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T 0905/90 (Gebührenermäßigung) 13-11-1992
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1. Regel 6 (3) EPÜ ist eng auszulegen, so daß Gebührenermäßigungen ausgeschlossen sind, wenn nur unwesentliche Schriftstücke der ersten Verfahrenshandlung im einschlägigen Verfahren in einer zugelassenen Nichtamtssprache eingereicht worden waren (vgl. Nr. 3 Absatz 1 der Entscheidungsgründe).
2. Für den Anspruch auf eine Gebührenermäßigung nach Regel 6 (3) EPÜ ist entscheidend, ob die erste Handlung im einschlägigen Verfahren wesentlich ist, nicht aber, ob die Vornahme einer solchen Handlung in sprachlicher Hinsicht besonders anspruchsvoll ist (im Anschluß an G 6/91, ABl. EPA 1992, 491; vgl. Nr. 3 Absatz 2 der Entscheidungsgründe).
Weder ein Antrag auf Gebührenermäßigung noch eine Mitteilung, daß nur eine ermäßigte Gebühr entrichtet worden sei, ist ein wesentliches Schriftstück der ersten Verfahrenshandlung im einschlägigen Verfahren (vgl. Nr. 4 der Entscheidungsgründe).
3. Laut Regel 6 (3) EPÜ ist es nicht statthaft, daß ein Beteiligter den in Artikel 12 (1) der Gebührenordnung vorgesehenen Betrag im voraus einbehält, wenn die Vorausetzungen der Ermäßigung nicht vorliegen (vgl. Nr. 6 letzter Absatz und Nr. 7 der Entscheidungsgründe).
4. Ein Fehlbetrag in Höhe von 20 % einer einschlägigen Gebühr, d. h. der in Artikel 12 (1) der Gebührenordnung vorgesehene Betrag, ist nicht "geringfügig" im Sinne des Artikels 9 (1) der Gebührenordnung (abweichend von T 290/90, ABl. EPA 1992, 368; vgl. Nr. 10 der Entscheidungsgründe).
5. Das berechtigte Vertrauen der Beteiligten hinsichtlich des künftigen Verhaltens von Organen des EPA kann nicht nur von ausdrücklichen Erklärungen der in einer bestimmten Sache handelnden befugten Bediensteten oder von amtlichen Mitteilungen des EPA, sondern auch von ständiger einschlägiger Verwaltungspraxis des EPA herrühren (vgl. Nr. 5 der Entscheidungsgründe).
Alle Änderungen dieser Praxis sind so früh wie möglich amtlich zu verlautbaren, damit die Beteiligten nicht irregeführt werden (vgl. Nr. 7 der Entscheidungsgründe).
Gebührenermäßigung - unwesentliche Schriftstücke des Verfahrens in einer Nichtamtssprache
Gebührenermäßigung - Bedeutung von 'geringfügig' in der Gebührenordnung
Treu und Glauben - Relevanz der Berufung auf allgemeine Praxis des EPA
Treu und Glauben - Erfordernis der rechtzeitigen Ankündigung von Änderungen der Praxis durch das EPA
Treu und Glauben - EPA-Praxis geändert
Treu und Glauben - Beschwerdeführer nicht irregeführt, Einspruch unzulässig
Gleichbehandlung
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 19. Oktober 1990, der zufolge ein Einspruch des belgischen Unternehmens Monsanto Europe SA/NV gegen das auf den Namen des britischen Unternehmens Albright and Wilson Limited lautende europäische Patent Nr. 0 125 766 nach Artikel 99 (1) EPÜ als nicht eingelegt gilt.
II. Der am 16. Juni 1990 eingegangene Einspruch wurde mit EPA-Formblatt 2300 eingereicht, das bis auf das Feld "Sonstige Anträge", wo die niederländische Sprache verwendet worden war, ganz in Englisch ausgefüllt war. In diesem Feld wurde darauf hingewiesen, daß die Einspruchsgebühr nach Regel 6 (3) EPÜ gekürzt worden sei. Eine Übersetzung der Angaben in diesem Feld in die Verfahrenssprache, nämlich die Amtssprache Englisch, wurde nicht eingereicht. Die Einspruchsbegründung war jedoch ganz in Englisch abgefaßt.
III. Am 7. August 1990 erhielt die Einsprechende die Mitteilung, daß die Einspruchsgebühr nicht in voller Höhe entrichtet worden sei und daß ferner die Voraussetzungen der Regel 6 (3) EPÜ hinsichtlich der Gebührenermäßigung nicht erfüllt seien. Auf diese Mitteilung hin verlangte die Einsprechende von der Einspruchsabteilung zu erfahren, auf welcher Rechtsgrundlage ihre Mitteilung basiere. Sie entrichtete auch den Fehlbetrag mittels Abbuchungsauftrag, der am 17. August 1990 beim EPA einging.
IV. Als Rechtsgrundlage der genannten Mitteilung wurden am 24. August 1990 die "Rechtsauskunft 5271" und die "Rechtsauskunft 5003" genannt, beide aus dem Jahr 1989. Der Rechtsauskunft 5003 zufolge war das EPA einige Zeit vorher zu dem Schluß gekommen (vgl. Untersuchung BG 3748), daß seiner Praxis, wonach für die Gewährung von Gebührenermäßigungen nach Regel 6 (3) EPÜ allein maßgeblich ist, daß die entsprechenden Anträge in einer zugelassenen Nichtamtssprache abgefaßt sind, "nicht mehr gefolgt werden" solle.
V. Die Einsprechende beharrte auf ihrem Anspruch auf Gebührenermäßigung und beantragte (R. 69 (2) EPÜ) eine Entscheidung der Einspruchsabteilung.
VI. Diese ordnungsgemäß ergangene Entscheidung befaßte sich nahezu ausschließlich mit der Frage, welche rechtlichen Konsequenzen zu ziehen sind, wenn ein in einer zugelassenen Nichtamtssprache abgefaßter und in der Einspruchsschrift enthaltener Hinweis auf Kürzung der Einspruchsgebühr nach der Tatsachenfeststellung der Einspruchsabteilung nicht als bedeutsamer Bestandteil der Einspruchsschrift in dem Sinne zu betrachten ist, daß er in sprachlicher Hinsicht besonders anspruchsvoll ist und daher einer Übersetzung bedurft hätte.
VII. Am 6. November 1990 wurde Beschwerde eingelegt. Die Beschwerdebegründung ging am 15. Februar 1991 ein. In einer Mitteilung vom 8. August 1991 wurde die Einsprechende darüber unterrichtet, daß die beantragte mündliche Verhandlung bis zur Entscheidung der Großen Beschwerdekammer in einem ähnlichen Fall verschoben werde. Dieser Fall, G 6/91, wurde am 6. März 1992 entschieden. Kurz vor der für den 13. November 1992 anberaumten mündlichen Verhandlung in dem Beschwerdeverfahren reichte die Beschwerdeführerin (Einsprechende) eine Reihe von Anträgen ein, die - bis auf ein weiteres Vorbringen, das die Frage betraf, ob der für die Einspruchsabteilung handelnde Formalsachbearbeiter in dieser Angelegenheit zum Erlaß einer beschwerdefähigen Entscheidung nach Regel 69 (2) EPÜ befugt war - praktisch auf eine Neuformulierung der von ihr in ihrer Beschwerdebegründung genannten Argumente hinausliefen. Dieses spezifische weitere Vorbringen wurde von der Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung jedoch nicht weiterverfolgt.
VIII. Zusätzlich zu diesen Anträgen legte die Beschwerdeführerin ein recht umfangreiches schriftliches Beweismaterial zu der angeblichen Praxis des EPA vor, Gebührenermäßigungen nach Regel 6 (3) EPÜ auch dann zu gewähren, wenn nur solche Schriftstücke, die sprachlich nicht besonders anspruchsvoll (und mithin nicht von großer Bedeutung) waren, in einer zugelassenen Nichtamtssprache eingereicht worden waren. Zur Stützung ihres Vorbringens reichte sie auch weitere ausführliche Aufzeichnungen und Darstellungen ein.
IX. Die in sämtlichen Schriftsätzen und anschließend in der mündlichen Verhandlung geltend gemachten Argumente der Beschwerdeführerin lassen sich in vier verschiedenen, aber miteinander zusammenhängenden Behauptungen zusammenfassen:
a) Regel 6 (3) und Artikel 14 (4) EPÜ müßten weit ausgelegt werden, so daß Gebührenermäßigungen (in der in Artikel 12 (1) der Gebührenordnung vorgesehenen Höhe) auch dann statthaft seien, wenn lediglich solche Schriftstücke der ersten wesentlichen Handlung im einschlägigen Verfahren - hier im Einspruchsverfahren - in einer zugelassenen Nichtamtssprache eingereicht worden seien, die sprachlich nicht anspruchsvoll seien oder keine substantiellen Punkte beträfen, und alle übrigen wesentlichen Schriftstücke vollständig in der Verfahrenssprache eingereicht worden seien;
b) mit der Einreichung der Einspruchsschrift werde die Absicht, Einspruch einzulegen, klar und eindeutig zum Ausdruck gebracht; die damit einhergehende eindeutige Bezeichnung des laufenden Kontos der Einsprechenden sei als klarer, eindeutiger Auftrag an das EPA zu verstehen, von diesem Konto die volle Gebühr auch dann abzubuchen, wenn ihm ausdrücklich Anweisung gegeben worden sei, nur eine ermäßigte Gebühr zu zahlen;
c) der an der vollen Gebühr fehlende Satz von 20 % (laut Artikel 12 (1) der Gebührenordnung) sei, wie in der Beschwerdeentscheidung T 290/90 vom 9. Oktober 1990 (ABl. EPA 1992, 368) festgestellt, lediglich ein geringfügiger bzw. unbedeutender Betrag im Sinne des Artikels 9 (1) der Gebührenordnung;
d) ungeachtet der rechtlichen Wertung der Regel 6 (3) und des Artikels 14 (4) EPÜ sei die Beschwerdeführerin durch die großzügige Praxis des EPA irregeführt worden, wonach Gebührenermäßigungen nach dieser Regel nämlich auch dann gewährt worden seien, wenn lediglich in sprachlicher Hinsicht unerhebliche oder unwesentliche Schriftstücke oder Bestandteile des einschlägigen Verfahrens in einer zugelassenen Nichtamtssprache, die übrigen Schriftstücke aber in der Verfahrenssprache eingereicht worden waren. Angesichts dieser großzügigen Praxis habe sie zu Recht darauf vertraut, die bestimmte Art und Weise, wie die Gebührenermäßigung im vorliegenden Fall vorgenommen worden sei, werde ebenfalls als nach Regel 6 (3) EPÜ rechtmäßig erachtet. Unter diesen Umständen sollten die strengen Rechtsfolgen, daß ein Einspruch nach Artikel 99 (1) EPÜ als nicht eingelegt gelte, nicht eintreten.
Schließlich machte sie auch geltend, daß eine weite Rechtsauslegung der Regel 6 (3) EPÜ im Licht der jüngsten Entscheidung der Großen Beschwerdekammer (G 2/91, ABl. EPA 1992, 206) angebracht sei; diese habe eine Gebührenermäßigung in einem Fall zugelassen, in dem nur ein in sprachlicher Hinsicht wenig anspruchsvolles Schriftstück des einschlägigen Verfahrens, nämlich die Beschwerdeschrift, in einer zugelassenen Nichtamtssprache eingereicht worden war.
X. Die Beschwerdeführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und den Einspruch als nach Artikel 99 (1) EPÜ zulässig zu erklären.
Die Beschwerdegegnerin teilte der Kammer mit Schreiben vom 20. März 1991 mit, daß sie sich zu dem Vorbringen der Beschwerdeführerin nicht äußern wolle, und beantragte die Aufrechterhaltung der angefochtenen Entscheidung. Sie war folglich in der mündlichen Verhandlung nicht vertreten, nach der die Entscheidung der Kammer verkündet wurde, die Beschwerde zurückzuweisen.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Das erste Hauptargument der Beschwerdeführerin betrifft die Auslegung der Regel 6 (3) EPÜ in Verbindung mit Artikel 14 (4) EPÜ. Diese Regel besagt folgendes: "Macht ein Anmelder, Patentinhaber oder Einsprechender von den durch Artikel 14 Absätze 2 und 4 eröffneten Möglichkeiten Gebrauch, so werden dementsprechend die Anmeldegebühr, die Prüfungsgebühr, die Einspruchsgebühr und die Beschwerdegebühr ermäßigt." (Hervorhebung durch die Kammer). Solche Möglichkeiten sind bei der Einreichung von Patentanmeldungen (Art. 14 (2)) und von bestimmten fristgebundenen Schriftstücken (Art. 14 (4)) gegeben. Bei weiter Auslegung der Regel in dem obigen Zusammenhang wären Gebührenermäßigungen (in der in Art. 12 (1) der Gebührenordnung spezifizierten Höhe) statthaft, wenn das betreffende, in einer zugelassenen Nichtamtssprache eingereichte Originalschriftstück kein wesentliches Schriftstück in dem einschlägigen Verfahren bzw. kein wesentliches Schriftstück der ersten Handlung in diesem Verfahren war. Umgekehrt wären Gebührenermäßigungen bei engster Auslegung der obigen Regel auf Fälle beschränkt, in denen ein in einer zugelassenen Nichtamtssprache eingereichtes Originalschriftstück ein wesentliches Schriftstück der ersten Handlung in dem einschlägigen Verfahren war. Bekanntlich ging es im vorliegenden Fall bei dem Original-"Schriftstück", das in einer zugelassenen Nichtamtssprache eingereicht wurde, ohne daß gleichzeitig oder später eine Übersetzung eingereicht worden wäre, um den Hinweis im Feld "Sonstige Anträge" des EPA-Formblatts 2300.2, gemäß Regel 6 (3) EPÜ sei die Einspruchsgebühr nach Artikel 99 (1) EPÜ nicht in voller Höhe entrichtet worden.
3. In ihrer jüngst veröffentlichten Entscheidung G 6/91 (ABl. EPA 1992, 491) hatte es die Große Beschwerdekammer mit einem ähnlichen Problem zu tun; dabei ging es um die zeitliche Reihenfolge, in der in einer zugelassenen Nichtamtssprache abgefaßte Originalschriftstücke und deren Übersetzungen beim EPA eingereicht werden müssen. Es war offensichtlich längere Zeit Praxis des EPA, Gebührenermäßigungen nach Regel 6 (3) EPÜ ungeachtet dieser zeitlichen Reihenfolge zu gewähren.
Die Große Beschwerdekammer bekräftigte zunächst die bisherige Rechtsprechung in dieser Frage, die ohnehin nicht strittig war (siehe Nr. XII der Zusammenfassung des Verfahrens), und vertrat dann unter anderem die Auffassung, Gebührenermäßigungen nach Regel 6 (3) EPÜ seien nur dann statthaft, wenn ein wesentliches Schriftstück der ersten Verfahrenshandlung im Anmelde-, Prüfungs-, Einspruchs- oder Beschwerdeverfahren in einer zugelassenen Nichtamtssprache eingereicht worden sei, wobei eine Übersetzung frühestens zum selben Zeitpunkt vorgelegt werden dürfe. Die Beachtung dieser zeitlichen Reihenfolge wurde damit begründet, daß eine Übersetzung nur dann als solche erkennbar sei, wenn zum Zeitpunkt ihres Eingangs der Originaltext bereits vorliege. Der von der Großen Beschwerdekammer verhandelte Fall betraf zwar ein Beschwerdeverfahren und insbesondere die weitere Frage, ob Gebührenermäßigungen zulässig seien, wenn die Beschwerdeschrift als einziges Schriftstück in einer zugelassenen Nichtamtssprache und die Beschwerdebegründung in der Verfahrenssprache eingereicht wurden; ihre Schlußfolgerung ist aber eindeutig auch auf andere Verfahren, zu denen auch Einspruchsverfahren vor dem EPA zu zählen sind, zu übertragen.
In ihrem umfassenden und klaren Vortrag machte die Beschwerdeführerin geltend, daß der Regel 6 (3) EPÜ ursprünglich die Absicht zugrunde lag, Beteiligte/ihre Vertreter mit Sitz in einem Vertragsstaat mit einer anderen Amtssprache als Deutsch, Englisch oder Französisch für die ihnen dadurch entstehenden Nachteile zu entschädigen, daß sie zu einem für die Sachfragen bedeutsamen Schriftstück, das somit in sprachlicher Hinsicht anspruchsvoll ist, eine Übersetzung einreichen müßten und daß diese Übersetzung für das Ergebnis des einschlägigen Verfahrens von entscheidender Bedeutung sei; mit der Entscheidung G 6/91 sei der Anwendungsbereich der obigen Regel auf Schriftstücke ausgedehnt worden, wie z. B. eine Beschwerdeschrift und somit implizit auch eine Einspruchsschrift, die sprachlich nicht besonders anspruchsvoll seien. In diesem Zusammenhang stellt die Kammer fest, daß die Große Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung der bisherigen anerkannten Rechtsprechung gefolgt ist, wonach eine Gebührenermäßigung nach besagter Regel nur dann gewährt werden könne, wenn ein wesentliches Schriftstück der ersten Handlung im einschlägigen Verfahren in einer zugelassenen Nichtamtssprache eingereicht und gleichzeitig oder später eine Übersetzung hiervon vorgelegt worden sei. Auf wiederholte Fragen der Kammer räumte die Beschwerdeführerin ein, daß es für die Gewährung einer Gebührenermäßigung nicht darauf ankomme, ob das in einer zugelassenen Nichtamtssprache eingereichte Schriftstück in sprachlicher Hinsicht besonders anspruchsvoll sei; entscheidend sei vielmehr, ob es sich dabei um ein wesentliches Schriftstück handle. Sie blieb allerdings dabei, daß die Voraussetzungen für eine Gebührenermäßigung schon dann erfüllt seien, wenn beispielsweise bei der Einreichung einer Beschwerdeschrift (G 6/91) oder - wie im vorliegenden Fall - einer Einspruchsschrift (oder in einem Teil der Einspruchsschrift) in sehr geringem Umfang von einer zugelassenen Nichtamtssprache Gebrauch gemacht wurde.
Nach Auffassung der Kammer sind die rechtlichen Bestimmungen völlig eindeutig, wie dies auch die Große Beschwerdekammer in dem obigen Fall in Bestätigung der früheren Rechtsprechung festgestellt hat. Ein Anspruch auf Gebührenermäßigung besteht nur dann, wenn ein wesentliches Schriftstück der ersten Handlung im einschlägigen Verfahren in einer zugelassenen Nichtamtssprache eingereicht und die erforderliche Übersetzung fristgerecht geliefert wurden. Eine Beschwerdeschrift ist aber, obwohl sie sprachlich nicht besonders anspruchsvoll ist, eindeutig ein wesentliches Schriftstück des Beschwerdeverfahrens, während ein bloßer Hinweis auf die laut Regel 6 (3) EPÜ 20%ige Kürzung der einschlägigen Gebühr - unabhängig davon, ob er in einem Anschreiben oder, wie im vorliegenden Fall, in einer ansonsten ganz in Englisch eingereichten Einspruchsschrift in einem für sonstige Anträge vorgesehenen Feld enthalten ist - beim besten Willen nicht als wesentliches Schriftstück im betreffenden Verfahren, hier im Einspruchsverfahren, gewertet werden kann.
4. Daraus folgt nach Auffassung der Kammer, daß der Hinweis in niederländischer Sprache in der ansonsten ganz in Englisch abgefaßten Einspruchsschrift, mit dem das EPA davon in Kenntnis gesetzt wurde, daß die Gebühr nach Artikel 99 (1) EPÜ nicht in voller Höhe entrichtet worden sei, kein wesentliches Schriftstück der (und nicht in der) ersten Handlung im Einspruchsverfahren war und daß die Beschwerdeführerin, was diesen Punkt ihres Vorbringens anbelangt, nach Regel 6 (3) EPÜ nicht berechtigt war, 20 % der vollen Gebühr einzubehalten. Daraus folgt auch, daß die Einspruchsabteilung diese Frage zu Recht so entschieden hat. Fraglich ist allerdings noch, ob sie auch zu Recht entschieden hat, der Einspruch habe demzufolge nach Artikel 99 (1) EPÜ automatisch als nicht eingelegt zu gelten. In diesem Zusammenhang führte die Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerdebegründung drei zusätzliche Argumente an, während sie das vierte Argument, dem Wortlaut des Artikels 99 (1) EPÜ sei nicht zu entnehmen, daß die Einspruchsgebühr "in voller Höhe" entrichtet werden müsse, fallenließ.
5. Beim wichtigsten dieser zusätzlichen Argumente geht es um das Bona-fide-Prinzip bzw. um den Grundsatz des Vertrauensschutzes im Verhältnis zwischen den Beteiligten und dem EPA. Der in den Vertragsstaaten allgemein anerkannte Grundsatz des Verfahrensrechts (Art. 125 EPÜ) besagt, daß Handlungen (oder Unterlassungen) einer Institution (hier des EPA) das berechtigte Vertrauen der Beteiligten nicht verletzen dürfen; berechtigt ist Vertrauen aber nur dann, wenn es sich auf eine vernünftige Basis stützt. In Entscheidungen wie J 3/87 (MEMTECH/Membranen), ABl. EPA 1989, 3, T 14/89 (UHDE/Wiedereinsetzung), ABl. EPA 1990, 432, J 10/84 (TEXAS/Änderungen), ABl. EPA 1985, 71 und unlängst in G 5/88 (MEDTRONIC/Verwaltungsvereinbarung), ABl. EPA 1991, 137 ist die Anwendung dieses wichtigen Grundsatzes des Verfahrensrechts auf Verfahren nach dem EPÜ wiederholt bestätigt worden. Die Große Beschwerdekammer hat in dem vorstehend genannten Fall hierzu folgendes festgestellt: "Zu den wichtigsten Rechtsgrundsätzen, die im Recht der Europäischen Gemeinschaften fest verankert sind und von den Vertragsstaaten und in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern allgemein anerkannt werden, gehört der Vertrauensschutz. ... Bei der Anwendung dieses Grundsatzes auf Verfahren vor dem EPA sollten die vom EPA getroffenen Maßnahmen das in diese Verfahren gesetzte berechtigte Vertrauen der Beteiligten nicht verletzen." Den bisher entschiedenen Fällen läßt sich entnehmen, daß sich dieser Vertrauensschutz auf zweierlei Kategorien von Informationen gründet, nämlich einmal auf die von Organen des EPA zu einem Einzelfall in Form eines spezifischen Bescheids oder auf andere Weise vermittelten Informationen, zum anderen auf die Informationen in einer amtlichen Mitteilung, die allgemein anwendbar ist und, wie dies in der Sache G 5/88 der Fall war, im Amtsblatt veröffentlicht wird. Im vorliegenden Fall war der der Beschwerdeführerin am 24. August 1990 übersandte Bescheid zwar keineswegs irreführend, wohl aber war er viel zu spät ergangen, als daß eine Reaktion noch möglich gewesen wäre. Die Rechtsauskunft, auf die er Bezug nahm und die ihm beigefügt war, bot jedoch indirekt den Beweis für eine bestimmte Praxis des EPA, der, so die Rechtsauskunft, "nicht mehr gefolgt" werde. Es steht auch fest, daß es zum maßgeblichen Zeitpunkt keine amtliche Verlautbarung -etwa in Form von Richtlinien - gab, nach der zu verfahren und der zu entnehmen gewesen wäre, daß von der eindeutigen Rechtsprechung in bezug auf die Regel 6 (3) EPÜ in der Praxis abgewichen werde.
Nach Auffassung der Kammer sind es jedoch nicht allein einzelne Bescheide oder andere Maßnahmen im Rahmen eines bestimmten Verfahrens sowie amtliche Mitteilungen (z. B. Richtlinien), auf die sich der Vertrauensschutz gründet; ebensogut kann dieses Vertrauen auch aus dem tatsächlichen allgemeinen Verhalten oder der ständigen Praxis von Organen des EPA erwachsen.
6. Die Beschwerdeführerin behauptet, im Lauf der Jahre sei es im EPA zur ständigen Praxis geworden, in bezug auf Gebührenermäßigungen großzügig zu verfahren, und dies habe sie - ungeachtet der Klarheit oder Unklarheit der Rechtsprechung bezüglich des Anwendungsbereichs der Regel 6 (3) EPÜ -zu einem Vorgehen verleitet (Kürzung der Gebühr im voraus, diesbezüglicher Hinweis in niederländischer Sprache in dem Feld "Sonstige Anträge" in der ansonsten in Englisch abgefaßten Einspruchsschrift und Nichteinreichung einer Übersetzung), in dessen Folge ihr Einspruch nach Artikel 99 (1) EPÜ für unzulässig erklärt worden sei.
Bei der Prüfung dieser Argumentation auf ihre Stichhaltigkeit hat die Kammer anhand der ihr vorgelegten Beweismittel sowie etwaiger eigener Ermittlungen nach Artikel 114 (1) EPÜ zu befinden, ob eine solche großzügige Handhabung zur maßgeblichen Zeit tatsächlich übliche Praxis war und ob sich die Beschwerdeführerin bei ihrem Handeln von dieser Praxis hat leiten lassen. In diesem Zusammenhang liegt es auf der Hand, daß einzelne Beispiele einer solchen Praxis des EPA zum Beweis nicht ausreichen; über das Abwägen von Wahrscheinlichkeit hinaus muß vielmehr eine ständige Praxis oder ein deutlich in diese Richtung gehender Trend nachgewiesen werden. Je größer die Unklarheiten in bezug auf diese Praxis oder auf eine in diese Richtung gehende Tendenz sind, desto dringender bedarf es nach Auffassung der Kammer einer raschen Klarstellung von maßgeblicher Seite, nämlich einer Anfrage beim EPA.
Von dem der vorstehenden Rechtsauskunft entnommenen indirekten Beweis einmal abgesehen, wurde der Kammer von der Beschwerdeführerin am 11. November 1992 als schriftliches Beweismaterial ein am 10. Juli 1984 in Niederländisch verfaßtes Schreiben zusammen mit einer am selben Tag eingereichten Übersetzung in Englisch vorgelegt, in dem die (an diesem Verfahren nicht beteiligte) Firma Unilever N. V. eine Gebührenrückerstattung nach Artikel 14 (4) und Regel 6 (3) EPÜ beantragte. Als weiteres einschlägiges schriftliches Beweismaterial legte die Beschwerdeführerin eine von der Patentabteilung der Firma DSM eingereichte Einspruchsschrift vom 7. Oktober 1987 und ein Schreiben dieser Patentabteilung vom 7. Februar 1991 an die Beschwerdeführerin vor, in dem die Vorgeschichte dieses Einspruchs erläutert und auch über die einschlägige Praxis des EPA berichtet wurde. In diesem Schreiben erklärte die Firma DSM, daß sie auf der (in Niederländisch abgefaßten) ersten Seite der Einspruchsschrift den Auftrag zur Abbuchung der vollen Einspruchsgebühr erteilt habe, daß aber gleichwohl ein Betrag in Höhe von 112 DEM zu "erstatten" gewesen sei, weil die Einspruchsgebühr de facto überzahlt worden war. Die Firma DSM gab auch an, daß anschließend auf ihrem laufenden Konto eine entsprechende Gutschrift erfolgt sei; sie habe seit dem 27. Januar 1988 ihre Rückerstattungsanträge stets in dieser Weise gestellt, doch seien "Rückerstattungen (überzahlter) Einspruchsgebühren nicht mehr erfolgt". Ferner erklärte sie: "Ihre weitere Frage nach unseren Erfahrungen bei der Einlegung eines Einspruchs (und der Entrichtung einer vorab ermäßigten Gebühr) können wir nicht bejahen. Auch von seiten unserer Kollegen in anderen Unternehmen sind uns keine Präzedenzfälle bekannt." In dem genannten Schreiben hieß es ferner, daß im Zeitraum zwischen August 1984 und Januar 1988 mindestens 75 Rückerstattungen erfolgt seien, die letzte im Januar 1988.
Die obigen Beweismittel bestätigen in ihrem gesamten Sachverhalt eindeutig, daß es - was die liberale Handhabung angeht - während des genannten Zeitraums nicht nur eine Tendenz in dieser Richtung, sondern auch die ständige und übliche Praxis gab, Gebührenrückerstattungen zu gewähren, wenn
i) die Gebühr in voller Höhe entrichtet worden war,
ii) in einem in einer zugelassenen Nichtamtssprache abgefaßten Begleitschreiben, dem eine Übersetzung in die betreffende Amtssprache des EPA beilag, eine Rückerstattung nach Regel 6 (3) EPÜ beantragt worden war.
Dem Beweismaterial der Firma Unilever zufolge war dieser Antrag in einem (in Niederländisch abgefaßten) Begleitschreiben enthalten, während es in dem einzigen Beispiel zur Praxis der Firma DSM lediglich um einen in der Einspruchsschrift (in Niederländisch) erteilten Auftrag zur Abbuchung der Einspruchsgebühr ging. Als zusätzliches Beweismaterial wurde von der Beschwerdeführerin ein Antrag auf Erteilung eines europäischen Patents (EPA-Form 100110RG) der Firma AGFA vorgelegt, der einen (in Niederländisch abgefaßten) Antrag auf Rückerstattung des Ermäßigungsbetrags nach Artikel 14 (4) und Regel 6 (3) EPÜ enthielt. Das AGFA-Dokument enthält zwar keinen Hinweis auf eine etwa gleichzeitig oder später eingereichte Übersetzung dieses Rückerstattungsantrags, aber für die Feststellung der Kammer hinsichtlich der Gesamtbewertung des Beweismaterials zu der zwischen 1984 und 1988 geübten Praxis des EPA, wonach (entgegen der einschlägigen Rechtsprechung) Rückerstattungen vorgenommen wurden, wenn ein unwesentliches Schriftstück im einschlägigen Verfahren in einer zugelassenen Nichtamtssprache eingereicht worden war, ist dies ohne Belang.
Als nächstes ist zu klären, ob die Beschwerdeführerin im vorliegenden Fall dieser Praxis gefolgt war, weil sie sich hatte irreführen lassen, oder ob sie einen anderen Weg gegangen war, von dem sie annahm, dieser werde angesichts der zunehmend großzügigen Haltung des EPA vermutlich ebenfalls hinnehmbar sein. In der mündlichen Verhandlung machte die Kammer die Beschwerdeführerin darauf aufmerksam, daß ein Beteiligter, der infolge einer unklaren Praxis unschlüssig sei, sich um Klarstellung bemühen müsse und nicht voreilige Schlüsse ziehen dürfe. Insbesondere wurde der Beschwerdeführerin bedeutet, daß sie bei ihrem Vorgehen in mindestens zwei entscheidenden Punkten von der vermeintlichen Praxis des EPA in den Jahren 1984 bis 1988 abweiche; zum einen habe sie keine Übersetzung der in einer zugelassenen Nichtamtssprache abgefaßten Passage eingereicht, und zum anderen habe sie den in Artikel 12 (1) der Gebührenordnung vorgesehenen Ermäßigungsbetrag im Abzugswege einbehalten, anstatt die Gebühr in voller Höhe zu entrichten und eine Rückerstattung zu beantragen. Die Beschwerdeführerin mußte einräumen, daß dies in der Tat der Fall sei, behauptete aber weiterhin, die liberale Praxis des EPA habe sie zu Recht annehmen lassen, auch in diesem Fall werde eine Gebührenermäßigung gewährt.
7. Der Umstand, daß die Beschwerdeführerin der liberalen Praxis des EPA gefolgt ist, ließe es nach Auffassung der Kammer eindeutig geboten erscheinen, daß entsprechend dem Grundsatz von Treu und Glauben verfahren und die Feststellung der Einspruchsabteilung, der Einspruch sei nach Artikel 99 (1) EPÜ unzulässig, aufgehoben wird. Es ist jedoch ganz eindeutig, daß sich die Beschwerdeführerin diese Praxis nicht nur zu eigen gemacht, sondern sie zu ihrem Vorteil erweitert bzw. ausgedehnt hat, indem sie nur den ermäßigten Betrag entrichtet und sich auch nicht um die Einreichung einer Übersetzung gekümmert hat. Es ist eindeutig nicht angebracht, daß Beteiligte Änderungen in der Praxis des EPA unter Berufung auf den Grundsatz von Treu und Glauben extrapolieren oder erweitern; und wenn diese Praxis, was hier offensichtlich nicht der Fall war, für unklar gehalten wurde, so hätte eine Klarstellung durch eine maßgebliche Stelle, nämlich das EPA, erbeten werden müssen. Das bloße Vertrauen auf die Erfahrungen anderer Benutzer des EPA reicht nach Auffassung der Kammer zur Entlastung eines Beteiligten, der den obigen Grundsatz zum Vorteil nutzen will, nicht aus. Dem von der Beschwerdeführerin selbst vorgelegten Beweismaterial zufolge war die Praxis des EPA jedenfalls bis 1988 hinreichend eindeutig, und die rechtzeitige Ankündigung etwaiger künftiger Verschärfungen durch das EPA wäre zwar fraglos wünschenswert gewesen; daß eine solche Ankündigung ausgeblieben ist, berechtigt aber nicht zu der Annahme, eine ständige, in mancherlei Beziehung liberale Praxis ließe sich noch flexibler oder noch großzügiger handhaben. Demgemäß vertritt die Kammer die Auffassung, daß die Beschwerdeführerin nicht der einschlägigen Praxis entsprechend gehandelt hat und ihr deshalb nicht zuzubilligen ist, sie sei irregeführt worden. Demzufolge sind die diesbezüglichen Argumente und Anträge der Beschwerdeführerin ebenfalls zurückzuweisen.
8. Das dritte Hauptargument der Beschwerdeführerin betraf die rechtliche Auslegung der Einschränkung bzw. des Beiworts "geringfügig" in Artikel 9 (1) der Gebührenordnung. Sie behauptete, daß der Fehlbetrag in Höhe von 20 % der Einspruchsgebühr - eine in Artikel 12 (1) der Gebührenordnung ausdrücklich festgelegte Ermäßigung - als geringfügig im Sinne des obigen Artikels betrachtet werden könne, und zwar vor allem, aber nicht ausschließlich, weil der eigentliche Betrag (112 DEM) als solcher geringfügig sei bzw. weil der Betrag im Verhältnis zu den "schlimmen Folgen" der zu niedrigen Zahlung (nämlich dem Verlust der Einspruchsberechtigung) sehr geringfügig sei.
In Artikel 9 (1) der Gebührenordnung heißt es in der englischen Fassung wie folgt: "It may also, where this is considered justified, overlook any small amounts lacking without prejudice to the rights of the person making the payment." Die deutsche Fassung des Artikels besagt dasselbe, aber anstelle einer Bezugnahme auf justification heißt es dort: "... wenn dies der Billigkeit entspricht, geringfügige Fehlbeträge ... unberücksichtigt lassen." Auch die französische Fassung gebraucht die Formulierung "si cela paraît justifié, l'Office peut ne pas tenir ...". Dieser Aspekt der Billigkeit bzw. justification wird weiter unten in dieser Entscheidung behandelt.
9. Mit der Frage, was unter "geringfügig" im Sinne des obigen Artikels zu verstehen sei, war die Große Beschwerdekammer in dem vorstehend genannten Fall ebenfalls befaßt worden; angesichts ihrer Entscheidung bezüglich der in der Beschwerdeschrift und in der Beschwerdebegründung zu verwendenden Sprache war eine Entscheidung zu dieser Frage nicht erforderlich und ist auch nicht ergangen, so daß die Kammer zu ihrer eigenen Schlußfolgerung in der Angelegenheit gelangen kann.
Die Beschwerdeführerin berief sich nachdrücklich auf die Entscheidung T 290/90 "Gebührenermäßigung/SAVIO PLASTICA" (ABl. EPA 1992, 368). Die Kammer war in diesem Fall der Auffassung (rechtliche Beurteilung), die Tatsache, daß absichtlich eine ermäßigte Einspruchsgebühr gezahlt worden war, sei nicht notwendigerweise ein entscheidungserhebliches Argument, mit dem sich die Weigerung, den Fehlbetrag unberücksichtigt zu lassen, begründen ließe; es sei zwar darüber zu entscheiden, ob das Vorbringen eines Beteiligten in bezug auf eine Ermäßigung der Einspruchsgebühr stichhaltig sei, aber es sei nicht angebracht, ihn dafür zu strafen, daß er dies überhaupt vorgebracht habe (vgl. Nr. 4 a der Entscheidungsgründe). Die Kammer gelangte dann zu der Feststellung, ohne diese jedoch im einzelnen zu begründen, daß eine 20%ige Ermäßigung der Einspruchsgebühr zu Recht als geringfügig im Sinne des Artikels 9 (1) der Gebührenordnung betrachtet werden könne.
10. Diese Frage kann natürlich nicht im absoluten Sinne entschieden werden. Auch die Zahlungskraft ist kein ausschlaggebender Faktor, denn sonst müßten entgegen dem allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz der Gleichbehandlung aller Beteiligten je nach den unterschiedlichen finanziellen Mitteln der Beteiligten auch unterschiedliche Maßstäbe Anwendung finden. Ebensowenig fundiert ist die Behauptung, daß sich das Kriterium der Geringfügigkeit an den Folgen zu niedriger Zahlung orientieren oder zumindest hiervon abhängig sein sollte; würde nämlich den rechtlichen und damit verbundenen finanziellen Folgen der Nichtzahlung der vollen Gebühr ein gegenüber der Höhe des Fehlbetrags erheblich größeres Gewicht beigemessen, so wären die meisten Fehlbeträge - wenn nicht gar alle - als geringfügig zu betrachten. Wäre im vorstehenden Fall beispielsweise nur 1 DEM entrichtet worden, so daß 559 DEM noch ausstünden, so wären die Folgen bei einem Fehlbetrag von 559 DEM dieselben wie bei einem Fehlbetrag von 112 DEM. Eine solche Auslegung des Artikels 9 (1) der Gebührenordnung führt ganz klar zu absurden Ergebnissen und kann deshalb nicht richtig sein. Eine Bestätigung ihrer Auffassung sieht die Kammer darin, daß die Gebühren des EPA in den meisten Fällen, bedenkt man die (rechtlichen und finanziellen) Folgen bei zu niedriger Zahlung, überaus gering sind. Da weder die Zahlungskraft noch die finanziellen Folgen bei zu niedriger Zahlung einen zuverlässigen Anhaltspunkt für die Auslegung des obigen Artikels bieten, ist die Kammer der Meinung, daß sich die Bedeutung von "geringfügig" in diesem Zusammenhang am besten durch Vergleich des Fehlbetrags mit dem Gesamtbetrag der Gebühr abgrenzen läßt. Unter diesem Gesichtspunkt kann eine Differenz von 20 %, ungeachtet der absoluten Höhe des Fehlbetrags, seiner Höhe im Verhältnis zur Zahlungskraft oder der Folgen der zu niedrigen Zahlung, rein rechnerisch eindeutig nicht als geringfügig, geschweige denn als bedeutungslos oder als Bagatellbetrag angesehen werden. Gerade für solche sehr geringfügigen Summen oder Bagatellbeträge war jedoch nach Auffassung der Kammer Artikel 9 (1) der Gebührenordnung gedacht, der einen Rechtsverlust (billigerweise) verhindern soll, wenn ein kleiner, geringfügiger, unbedeutender oder als Bagatelle anzusehender Teil einer im betreffenden Verfahren fälligen Gebühr versehentlich nicht entrichtet wurde. Er war de facto nie dazu bestimmt, in den Fällen für Abhilfe zu sorgen, in denen ein Beteiligter bewußt nur eine ermäßigte Gebühr - deren Höhe zudem in den Vorschriften, nämlich Artikel 12 (1) der Gebührenordnung, ausdrücklich festgelegt ist - entrichtet hatte. Der allgemein anerkannte Rechtsgrundsatz de minimis non curat lex (Um Kleinigkeiten kümmert sich das Gesetz nicht - s. Black's Law Dictionary, 6. Auflage, S. 431) ist hier eindeutig von Bedeutung, denn in den Vorschriften (hier der obige Artikel in der Gebührenordnung) geht es klar und unmißverständlich um den Prozentsatz von 20 % und um nichts anderes. Der Betrag von 112 DEM (20 % der vollen Gebühr), auch wenn er im Verhältnis zu den (finanziellen) Folgen bei nicht rechtzeitiger Entrichtung geringfügig ist, kann demzufolge und ungeachtet der Fehlbeträge, die vom EPA in anderen begründeten Fällen hingenommen wurden, nicht als geringfügig angesehen werden, damit die in Artikel 99 (1) EPÜ genannten Rechtsfolgen, nämlich daß der Einspruch als nicht eingelegt gilt, vermieden werden.
11. Dies führt die Kammer zu der Frage des Ermessens, das dem EPA eingeräumt wird, wenn die Voraussetzungen für die Annahme von Geringfügigkeit, nämlich "Billigkeit", "justification" und "justifié", gegeben sind. Billigkeitsgründe, die für die Beschwerdeführerin sprechen, könnten vorliegen, wenn sie durch die Praxis des EPA irregeführt worden wäre. In Anbetracht der Feststellung der Kammer zur Art dieser Praxis und des Umfangs, in dem die Beschwerdeführerin ihr gefolgt war (vgl. Nr. 7), können solche Gründe hier aber nicht als gegeben angesehen werden.
12. Somit verbleibt das weitere Vorbringen der Beschwerdeführerin (das in dem in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Antrag Nr. 3 zusammengefaßt ist), das zusammen mit dem Einspruch eingereichte Formblatt über die Gebührenzahlung sei ungeachtet der daraus ersichtlichen Anweisung, eine ermäßigte Gebühr zu entrichten, de facto als Auftrag zur Abbuchung der vorgesehenen Einspruchsgebühr vom laufenden Konto der Einsprechenden auszulegen. In diesem Zusammenhang brachte die Beschwerdeführerin vor, weder im EPÜ noch in der Ausführungsordnung gebe es eine Vorschrift, wonach es dem EPA untersagt wäre, Unterlagen über die Zahlung einer Gebühr, in denen auf ein laufendes Konto Bezug genommen werde, liberal auszulegen. Wie bereits in ihrer Beschwerdebegründung ausgeführt, behauptete sie, die klare, eindeutige Absicht, Einspruch einzulegen, stelle einen klaren, eindeutigen Auftrag zur Entrichtung der vollen und nicht einer ermäßigten Gebühr dar bzw. komme einem solchen Auftrag gleich. In dem in der Beschwerdebegründung angeführten Fall (T 152/85, ABl. EPA 1987, 191), auf den sich die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung aber nicht mehr berief, enthielt die Beschwerdeschrift allerdings keinerlei Hinweis auf die Entrichtung der Einspruchsgebühr; die Kammer wies deshalb die Beschwerde der Einsprechenden zurück und erklärte, daß "ganz allgemein gilt, daß das EPA nur dann einen Geldbetrag von einem bei ihm geführten laufenden Konto zur Begleichung einer Gebühr oder der Kosten einer Dienstleistung ordnungsgemäß abbuchen kann, wenn ihm ein vom Kontoinhaber unterzeichneter klarer, eindeutiger schriftlicher Auftrag hierzu vorliegt". Im vorliegenden Fall hat das EPA keine solche Anweisung erhalten. In dem Fall, auf den sich die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung zu berufen versuchte, nämlich die Entscheidung T 152/82 (ABl. EPA 1984, 301), ging es um eine offensichtliche Unrichtigkeit im Sinne der Regel 88 EPÜ bei der Angabe der zu entrichtenden Gebühr; dieser Fall ist somit keineswegs mit dem vorliegenden vergleichbar und weist auch nicht entfernt Ähnlichkeit mit ihm auf. Anders als beim erstgenannten Fall bestand hier nämlich der einzige klare Auftrag darin, den ermäßigten Betrag zu zahlen; beigefügt war eine Erläuterung (R. 6 (3) EPÜ), warum nicht die volle Gebühr entrichtet worden war. Das Argument der Beschwerdeführerin, daß der Sachbearbeiter, der einen solchen Auftrag erhalte, die Regel 6 (3) EPÜ im Licht der einschlägigen Rechtsprechung ausgelegt oder eine Klarstellung durch die zuständigen Organe des EPA erbeten hätte und folglich einen klaren Auftrag zur Zahlung eines ermäßigten Betrags als klare, eindeutige Anweisung im Sinne der Entscheidung T 152/85 zur Zahlung des vollen Betrags verstanden hätte, kann nach Auffassung der Kammer nicht als stichhaltig akzeptiert werden.
13. Schließlich berief sich die Beschwerdeführerin auch auf eine in ABl. EPA 1982 veröffentlichte Mitteilung des Präsidenten des EPA über das laufende Konto, in der es (Nr. 6.5 ff.) um Maßnahmen zur Unterrichtung von Kontoinhabern geht, deren Konto die zur ordnungsgemäßen Abbuchung erforderliche Deckung nicht aufweist. Auch hier ist nach Auffassung der Kammer die Ähnlichkeit zwischen dem Fall, daß ein Konto keine ausreichende Deckung aufweist, und dem Fall, daß das Guthaben eines Kontos für die Zahlung einer vollen und erst recht einer ermäßigten Gebühr ausreicht, zu gering, als daß die von der Beschwerdeführerin in diesem Zusammenhang aufgestellten Behauptungen Bestand haben könnten.
Dementsprechend kann die Kammer aus den vorstehenden Gründen keines der von der Beschwerdeführerin vorgetragenen Argumente gelten lassen und weist deshalb diese Beschwerde zurück; die Einspruchsabteilung war zu Recht der Auffassung, daß nach Artikel 99 (1) EPÜ kein Einspruch eingelegt worden sei.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.