D 0001/93 23-09-1993
I. Bei der europäischen Eignungsprüfung für zugelassene Vertreter im April 1991 erzielte der Beschwerdeführer für die Arbeit A die Note 5, die Arbeit B Note 4, die Arbeit C die Note 5 und die Arbeit D die Note 2; daraufhin wiederholte er die Prüfungsaufgaben A und C bei der im April 1992 abgehaltenen Prüfung.
II. Mit Einschreiben vom 9. Oktober 1992 teilte der Vorsitzende der Prüfungskommission für die europäische Eignungsprüfung, nachstehend "Prüfungskommission" genannt, dem Beschwerdeführer seine in den beiden genannten Prüfungsarbeiten erzielten Leistungen mit; der Beschwerdeführer hat folgende Noten erzielt:
Prüfungsarbeit A: 3 (gut)
Prüfungsarbeit C: 5 (mangelhaft)
Daher ergeben sich für die beiden Prüfungen 1991 und 1992 zusammengenommen folgende Ergebnisse:
Prüfungsarbeit A: 3 (gut)
Prüfungsarbeit B: 4 (befriedigend)
Prüfungsarbeit C: 5 (mangelhaft)
Prüfungsarbeit D: 2 (sehr gut)
Dem Beschwerdeführer wurde mitgeteilt, daß er der gemäß den Ausführungsbestimmungen zu Artikel 12 VEP getroffenen Entscheidung der Prüfungskommission zufolge die europäische Eignungsprüfung nicht bestanden habe und sich für eine künftige Eignungsprüfung erneut anmelden könne.
III. Mit Schreiben vom 16. November 1992 legte der Beschwerdeführer gegen diese Entscheidung Beschwerde ein und beantragte, daß die angefochtene Entscheidung aufgehoben und die Prüfung als bestanden angesehen werde. Hilfsweise beantragte er eine mündliche Verhandlung.
IV. In der Beschwerdebegründung und den späteren Vorbringen machte der Beschwerdeführer vor allem geltend, daß die angefochtene Entscheidung gegen Nummer I der Ausführungsbestimmungen zu Artikel 12 VEP verstoße.
Nach den Vorschriften dieser Nummer I habe die Prüfungskommission bei jeder einzelnen Arbeit zu entscheiden, ob "der Bewerber aufgrund seiner Arbeit geeignet ist, die Tätigkeit eines zugelassenen Vertreters vor dem Europäischen Patentamt auf dem Gebiet der Prüfungsaufgabe auszuüben".
Nach Artikel 12 (2) b) VEP haben die Bewerber die Prüfung bestanden, die für mindestens die Hälfte der Prüfungsarbeiten eine ausreichende Bewertung erzielen, sofern sie die nach den Richtlinien der Prüfungskommission erforderlichen Mindestnoten erreichen.
Nach Nummer VII a) der Ausführungsbestimmungen zu Artikel 12 hat ein Bewerber die Prüfung bestanden, wenn er nur eine Prüfungsaufgabe nicht bestanden hat, die mit der Note 5 bewertet wurde, und diese Note durch eine 3 oder eine bessere Note für mindestens eine andere Arbeit ausgeglichen wird.
Es dürfte nicht korrekt sein, den Bewerber, der eine Teilprüfung ablegt, anders als den Bewerber zu behandeln, der die gleichen Noten in der ersten Prüfung erzielt, da das Kriterium der Eignung zur Ausübung der Tätigkeit als Ganzes betrachtet werden müsse.
Da die vom Beschwerdeführer für Aufgabe C erzielte Note 5 entweder durch die Note 2 für Aufgabe D oder die Note 3 für Aufgabe A ausgeglichen worden sei, sollte die Prüfung als bestanden gelten.
V. Da die Prüfungskommission beschloß, der Beschwerde nicht abzuhelfen, wurde diese der Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten vorgelegt.
VI. Nach Artikel 12 der Vorschriften in Disziplinarangelegenheiten von zugelassenen Vertretern in Verbindung mit Artikel 23 (4) VEP wurde sowohl dem Präsidenten des Rates des Instituts der beim EPA zugelassenen Vertreter (EPI) als auch dem Präsidenten des EPA Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
VII. Am 28. Juni 1993 übermittelte der Präsident des EPA dem Vorsitzenden der Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten folgende Stellungnahme:
"Ich darf Sie darauf hinweisen, daß der Beschwerdeführer Artikel 12 VEP und die Ausführungsbestimmungen zu Artikel 12 VEP falsch auslegt, indem er die Ergebnisse von zwei aufeinanderfolgenden Prüfungen kombiniert. Bei einer normalen (vollständigen) Wiederholung der Prüfung hat Ihre Kammer in der Vergangenheit in zahlreichen Fällen entschieden, daß Bewerber mangelhafte Noten in der zuletzt abgelegten Prüfung durch in vorhergehenden Prüfungen erzielte gute Noten nicht ausgleichen können. Im Fall einer teilweisen Wiederholung sollte dieselbe Regelung Anwendung finden. Dies ergibt sich auch eindeutig aus Artikel 12 (3) VEP, wonach ein Bewerber bei einer Teilwiederholung der Prüfung für alle Arbeiten eine ausreichende Bewertung erzielen muß, um die Prüfung zu bestehen. Ein Ausgleich ist nur möglich, wenn der Bewerber die Gesamtprüfung erneut ablegt. Bewerbern, die nur einen Teil der Prüfung zu wiederholen brauchen, steht dies frei."
VIII. Entsprechend dem Antrag des Bewerbers fand am 23. September 1993 eine mündliche Verhandlung statt. Der ordnungsgemäß geladene Präsident des EPI war nicht vertreten. Der Präsident des EPA war durch einen seiner Mitarbeiter vertreten.
1. Die Beschwerde entspricht Artikel 23 (2) VEP und ist somit zulässig.
2. Gemäß der früheren Fassung des Artikels 12 VEP mußte der Bewerber, der die Eignungsprüfung nicht bestanden hatte, alle Aufgaben wiederholen. In solchen Fällen wurde in der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten die Auffassung vertreten, der Grundsatz, wonach die Prüfung vollständig zu wiederholen sei, schließe es aus, daß der Bewerber in der zuletzt abgelegten Prüfung erzielte mangelhafte Noten durch in früheren Prüfungen erzielte gute Noten ausgleichen kann.
3. Auf den vorliegenden Fall sind jedoch Artikel 12 VEP in der durch Beschluß des Verwaltungsrats vom 7. Dezember 1990 geänderten Fassung, die am selben Tag in Kraft trat (ABl. EPA 1991, 15), und die entsprechenden neuen Ausführungsbestimmungen zu Artikel 12 VEP (ABl. EPA 1991, 88) anzuwenden.
4. Die englische Fassung des neuen Artikels 12 Absatz 3 VEP lautet wie folgt: "The Board may lay down in its rules that a candidate who has failed the examination, under certain circumstances, need resit at a subsequent examination only the papers he has failed; he shall be declared to have passed the examination if he passes these papers" (Hervorhebung durch die Kammer). Die deutsche und die französische Fassung weichen geringfügig ab, und zumindest der deutsche Text ist weniger deutlich ("... wenn für diese Arbeiten eine ausreichende Bewertung erzielt wird." - "... si le candidat obtient une note suffisante, il est déclaré reçu.").
5. Folglich ist die frühere Rechtsprechung der Disziplinarkammer nach Inkrafttreten dieser neuen Vorschriften nicht mehr anzuwenden, da in den Vorschriften und in den Ausführungsbestimmungen nunmehr der Grundsatz verankert ist, daß die in der ersten Prüfung erzielten Noten auch für die später abgelegte Prüfung als gültig anzusehen sind.
6. Die im vorliegenden Fall aufgeworfene Frage lautet, ob der Bewerber die beiden bei der ersten Prüfung nicht bestandenen Aufgaben bei der zweiten Prüfung bestehen muß, oder ob die Prüfung unter bestimmten Voraussetzungen als bestanden gilt, obwohl er eine dieser beiden Aufgaben erneut nicht bestanden hat.
7. Gemäß der Stellungnahme des Präsidenten des EPA sollte der letzte Satz von Artikel 12 (3) VEP dahingehend ausgelegt werden, daß ein Bewerber, der zwei Prüfungsaufgaben wiederholt, jedenfalls dann die Prüfung nicht bestanden hat, wenn eine dieser Arbeiten mit der Note 5 bewertet wurde.
8. Wie vom Beschwerdeführer hervorgehoben, soll - wie Nummer I der Ausführungsbestimmungen zu Artikel 12 VEP eindeutig besagt - durch die Eignungsprüfung festgestellt werden, ob der Bewerber "zur Ausübung seiner Tätigkeit vor dem EPA" geeignet ist. Daher ist zu prüfen, ob eine wörtliche Auslegung des Artikels 12 (3) VEP mit dem Zweck der Eignungsprüfung in Einklang steht.
9. Bei einer solchen Auslegung würde ein Bewerber die Prüfung in all den Fällen nicht bestehen, in denen er für eine der beiden wiederholten Aufgaben die Note 5 erzielt, und zwar unabhängig von seinen Ergebnissen in den anderen Arbeiten. Im ungünstigsten Fall hätte ein Bewerber mit den Noten 1, 1, 1 und 5 nach der Wiederholung der Prüfung automatisch die Prüfung nicht bestanden. Dies bedeutet, daß die Prüfungskommission nicht "darüber entscheiden" kann, "ob der Bewerber bestanden hat oder nicht" (Art. 5 (3) VEP), sondern ohne jeden Ermessensspielraum und ungeachtet der näheren Umstände erklären muß, daß der Bewerber nicht bestanden hat. Der Prüfungskommission wäre daher jedes in Grenzfällen auszuübende Ermessen entzogen, und dies würde gegen den anerkannten Grundsatz verstoßen, wonach die Aufgabe der Prüfungskommission darin besteht, in solchen Grenzfällen zu entscheiden.
10. Nach Auffassung der Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten sollte Artikel 12 (3) VEP daher dahingehend ausgelegt werden, daß es im Ermessen der Prüfungskommission liegt zu entscheiden, ob der Bewerber in solchen Grenzfällen zur Ausübung seiner Tätigkeit geeignet ist, obwohl er bei der Wiederholung der Prüfung eine Aufgabe nicht bestanden hat. Genauer gesagt: die VEP und ihre Ausführungsbestimmungen verlangen zwar eindeutig, daß ein erfolgloser Bewerber, der die Prüfung wiederholen kann, für alle ungenügenden Arbeiten eine ausreichende Bewertung erzielen muß; gleichwohl vertritt die Disziplinarkammer die Auffassung, daß es sich grundsätzlich um einen Grenzfall handelt, wenn ein Bewerber, der die Prüfung erneut ablegt, für eine der beiden Arbeiten keine ausreichende Bewertung erzielt, und die Prüfungskommission zu entscheiden hat, ob der Bewerber trotzdem zur Ausübung seiner Tätigkeit geeignet ist. Hierzu muß die Prüfungskommission die vom Bewerber in allen vier Arbeiten erzielten Ergebnisse analysieren und dabei nicht nur die erzielten Noten, sondern auch die arithmetische Summe der Noten, die Art der Prüfungsaufgaben und die in jedem Teil der Aufgaben erreichten Ergebnisse berücksichtigen.
11. Aus diesen Gründen gelangt die Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten zu dem Ergebnis, daß eine wörtliche Auslegung des Artikels 12 (3) VEP in Fällen wie dem vorliegenden nicht nur zu einer Verletzung der Bestimmungen der VEP in bezug auf den Zweck der Eignungsprüfung führen, sondern auch der Prüfungskommission jede Ermessensbefugnis absprechen würde.
12. Im vorliegenden Fall gab die Prüfungskommission - abgesehen von den erzielten Noten - keinerlei Begründung für ihre Entscheidung, der Beschwerdeführer habe nicht bestanden. Die Disziplinarkammer könnte daher den Fall an die Prüfungskommission mit der Auflage zurückverweisen, eine mit Gründen versehene und auf das vorstehend dargelegte Prinzip gestützte Entscheidung zu erlassen. Eine solche Zurückverweisungsentscheidung würde jedoch dem legitimen Interesse des Beschwerdeführers an einer möglichst raschen Entscheidung entgegenstehen. Darüber hinaus verfügt die Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten über ausreichende Informationen aus der Akte, um selbst über den Fall zu entscheiden, ohne daß das gesamte Prüfungsverfahren in der Sache zu überprüfen ist.
13. Die zu entscheidende Frage lautet, ob die vom Beschwerdeführer für Prüfungsarbeit C erzielte Note 5 durch die für die anderen Arbeiten erreichten Noten ausgeglichen wird, wobei die arithmetische Summe der Noten 14 beträgt, also ein besseres Gesamtergebnis ergibt als das eines Bewerbers, der für alle vier Arbeiten die Note 4 erreicht hat. Wie in Artikel 10 VEP festgelegt, umfaßt die Prüfung vier Aufgaben: A, B, C und D. Die Aufgaben A und B betreffen die Ausarbeitung der Ansprüche und der Erwiderung auf einen Bescheid und sind im wesentlichen technischer Art, während es bei der Aufgabe C um die Ausarbeitung einer Einspruchsschrift und daher sowohl um technische als auch um rechtliche Aspekte geht; Aufgabe D bezieht sich im wesentlichen auf rechtliche Fragen.
14. Hinsichtlich der technischen Aspekte der Fragen erzielte der Beschwerdeführer für Prüfungsarbeit A die Note 3 und für Arbeit B die Note 4. Die Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten vertritt daher die Auffassung, daß die Mängel der Arbeit C im technischen Bereich durch die guten Ergebnisse in der Arbeit A ausgeglichen würden. Aus denselben Gründen könnten die Mängel dieser Aufgabe C in bezug auf die rechtlichen Aspekte durch die für Arbeit D erzielte sehr gute Note (2) ebenfalls als ausgeglichen betrachtet werden.
15. Aufgrund der vorstehenden Überlegungen vertritt die Disziplinarkammer die Auffassung, daß die Prüfung als bestanden zu gelten hat.
16. Artikel 23 (4) VEP besagt folgendes: "Gibt die Beschwerdekammer der Beschwerde statt ..., so ordnet sie an, daß die Beschwerdegebühr ganz oder teilweise zurückgezahlt wird, wenn dies der Billigkeit entspricht." Im vorliegenden Fall erachtet die Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten die Tatsache, daß die Entscheidung der Prüfungskommission nicht begründet war, als ausreichenden Grund, die Rückzahlung der Beschwerdegebühr anzuordnen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Der Beschwerdeführer hat die europäische Eignungsprüfung 1992 bestanden.
3. Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird angeordnet.