T 0132/90 21-02-1994
Download und weitere Informationen:
Kragplattenanschlußelement
Neuheit
Erfinderische Tätigkeit
Prioritätsrecht
Verschiebung des Anmeldedatums nach schweizerischem Patentrecht
Novelty
Inventive step
Priority - application giving rise to a right of priority - postdating of previous application under Swiss patent law
I. Der Beschwerdeführer (Patentinhaber) hat gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, mit der das Patent Nr. 0 119 165 widerrufen wurde, Beschwerde eingelegt.
Die Einspruchsabteilung war zur Auffassung gekommen, daß die in Artikel 100 (a) EPÜ genannten Entscheidungsgründe der Aufrechterhaltung des Patents entgegenständen. Insbesondere wurde auf Seite 10 oben der angefochtenen Entscheidung ausgeführt:
Z1: "Die vom Patentinhaber im Schreiben vom 02.12.1987 geäußerte Ansicht, daß die Bügel 39 eine Überbestimmung seien und deshalb auch weggelassen werden könnten, braucht nicht weiter diskutiert zu werden. Eine Weglassung der Bügel 39 würde den Schutzbereich der Ansprüche erweitern, welches wegen Artikel 123 (3) EPÜ unstatthaft ist und den Beteiligten im Bescheid vom 22.02.1989 zur Kenntnis gebracht worden ist."
Im Einspruchsverfahren wurden insbesondere folgende Beweismittel berücksichtigt:
D1: CH-C-652 160
D2: EP-A-0 034 332
D3: Verfügung des Bundesamtes für geistiges Eigentum, Bern, betr. Patentgesuch 1361/83-8, datiert vom 14. Juni 1985
D4: Prospekt RIPINOX, Firma Fr. Frauchiger, CH-3250 Lyss
D5: EGCO Kragplattenanschluß: "Preisliste ab 1. Januar 1983" (1 Blatt)
D6: SIA-Norm Nr. 162, Ausgabe 1968.
Der Beschwerdeführer gab mit Schreiben vom 31. August 1990 folgendes Schriftstück zu den Akten:
D7: Bundesamt für geistiges Eigentum, Kommentar zum Problem Verschiebung des Anmeldedatums und Prioritätsrecht, datiert vom 31. Juli 1990.
II. Der dem Widerruf zugrunde liegende erteilte Anspruch 1 hat folgenden Wortlaut:
"1. Kragplattenanschlußelement zum isolierten, kraftschlüssigen Verbinden mit einer auskragenden Platte, mit einem quaderförmigen Isolationskörper (2) und diesen durchsetzenden Armierungsstäben, dadurch gekennzeichnet, daß die Armierungsstäbe (3 - 6) als in einer vertikalen Ebene verlaufende geschlossene Schlaufen ausgebildet sind, die durch etwa parallel zu dem quaderförmigen Isolationskörper (2) verlaufende Querstäbe (7 - 14) miteinander verbunden sind, und daß
(B) der obere und der untere Teil jeder Schlaufe (3 - 6) mittels einem Bügel (39) miteinander verbunden sind." (Bezeichnung Merkmal "(B)" hinzugefügt).
III. In einem Bescheid und in einer Anlage der Ladung zur mündlichen Verhandlung verweist die Kammer auf technisch und patentrechtlich relevante Sachverhalte.
IV. Die Argumente des Beschwerdeführers werden wie folgt zusammengefaßt:
a) Mit der Einreichung der europäischen Anmeldung am 9. März 1984 sei die Priorität des schweizerischen Patentgesuchs CH-1361/83 beansprucht worden. Von dieser Anmeldung sei zu diesem Zeitpunkt nur der ursprüngliche Anmeldetag bekannt gewesen, nämlich der 11. März 1983. Während des Prüfverfahrens vor dem Schweizerischen Bundesamt für geistiges Eigentum sei jedoch infolge Änderung der Anmeldung das Anmeldedatum durch Verfügung (siehe (D3)) auf den 1. Juli 1983 festgesetzt worden.
b) Aufgrund der Inanspruchnahme der Priorität dieser Anmeldung CH-1361/83 gemäß Artikel 88 (1) EPÜ müsse als Prioritätstag deren gültiger Anmeldetag, also das Datum des verschobenen Anmeldetags gelten. Dieser geltende Anmeldetag wäre automatisch zugleich mit der europäischen Anmeldung als Prioritätstag genannt worden, wenn der verschobene Anmeldetag damals (d. h. am 9. März 1984) schon bekannt gewesen wäre. Dies sei aber nicht der Fall, da gemäß Dokument D3 das verschobene Anmeldedatum erst am 14. Juni 1985 rechtsgültig festgesetzt worden sei. Durch die Datumsverschiebung bestehe aber die frühere Anmeldung nicht mehr und könne auch nicht als stehengebliebenes Recht gelten. Somit bestehe nur noch eine einzige Anmeldung mit dem Anmeldedatum vom 1. Juli 1983.
c) Sollte dennoch davon ausgegangen werden, daß eine ältere und eine jüngere Anmeldung vorlägen, wäre zu klären, ob die Datumsverschiebung nicht einer Rücknahme der älteren Anmeldung gleichkäme.
V. Die Argumente des Beschwerdegegners werden wie folgt zusammengefaßt:
a) Die Priorität vom 11. März 1983 bestände dann zu Recht, wenn die Anmeldung nicht geändert worden wäre. Infolge der Änderung der Anmeldung bestehe die Priorität vom 11. März 1983 somit nicht mehr zu Recht.
b) Es werde bestritten, daß die Preisliste D5 erst nach dem 1. Juli 1983 verteilt worden sei, denn dabei handle es sich um eine unbewiesene Behauptung des Anmelders. Es werde festgehalten, daß es unsinnig und unlogisch sei, einen nach dem 1. Juli 1983 zu verteilenden Prospekt auf den 1. Januar 1983 zurückzudatieren.
VI. Der Beschwerdeführer beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben. Der Beschwerdegegner beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen und für den Fall einer mündlichen Verhandlung Kostenverteilung nach Artikel 104 EPÜ.
Vor Durchführung der gemäß den Hilfsanträgen beider Parteien anberaumten mündlichen Verhandlung haben beide Parteien per Telefax vom 6. Dezember 1993 erklärt, auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung zu verzichten und beantragen, nach Aktenlage zu entscheiden.
1. Die Entscheidung ist zulässig.
2. Es ist zu prüfen, ob der Gegenstand des Anspruchs 1 patentfähig ist.
3. Prioritätsrecht
3.1. Dokument D7 ist zu entnehmen, daß das Institut der Datumsverschiebung dazu dient, dem Anmelder in den Fällen, wo die technischen Unterlagen vervollständigt werden müssen, die Einreichung einer neuen Anmeldung zu ersparen. Ob die Datumsverschiebung als eine Rücknahme der ursprünglichen Anmeldung verbunden mit einer Neuanmeldung aufgefaßt werden kann (siehe GRUR Int., 1972, Heft 1, Seite 23, 25), bleibe dahingestellt. Wesentlich ist, daß die Datumsverschiebung eine Wirkung ex nunc entfaltet und daß demzufolge die ursprüngliche Anmeldung bis zum Datum der Verschiebung besteht. Da aufgrund von Artikel 87 (3) EPÜ das spätere Schicksal der ursprünglichen Anmeldung in prioritätsrechtlicher Hinsicht ohne Bedeutung ist, kann diese Anmeldung mithin Grundlage für die Inanspruchnahme eines Prioritätsrechts sein und das ursprüngliche Anmeldedatum als Prioritätsdatum anerkannt werden.
3.2. Die am 11. März 1983 beim Schweizerischen Bundesamt für geistiges Eigentum eingereichte (ursprüngliche) Ameldung stellt eine vorschriftsmäßige nationale Anmeldung im Sinne des Artikels 87 (3) EPÜ dar, deren Priorität vom Beschwerdeführer gemäß den Vorschriften des Artikels 88 (1) und der Regel 38 EPÜ in Anspruch genommen worden ist. Da diese Anmeldung trotz Datumsverschiebung Grundlage eines Prioritätsrechts sein kann (siehe oben Abschnitt 3.1), ist sie demnach als prioritätsbegründend anzuerkennen.
3.3. Aufgrund der rechtswirksamen Inanspruchnahme dieser Priorität ist Artikel 87 (4) EPÜ im vorliegenden Fall nicht anwendbar. Die die Verschiebung des Anmeldedatums auf den 1. Juli 1983 bewirkende geänderte Anmeldung hätte daher nur insoweit Grundlage für die Inanspruchnahme eines Prioritätsrechts sein können, als sie Merkmale umfaßt, die in der ursprünglichen, am 11. März 1983 eingereichten Anmeldung nicht offenbart sind. Der Beschwerdeführer hat es jedoch unterlassen, ein solches Prioritätsrecht in Anspruch zu nehmen. Die geänderte Anmeldung ist deshalb nicht weiter zu beachten.
3.4. Nach Artikel 88 (3) EPÜ umfaßt das Prioritätsrecht nur die Merkmale einer europäischen Patentanmeldung, die in der Anmeldung oder den Anmeldungen enthalten sind, deren Priorität in Anspruch genommen worden ist. Im vorliegenden Fall wird daher das Prioritätsrecht durch die gemäß Artikel 88 (1) EPÜ eingereichte beglaubigte Abschrift des schweizerischen Patentgesuchs 1361/93, das den Vermerk "Datum der Anmeldung: 11.03.83" trägt (nachstehend Prioritätsdokument genannt), inhaltlich festgelegt.
4. Die angefochtene Entscheidung hat (siehe oben I: Zitat Z1) ohne nähere Begründung angenommen, das Entfernen des Merkmals B würde den Schutzbereich des Anspruchs 1 erweitern. Angesichts der Tatsache, daß dieses Merkmal in auffälliger Weise in den maßgebenden Teilen der Beschreibung und auch in den Figuren 1, 2, 3, 4, 5 und 7 des erteilten Patents ohne Kommentar fehlt, liegt ein für den Fachmann unverkennbarer Widerspruch zum genauen Wortlaut des Anspruchs 1 vor; dementsprechend fehlt auch eine entsprechende Stützung des Anspruchs.
Es ist daher im Hinblick auf das Interpretationsprotokoll zu Artikel 69 EPÜ noch nicht von vornherein auszuschließen, daß der Anspruch 1 sowohl einen Schutzbereich mit und einen Schutzbereich ohne Merkmal B (Bügel 39, oben Abschnitt II) aufweisen könnte.
5. Das im erteilten Anspruch 1 des Streitpatents figurierende Merkmal B ist im Prioritätsdokument nicht offenbart. Folglich besteht nur in bezug auf einen Teilgegenstand, nicht aber auf den gesamten Gegenstand dieses Anspruchs ein Prioritätsrecht.
6. Prioritätsgeschützter Gegenstand (Anspruch 1 ohne Merkmal B)
Da, wie nachstehend begründet, der durch die Priorität geschützte Gegenstand (Anspruch 1 ohne Merkmal B) nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht, kann dahingestellt bleiben, ob das Entfernen des Merkmals B aus Anspruch 1 den Bedingungen des Artikels 123 (3) EPÜ genügen würde.
6.1. Stand der Technik, Aufgabe und Lösung
Die dem Gattungsbegriff des Anspruchs 1 zugrunde liegende Entgegenhaltung D2 schlägt getrennte obere und untere Bewehrungen mit Endhaken vor, wobei die untere Bewehrung eine Abschrägung nach oben aufweist. Es werden spezielle Druckkörper vorgesehen, die der Druckübertragung durch die Isolierung hindurch dienen. Wie in der Beschreibung angegeben, wird diese Konstruktion als herstellungstechnisch relativ aufwendig, sperrig und unstabil erachtet. Als Aufgabe, deren Objektivität nicht zu bezweifeln ist, ist das Beheben der genannten Nachteile angegeben.
Durch die Ausbildung geschlossener Schlaufen gemäß Anspruch 1 (ohne Merkmal B) werden die entsprechenden Verbesserungen erzielt.
6.2. Neuheit
Vor dem Prioritätstag sind keine Entgegenhaltungen verfügbar, die einen Gegenstand mit sämtlichen Merkmalen des um B reduzierten Anspruchs 1 offenbaren. Seine Neuheit ist daher nicht zu bestreiten.
6.3. Erfinderische Tätigkeit
Dem Stahlbeton-Fachmann drängt sich die Vereinigung der beiden vertikal praktisch einander gegenüberliegenden Endhaken in D2 (Figur 2) zu zwei Endschlaufen als konstruktiv übliche Variante unmittelbar auf. Da in D2 außerdem besondere, aufwendige Druckkörper 30 vorgesehen sind, muß der Fachmann zwangsläufig in Rechnung stellen, daß seit den Anfängen des Stahlbetons nicht nur Zug- sondern auch Druckbewehrung eingesetzt wird. Daher wird der im Stahlbeton bewanderte Fachmann die statisch äquivalente Wirkung der speziellen Druckkörper 30 in D2 zu einer durch die Schlaufenbildung gegebenen Druckbewehrung in Betracht zu ziehen haben. Es ist ebenso eine elementare fachliche Selbstverständlichkeit, und seit langer Zeit durch die Stahlbeton-Normen geregelt (siehe D6), daß (schräge oder vertikale) Schubarmierung nur bei größeren Querkräften erforderlich ist. Damit ergibt sich jedoch dem Fachmann der Gegenstand des um B reduzierten Anspruchs 1 als naheliegende konstruktive Modifikation von D2 mittels gängiger Endschlaufen und bekanntem Weglassen der Schubbewehrung.
Dieses schon der Interpretation von D2 durch das bloße Fachverständnis erschlossene Resultat ergibt sich aber auch, wenn zwecks Verbesserung der Konstruktion nach D2 auf die Lösung gemäß D4 Bezug genommen wird. Auf Seite vier, oben links, wird eine Anschlußarmierung einer Balkonkonsole vorgestellt, die eine einseitige Schlaufe mit Zug- und Druckbewehrung, und zwar ohne Schubbügel, zeigt. Es bedarf daher lediglich fachlicher Fähigkeiten, um D2 im Sinne von D4 symmetrisch zu ergänzen - und vor dem Anspruchsgegenstand zu stehen.
Deshalb ist jener Gegenstand des Anspruchs 1, der durch die Priorität geschützt ist, mangels erfinderischer Tätigkeit nicht patentierbar. Eine entsprechende Änderung des Anspruchs 1 (Streichen des Merkmals "Bügel (39)") - selbst wenn, wie unter 4. erwähnt, eine solche Änderung mit Artikel 123 (3) EPÜ vereinbar wäre - könnte somit zu keiner gewährbaren Anspruchsfassung führen.
7. Gegenstand des erteilten Anspruchs
7.1. Neuheit
Im Unterschied zu dem unter Ziffer 4 oben betrachteten, von der Priorität zwar geschützten, jedoch nicht patentfähigen Teil-Gegenstand weist der gesamte Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 noch zusätzlich das Merkmal B (Bügel 39) auf. Die Beurteilung der Patentfähigkeit des erteilten, gesamten Anspruchsgegenstands hängt daher notwendigerweise von diesem hinzugefügten Merkmal B ab, das von der Priorität nicht geschützt ist. Infolgedessen kann nach Artikel 88 (3) EPÜ das Prioritätsdatum nicht mehr dem erteilten Anspruchsgegenstand als Ganzem zugesprochen werden. Zusammengefaßt: Da der von der Priorität geschützte Teilgegenstand (A) des Anspruchs 1 nicht patentfähig ist, muß der Gesamtgegenstand des Anspruchs 1 (A und B) an seinem Anmeldetag beurteilt werden. Für diesen Gegenstand ist somit der Anmeldetag der europäischen Anmeldung, also der Stand der Technik vor dem 9. März 1984, maßgebend.
Laut Schreiben des Beschwerdeführers (also des Patentinhabers selbst), eingegangen am 12. September 1984, ist die Preisliste D5 (Seite 2, letzter Abschnitt), welche sämtliche Merkmale des erteilten Anspruchs 1 (insbesondere die Bügel 39) darstellt, bereits im August 1983 vervielfältigt und verteilt worden. Folglich ist der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 von D5 neuheitsschädlich getroffen.
8. Es ist somit zusammengefaßt festzustellen, daß der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 nicht neu ist und daß sein von der Priorität geschützter Gegenstand nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.
Da der Gegenstand des Anspruchs 1 die Patentierbarkeits- Erfordernisse der Artikel 52, 54 und 56 EPÜ mithin nicht erfüllt, ist die Beschwerde zurückzuweisen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.