPÜ.
2.2 Auch in allen Hilfsanträgen wird im unabhängigen Anspruch das Merkmal "Formvlies weist ein spezifisches Gewicht von weniger als 0,6 g/cm3 auf" genannt. Diese Anträge wurden daher ebenfalls unzulässig geändert und erfüllen nicht die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.