G 0002/02 (Indische Prioritäten/ASTRAZENECA) 26-04-2004
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Internationale Anmeldungen - indische Prioritäten
Anwendbarkeit des Artikels 87 (5) EPÜ
Sachlage nach dem PCT
EPA nicht Mitglied des TRIPS-Übereinkommens
Auslegung des Artikels 87 EPÜ - nach den Grundsätzen des internationalen öffentlichen Rechts - unter Berücksichtigung der Verpflichtungen der Vertragsstaaten aus dem TRIPS-Übereinkommen"
I. Mit ihrer Entscheidung in den verbundenen Verfahren J 9/98 und J 10/98 (ABl. EPA 2003, 184 - Indische Priorität/ASTRAZENECA) legte die Juristische Beschwerdekammer der Großen Beschwerdekammer folgende Rechtsfrage vor:
"Ist der Anmelder einer ursprünglich als Euro-PCT-Anmeldung eingereichten europäischen Patentanmeldung nach Maßgabe des TRIPS-Übereinkommens berechtigt, die Priorität einer ersten Anmeldung in einem Staat zu beanspruchen, der weder am Anmeldetag der ersten Anmeldung noch am Anmeldetag der Euro- PCT-Anmeldung Mitglied der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums, am Anmeldetag der ersten Anmeldung aber Mitglied des WTO/TRIPS-Übereinkommens war?"
II. Am 3. Februar 2003 beschloß die Große Beschwerdekammer, die ihr von der Juristischen Beschwerdekammer in den verbundenen Verfahren J 9/98 und J 10/98 vorgelegte Rechtsfrage gemäß Artikel 8 ihrer Verfahrensordnung unter dem Aktenzeichen G 2/02 und G 3/02 in einem gemeinsamen Verfahren zu behandeln.
III. Im Verfahren, das zur Vorlage führte, war die Juristische Beschwerdekammer mit zwei Beschwerden ein und derselben Anmelderin und Beschwerdeführerin gegen Entscheidungen der Eingangsstelle befaßt; diese hatte die Anträge der Beschwerdeführerin auf Wiedereinsetzung von ursprünglich durch indische Erstanmeldungen begründeten Prioritäten beim Eintritt der internationalen Anmeldungen in die regionale Phase vor dem EPA zurückgewiesen. In beiden Fällen geht es um die Frage, ob für eine als internationale Anmeldung nach dem Vertrag über die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Patentwesens (PCT) eingereichte europäische Patentanmeldung wirksam die Priorität einer indischen Anmeldung beansprucht werden konnte, wenn Indien zum maßgeblichen Zeitpunkt zwar dem Übereinkommen zur Errichtung der Welthandelsorganisation (WTO) sowie dessen Anlage 1C, dem Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS- Übereinkommen), aber noch nicht der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums (Pariser Verbandsübereinkunft) angehörte.
Die betreffenden Verfahren haben europäische Patentanmeldungen zum Gegenstand, die am 12. März 1996 beim schwedischen Patentamt als internationale Anmeldungen nach dem PCT eingereicht wurden und die Priorität von Anmeldungen in Anspruch nahmen, die am 13. bzw. 23. März 1995 in Indien eingereicht worden waren.
Indien ist der WTO einschließlich des TRIPS-Übereinkommens mit Wirkung vom 1. Januar 1995 beigetreten. Am 3. Januar 1995 ließ die indische Regierung in der "Gazette of India" eine Mitteilung veröffentlichen, wonach alle WTO-Mitglieder in bezug auf sämtliche Bestimmungen des Patents Act, 1970 (39/1970) mit sofortiger Wirkung als "Verbandsländer" anerkannt wurden (The Gazette of India: Extraordinary [Part II- Sec.3(ii)]); somit war Indien gemäß Abschnitt 135 des Patents Act, 1970 unter anderem verpflichtet, Prioritäten aus allen Mitgliedstaaten des TRIPS-Übereinkommens anzuerkennen. An diese Mitteilung schloß sich eine Aufstellung von Staaten an, die dementsprechend als "Verbandsländer" anerkannt wurden. Diese Aufstellung umfaßte alle damaligen Vertragsstaaten des EPÜ, die am 1. Januar 1995 der WTO und dem TRIPS-Übereinkommen beigetreten waren, mit Ausnahme von Irland und dem Vereinigten Königreich, denen in Indien bereits auf der Grundlage bilateraler Vereinbarungen Inländerbehandlung zuteil wurde. Liechtenstein, Monaco und die Schweiz waren nicht aufgeführt, weil diese drei Staaten noch nicht der WTO und dem TRIPS- Übereinkommen angehörten. Liechtenstein und die Schweiz traten im weiteren Verlauf des Jahres 1995 bei, allerdings erst nach den Anmeldedaten der indischen Anmeldungen. Monaco gehört der WTO und dem TRIPS-Übereinkommen nach wie vor nicht an. Vom Europäischen Patentamt (EPA) war in der Mitteilung in der "Gazette of India" nicht die Rede.
Weder die Europäische Patentorganisation (EPO) noch ihr Exekutivorgan, das Europäische Patentamt (EPA), gehört dem WTO/TRIPS-Übereinkommen an, und keines der beiden Vertragswerke enthält eine Bestimmung, die ihnen den Beitritt ermöglicht. Dagegen ist die Europäische Union Mitglied der WTO und des TRIPS-Übereinkommens.
Indien ist der Pariser Verbandsübereinkunft mit Wirkung vom 7. Dezember 1998 beigetreten; seitdem anerkennt das EPA gemäß Artikel 87 (1) EPÜ Prioritäten, die durch Erstanmeldungen in Indien begründet sind. Daraufhin kündigte die indische Regierung an, daß in Indien künftig die Priorität von Erstanmeldungen in allen Verbandsländern der Pariser Verbandsübereinkunft beansprucht werden kann. Wiederum war aber vom EPA nicht die Rede. Erst in einer am 20. Mai 2003 in der "Gazette of India" veröffentlichten Mitteilung war das EPA in der Liste der als Verbandsländer nach der Pariser Verbandsübereinkunft anerkannten Staaten enthalten, die auch Gruppen oder Vereinigungen von Ländern sowie zwischenstaatliche Organisationen umfaßte (ABl. EPA 2003, 529).
IV. Vor der Juristischen Beschwerdekammer brachte die Beschwerdeführerin eine Reihe von - in beiden Fällen identischen - Argumenten vor, die eine Auslegung von Artikel 87 EPÜ stützen sollten, wonach gemäß dem Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (WVK 1969) das TRIPS- Übereinkommen anzuwenden sei und seine Mitglieder so behandelt werden müßten, als gehörten sie der Pariser Verbandsübereinkunft an. Diese Argumente sind in der Entscheidung der Juristischen Beschwerdekammer unter Nummer V des Abschnitts "Sachverhalt und Anträge" zusammengefaßt.
Vorlageentscheidung
V. Die Juristische Beschwerdekammer brachte in ihrer Vorlageentscheidung verschiedene Argumente gegen die Anerkennung der indischen Prioritäten durch das EPA vor (Nrn. 2 - 4 der Entscheidungsgründe) und warf zudem Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Artikels 112 (1) a) EPÜ auf, bei denen sie es für unangemessen befunden hätte, selbst zu entscheiden (Nrn. 5, 6 und 7.1 der Entscheidungsgründe), die sie aber als entscheidend für den Ausgang des vorliegenden Falles betrachtete (vgl. Nr. 7.1 der Entscheidungsgründe).
Es geht darum, ob die Bestimmungen des TRIPS-Übereinkommens im Rahmen des EPÜ angewandt werden können - sei es nun angesichts bestehender Verpflichtungen von EPÜ-Vertragsstaaten oder unmittelbar. Nach Auffassung der Juristischen Beschwerdekammer kann die Beschwerdeführerin nur dann berechtigt sein, die Priorität der indischen Anmeldungen in Anspruch zu nehmen, wenn eine dieser Fragen bejaht wird. Allerdings erklärte die Juristische Beschwerdekammer, obwohl diese Vorlage erfolge, weil sie die unter den Nummern 5 und 6 angesprochenen Punkte als Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung erachte, die noch nicht geklärt seien, habe sie entschieden, die der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Frage etwas breiter zu fassen. Ihre Absicht sei es, alle Rechtsfragen abzudecken, die von der Beschwerdeführerin im Verfahren wie auch von der Juristischen Beschwerdekammer in den Entscheidungsgründen angeführt wurden, und es der Großen Beschwerdekammer zu überlassen, auf welche Aspekte sie eingehen wolle (vgl. Nrn. 8 und 9 der Entscheidungsgründe).
Außerdem wies die Juristische Beschwerdekammer darauf hin, daß unter Umständen weitere Anmeldungen beim EPA anhängig seien, für die die Antwort auf die vorgelegte Frage von Bedeutung sein könnte, und dies auch in bezug auf Erstanmeldungen in anderen Ländern als Indien. Verschiedene Staaten seien dem WTO/TRIPS-Übereinkommen beigetreten, bevor die Pariser Verbandsübereinkunft für sie wirksam wurde, und einige Mitglieder des TRIPS-Übereinkommens seien bis heute noch keine Vertragsstaaten der Pariser Verbandsübereinkunft.
Vorbringen im Verfahren vor der Großen Beschwerdekammer
Standpunkt der Verfahrensbeteiligten
VI. Am 7. Februar 2003 wurde die Beschwerdeführerin von der Großen Beschwerdekammer schriftlich aufgefordert, zu der vorgelegten Frage Stellung zu nehmen. Daraufhin erklärte sie mit Schreiben vom 3. Juni 2003, daß sie keine weiteren Bemerkungen vorzubringen habe.
Standpunkt des Präsidenten des EPA
VII. Auf Beschluß der Großen Beschwerdekammer wurde am 6. Februar 2003 gemäß Artikel 11a ihrer Verfahrensordnung auch der Präsident des EPA aufgefordert, sich zu den der Großen Beschwerdekammer vorgelegten Rechtsfragen schriftlich zu äußern. Am 25. März 2004 stellte der Präsident der Großen Beschwerdekammer Kopien des in den Nummern 3.2 bis 3.5 der Entscheidungsgründe (s. u.) angeführten Schriftwechsels mit den indischen Behörden zur Verfügung, nahm aber inhaltlich nicht zu den vorgelegten Rechtsfragen Stellung.
Stellungnahmen Dritter
VIII. Von Dritten wurden keine Stellungnahmen eingereicht.
Zulässigkeit der Vorlage
1. Die Vorlage ist zulässig. Die abschließende Entscheidung der vorlegenden Kammer in den verbundenen Beschwerdeverfahren J 9/98 und J 10/98 ist von der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer über die ihr vorgelegte Rechtsfrage abhängig, die eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Artikels 112 (1) EPÜ ist.
Einschlägiges Recht
2. Bei der Beantwortung der vorgelegten Frage muß folgendes berücksichtigt werden: die Bestimmungen des EPÜ zur Anerkennung von Prioritäten, die Sachlage nach dem Vertrag über die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Patentwesens, die rechtlichen Folgen der Tatsache, daß das EPA nicht Mitglied des TRIPS-Übereinkommens ist, und die möglichen, auf internationales öffentliches Recht gestützten Begründungen dafür, daß das EPA an das TRIPS-Übereinkommen gebunden sein soll, obwohl es ihm selbst nicht angehört.
Bestimmungen des EPÜ zur Anerkennung von Prioritäten
3.1 Wie die Große Beschwerdekammer schon in der Vergangenheit festgestellt hat, bilden die Artikel 87 bis 89 EPÜ eine vollständige und eigenständige Regelung des Rechts, das bei der Beanspruchung von Prioritäten für europäische Patentanmeldungen anzuwenden ist (G 3/93, ABl. EPA 1995, 18). Der vorliegende Fall betrifft Artikel 87 EPÜ, der die Anerkennung von Prioritätsrechten für Erstanmeldungen in Vertragsstaaten der Pariser Verbandsübereinkunft behandelt und unter anderem folgendes vorsieht:
"(1) Jedermann, der in einem oder mit Wirkung für einen Vertragsstaat der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums eine Anmeldung für ein Patent [...] vorschriftsmäßig eingereicht hat, oder sein Rechtsnachfolger genießt für die Anmeldung derselben Erfindung zum europäischen Patent während einer Frist von zwölf Monaten nach der Einreichung der ersten Anmeldung ein Prioritätsrecht.
(5) Ist die erste Anmeldung in einem nicht zu den Vertragsstaaten der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums gehörenden Staat eingereicht worden, so sind die Absätze 1 bis 4 nur insoweit anzuwenden, als dieser Staat nach einer Bekanntmachung des Verwaltungsrats aufgrund einer ersten Anmeldung beim Europäischen Patentamt und aufgrund einer ersten Anmeldung in jedem oder für jeden Vertragsstaat gemäß zwei- oder mehrseitigen Verträgen ein Prioritätsrecht gewährt, und zwar unter Voraussetzungen und mit Wirkungen, die denen der Pariser Verbandsübereinkunft vergleichbar sind."
3.2 Der Verwaltungsrat hat nie eine Bekanntmachung gemäß Artikel 87 (5) EPÜ in bezug auf Indien erlassen. Am 26. Juli 1995 hat die Generaldirektion 5 des EPA (GD 5) in einem Schreiben an die indische Regierung erläutert, daß das EPA angesichts des Beitritts Indiens zum TRIPS-Übereinkommen mit Wirkung vom Januar 1995 erwäge, die Begünstigungen des Artikels 87 (5) EPÜ auf Indien im Weg der Gegenseitigkeit anzuwenden. Die GD 5 erkundigte sich, ob Indien auf der Grundlage von Artikel 2 (1) des TRIPS-Übereinkommens, wonach die TRIPS-Mitglieder verpflichtet sind, die materiellrechtlichen Bestimmungen der Pariser Verbandsübereinkunft (Artikel 1 - 12 und 19) zu befolgen, Prioritätsrechte für Erstanmeldungen beim EPA oder in einem der EPÜ-Vertragsstaaten gewährt habe oder zu gewähren gedenke. Nach Auffassung der GD 5 erlege Artikel 2 (1) TRIPS, der auf die Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums verweise, den WTO-Mitgliedern eine allgemeine Verpflichtung auf, die materiellrechtlichen Bestimmungen der Pariser Verbandsübereinkunft unabhängig davon zu befolgen, ob sie dieser Übereinkunft ebenfalls angehörten. Somit begründe eine in Indien vorgenommene Erstanmeldung ein Prioritätsrecht in jedem auch der WTO und dem TRIPS-Übereinkommen angehörenden EPÜ-Vertragsstaat und umgekehrt. Gemäß Artikel 4 Abschnitt A. (2) der Pariser Verbandsübereinkunft und Artikel 66 EPÜ gelte dies auch für europäische Erstanmeldungen.
3.3 Auf dieses Schreiben ging keine Antwort ein. Eine weitere Anfrage vom 3. Mai 1996 wurde ebenfalls nicht beantwortet. Da somit keine Erklärung Indiens vorlag, daß es durch europäische Erstanmeldungen begründete Prioritäten anerkennt, hat das EPA in bezug auf Indien keine weiteren Schritte nach Artikel 87 (5) EPÜ unternommen, weil die darin enthaltene Bedingung der gegenseitigen Anerkennung nicht erfüllt war.
3.4 Anläßlich des Beitritts Indiens zur Pariser Verbandsübereinkunft am 7. Dezember 1998 nahm die GD 5 im Dezember 1998 ihre Kontakte mit den indischen Behörden wieder auf und teilte ihnen mit, daß das EPA angesichts dieses Beitritts Prioritätsrechte aus Erstanmeldungen in Indien gemäß den Artikeln 87 und 88 EPÜ anerkennen werde. Die GD 5 wies nochmals auf das Problem von Prioritätsansprüchen auf der Grundlage von Anmeldungen hin, die vor dem Beitritt Indiens zur Pariser Verbandsübereinkunft eingereicht worden waren, und erklärte, daß das EPA solche Prioritätsansprüche anerkennen würde, wenn Indien europäische Erstanmeldungen ebenso behandle.
3.5 Die indische Regierung vertrat in ihrer Antwort vom 4. Januar 1999 den Standpunkt, daß das EPA gemäß dem indischen Patents Act, 1970 nicht als "Verbandsland" anerkannt werden könne, "weil es kein Land ist". Daraufhin erklärte der Präsident des EPA in seiner Erwiderung vom 11. Februar 1999, daß es nicht notwendig sei, das EPA als "Verbandsland" anzuerkennen, um Prioritätsrechte aus Erstanmeldungen beim EPA nach indischem Patentrecht anzuerkennen. Gemäß Artikel 4 Abschnitt A (2) der Pariser Verbandsübereinkunft werde jede Hinterlegung als prioritätsbegründend anerkannt, der nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften jedes Verbandslandes oder nach den zwischen Verbandsländern abgeschlossenen zwei- oder mehrseitigen Verträgen die Bedeutung einer vorschriftsmäßigen nationalen Hinterlegung zukomme. Nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften aller EPÜ-Vertragsstaaten werde europäischen Patentanmeldungen ausdrücklich die Wirkung von vorschriftsmäßigen nationalen Anmeldungen zuerkannt, und dies werde durch Artikel 66 EPÜ bestätigt, wonach eine europäische Patentanmeldung die Wirkung einer vorschriftsmäßigen nationalen Hinterlegung in den benannten Vertragsstaaten habe. Da sämtliche EPÜ-Vertragsstaaten der Pariser Verbandsübereinkunft angehörten, solle Indien Prioritätsrechte aus Patentanmeldungen in allen EPÜ-Vertragsstaaten anerkennen, ob sie nun bei nationalen Patentämtern oder beim EPA eingereicht worden seien. Auf dieses Schreiben erhielt das EPA keine Antwort. Im Juli 2003 unterrichtete die indische Regierung jedoch die GD 5 davon, daß Indien das EPA für die Zwecke der Inanspruchnahme von Prioritäten in Indien auf der Grundlage von Patentanmeldungen, die am oder nach dem 20. Mai 2003 beim EPA eingereicht worden seien, als "Verbandsland" anerkenne. Daraufhin wurde in ABl. EPA 2003, 529 ein entsprechender Hinweis veröffentlicht.
3.6 Unterdessen wurde im Jahr 2000 Artikel 87 Absätze (1) und (5) EPÜ geändert, damit Erstanmeldungen in einem WTO- Mitgliedstaat vom EPA als prioritätsbegründend anerkannt werden können (EPÜ 2000, Das revidierte Europäische Patentübereinkommen und seine Ausführungsordnung, Sonderausgabe Nr. 1 zum ABl. EPA 2003). Die revidierte Fassung ist noch nicht in Kraft getreten; dies geschieht erst zwei Jahre nach ihrer Ratifizierung durch 15 Vertragsstaaten oder am ersten Tag des dritten Monats nach der Ratifizierung durch den letzten Vertragsstaat, je nachdem, welches der frühere Zeitpunkt ist. Daher ist die revidierte Fassung nicht auf den vorliegenden Fall anwendbar.
3.7 Aus diesen Ausführungen geht hervor, daß es dem Verwaltungsrat trotz aller Bemühungen des EPA, die Sachlage zu klären und zu regeln, vor dem Beitritt Indiens zur Pariser Verbandsübereinkunft im Dezember 1998 nicht möglich war, eine Bekanntmachung gemäß Artikel 87 (5) EPÜ in bezug auf Indien zu erlassen. Die materiellrechtlichen Erfordernisse dieser Bestimmung waren nicht erfüllt, weil die indischen Behörden nicht bestätigt hatten, daß sie im Gegenzug die Priorität von Erstanmeldungen beim EPA anerkennen würden. Nachdem eine solche Bekanntmachung nicht erlassen wurde, stellt sich nun die Frage, ob es andere Gründe gibt, aus denen das EPA nach dem Beitritt Indiens und einer Mehrzahl der EPÜ- Vertragsstaaten zum TRIPS-Übereinkommen am 1. Januar 1995 Artikel 2 (1) des TRIPS-Übereinkommens hätte anwenden können oder sollen.
Sachlage nach dem Vertrag über die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Patentwesens
4. Die vorgelegte Frage bezieht sich auf internationale Anmeldungen nach dem PCT. Gemäß Artikel 150 (2) Satz 3 EPÜ sind, wenn die Vorschriften des EPÜ denen des PCT entgegenstehen, die Vorschriften des PCT maßgebend. Daher müssen die Bestimmungen des PCT zur Inanspruchnahme von Prioritäten herangezogen werden, nämlich Artikel 8 in Verbindung mit Regel 4.10 PCT. Gemäß Artikel 8 (1) PCT kann die internationale Anmeldung eine Erklärung der in der Ausführungsordnung näher bestimmten Art enthalten, mit der die Priorität einer oder mehrerer in einem oder für einen Mitgliedstaat der Pariser Verbandsübereinkunft eingereichter früherer Anmeldungen beansprucht wird. Mit Wirkung vom 1. Januar 2000 wurde Regel 4.10 a) PCT dahingehend geändert, daß in Verbindung mit dem - nicht geänderten - Artikel 8 (1) PCT auch die Priorität von Anmeldungen aus WTO- Mitgliedstaaten beansprucht werden kann, die nicht der Pariser Verbandsübereinkunft angehören. Diese neue Bestimmung ist auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar. Zu beachten ist allerdings auch, daß Regel 4.10 d) PCT folgendes vorsieht: Sind am 29. September 1999 die geänderten Absätze a und b der Regel 4.10 PCT nicht mit dem von einem Bestimmungsamt anzuwendenden nationalen Recht vereinbar, so finden diese Absätze keine Anwendung und gelten weiterhin in ihrer bis 31. Dezember 1999 gültigen Fassung für dieses Amt, solange die Unvereinbarkeit besteht, sofern dieses Amt das Internationale Büro der WIPO davon unterrichtet. Das EPA als Bestimmungsamt hat das Internationale Büro gemäß Regel 4.10 d) PCT von einer solchen Unvereinbarkeit in Kenntnis gesetzt (PCT-Leitfaden für Anmelder, Band I/A - Internationale Phase, Ziffer 97).
Das EPA ist nicht Mitglied des TRIPS-Übereinkommens
5.1 Wie unter Nummer III angeführt, gehört weder die EPO noch das EPA dem WTO/TRIPS-Übereinkommen an; zudem enthält keines der beiden Vertragswerke eine Bestimmung, die ihnen den Beitritt ermöglicht. Formal gesehen sind allgemeine multilaterale Verträge mit Vorschriften des allgemeinen (Vertrags-) Rechts wie das TRIPS-Übereinkommen für niemanden außer den Vertragsparteien eine Quelle des internationalen Rechts.
5.2 Dieser Grundsatz wird im Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge anerkannt, das am 23. Mai 1969 geschlossen wurde (WVK 1969, teilweise wiedergegeben in ABl. EPA 1984, 192). Artikel 34 WVK 1969 sieht vor, daß "ein Vertrag für einen Drittstaat ohne dessen Zustimmung weder Pflichten noch Rechte begründet". Nach der ständigen Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer können die in WVK 1969 enthaltenen Vorschriften für die Auslegung von Verträgen herangezogen werden, um Hinweise in Fragen der Auslegung des EPÜ zu erhalten. Wie von der Großen Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung G 5/83 (ABl. EPA 1985, 64) erläutert, ist das Wiener Übereinkommen auf das EPÜ zwar nicht unmittelbar anwendbar, seine Grundsätze können aber herangezogen werden, da sie die anerkannte internationale Praxis verkörpern und auf jeden Vertrag Anwendung finden, der die Gründungsurkunde einer internationalen Organisation bildet (Artikel 5 WVK 1969).
5.3 Für den vorliegenden Fall ebenfalls relevant ist das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge zwischen Staaten und internationalen Organisationen oder zwischen internationalen Organisationen vom 21. März 1986 (WVKIO 1986). Dieses Übereinkommen findet unter anderem auch auf jeden Vertrag zwischen einem oder mehreren Staaten und einer oder mehreren internationalen Organisationen Anwendung, der die Gründungsurkunde einer internationalen Organisation bildet. Dieses Übereinkommen ist zwar noch nicht in Kraft getreten, kann aber aus denselben Gründen wie WVK 1969 ebenfalls herangezogen werden, um Hinweise in Fragen der Auslegung des EPÜ zu erhalten.
5.4 In keinem der beiden Übereinkommen ist ausdrücklich der Fall angesprochen, daß Staaten Befugnisse an eine internationale Organisation übertragen haben, wie es bei den EPÜ-Vertragsstaaten und der EPO nach Maßgabe des EPÜ der Fall ist. Wie oben ausgeführt, heißt es in Artikel 34 WVK 1969 aber, daß "ein Vertrag für einen Drittstaat ohne dessen Zustimmung weder Pflichten noch Rechte begründet", und diese allgemeine Regel gilt sinngemäß auch für eine internationale Organisation, die Drittpartei eines Vertrags zwischen Staaten ist, denn die Regel gehört zum internationalen Gewohnheitsrecht und ist insoweit auf internationale Organisationen anwendbar (siehe D. Sarooshi, "Some Preliminary Remarks on the Conferral by States of Powers on International Organisations", The Jean Monnet Working Papers, Nr. 4/03, S. 10). Dies wird gestützt durch Artikel 34 WVKIO 1986, der die allgemeine Regel, daß ein Vertrag für einen Drittstaat ohne dessen Zustimmung weder Pflichten noch Rechte begründet, auf Drittorganisationen ausdehnt. Artikel 35 WVKIO 1986 besagt, daß ein Drittstaat oder eine Drittorganisation durch eine Vertragsbestimmung verpflichtet wird, wenn die Vertragsparteien beabsichtigen, durch die Vertragsbestimmung eine Verpflichtung zu begründen, und der Drittstaat oder die Drittorganisation diese Verpflichtung ausdrücklich in Schriftform annimmt. Außerdem bestimmt sich die Annahme einer solchen Verpflichtung durch die Drittorganisation nach den Vorschriften dieser Organisation.
5.5 Ferner ist zu verweisen auf Artikel 26 WVK 1969, wonach ein Vertrag, der in Kraft ist, die Vertragsparteien bindet und von ihnen nach Treu und Glauben zu erfüllen ist (Pacta sunt servanda). Dieser Grundsatz gilt aber per definitionem nicht für Dritte, so daß daraus nicht abgeleitet werden kann, daß das EPA verpflichtet ist, das TRIPS-Übereinkommen anzuwenden, so wünschenswert dies im Interesse der internationalen Harmonisierung des materiellen Patentrechts wäre.
5.6 Nach allgemeinen Grundsätzen des internationalen Rechts begründet somit ein Vertrag für einen Drittstaat oder eine internationale Organisation ohne die Zustimmung dieses Staates oder dieser Organisation weder Pflichten noch Rechte. Eine solche Verpflichtung kann sich nur ergeben, wenn dies beabsichtigt ist und der Drittstaat bzw. die Drittorganisation diese Verpflichtung ausdrücklich in Schriftform annimmt (Artikel 34 WVK 1969 und WVKIO 1986). Daher kann das TRIPS- Übereinkommen nur dann Verpflichtungen für das EPA begründen, wenn dieses nach Maßgabe des EPÜ schriftlich seine Zustimmung erklärt.
Mögliche andere Begründungen für die Anwendung des TRIPS- Übereinkommens durch das EPA
a) Gewohnheitsrecht
6.1 Jede Begründung einer außervertraglichen Wirkung eines Vertrags erfordert eine andere rechtliche Grundlage, insbesondere das Gewohnheitsrecht (G. M. Danilenko, Law-Making in the International Community, Martinus Nijhoff Publishers, 1993, S. 53). Dies wird durch Artikel 38 WVK 1969 und WVKIO 1986 anerkannt, wonach eine vertragliche Bestimmung als ein Satz des Völkergewohnheitsrechts, der als solcher anerkannt ist, für einen Drittstaat oder eine Drittorganisation verbindlich werden kann. Daher stellt sich die Frage, ob die Anerkennung von Prioritäten, die durch Erstanmeldungen in Mitgliedstaaten der Pariser Verbandsübereinkunft und des TRIPS- Zbereinkommens begründet sind, als ein Satz des Völkergewohnheitsrechts angesehen werden könnte.
6.2 Internationale Verträge wirken sich auf die Entwicklung des Gewohnheitsrechts aus. Neue Bestimmungen in einem Vertrag können irgendwann auch von Staaten, die ihm nicht angehören, als allgemeine Verhaltensnormen betrachtet werden (Danilenko, a. a. O., S. 156 ff.), und die Ausübung des Gewohnheitsrechts wird auf diesem Gebiet traditionell als eine der Möglichkeiten gesehen, die Anwendung vertraglicher Bestimmungen auf Drittstaaten auszudehnen (vgl. R. F. Roxburgh, International Conventions and Third States: a Monograph, 1917, London und New York, Longmann, Green, S. 72 ff.). Artikel 38 WVK 1969 deckt sich mit diesem Ansatz. Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat bestätigt, daß eine Norm des Vertragsrechts in den "allgemeinen Korpus des internationalen Rechts" Eingang finden und damit für Nicht-Vertragsparteien bindend werden kann (Rechtssachen "North Sea Continental Shelf" [1969] I.C.J. Reports 39). In derselben Sache hat der IGH allerdings erklärt, daß eine vertragliche Bestimmung erst in eine Vorschrift des allgemeinen internationalen Gewohnheitsrechts umgewandelt werden kann, wenn es eine "umfassende und praktisch einheitliche" Staatenpraxis gibt, ein gewisser Zeitraum verstrichen ist und - als wichtigster Aspekt - eine Vertragsnorm durch die Rechtsüberzeugung von Staaten "allgemein anerkannt" wird ([1969] I.C.J. Reports 41 - 44). In Artikel 38 der IGH-Satzung wird das internationale Gewohnheitsrecht als "Zeugnis einer allgemeinen, als Recht angenommenen Übung" bezeichnet (siehe auch I. Brownlie, Principles of Public International Law, 6. Auflage, Oxford University Press, 2003, S. 6 ff.). Schließlich lautet der traditionelle Standpunkt im internationalen Recht, daß eine Bestimmung des internationalen Gewohnheitsrechts keine konkrete vertragsrechtliche Verpflichtung außer Kraft setzen kann (A.B. Hormones, Entscheidung des Streitbeilegungsgremiums der WTO, Dok. WT/DS26/AB/R und WT/DS48/AB/R vom 13. Februar 1998, S. 45 ff.). Somit ergibt sich aus Rechtsprechung und Literatur eindeutig, daß Artikel 38 WVK 1969 und Artikel 38 WVKIO 1986 im vorliegenden Fall nicht angezogen werden können. Die Bestimmungen der Pariser Verbandsübereinkunft und des TRIPS-Übereinkommens zur Priorität genügen nicht den Voraussetzungen, unter denen eine vertragliche Bestimmung in eine Vorschrift des allgemeinen internationalen Gewohnheitsrechts umgewandelt werden kann: Sie stellen keine umfassende und praktisch einheitliche Staatenpraxis und auch keine durch die Rechtsüberzeugung von Staaten allgemein anerkannte Norm im Sinne von Artikel 38 der IGH-Satzung dar. Damit ist das vom IGH in den Rechtssachen "North Sea Continental Shelf" festgelegte Kriterium nicht erfüllt. Auch betrifft das Gewohnheitsrecht in der Regel Fragen wie Seerecht, Asyl oder Auslieferung. Überdies lautet der traditionelle Standpunkt im internationalen Recht ohnehin, daß eine Bestimmung des internationalen Gewohnheitsrechts eine konkrete vertragsrechtliche Verpflichtung - wie im vorliegenden Fall gemäß Artikel 87 (5) EPÜ - nicht außer Kraft setzen kann.
b) Ius cogens
7.1 Das Gewohnheitsrecht ist nicht zu verwechseln mit gewissen als "ius cogens" bekannten Grundprinzipien, die im allgemeinen internationalen Recht als zwingende Normen verankert sind und denen sich Staaten nicht entziehen dürfen. Diese Normen betreffen etwa die Menschenrechte, Völkermord, das Verbot der Rassendiskriminierung, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und das Verbot von Sklavenhandel und Piraterie (Brownlie, a. a. O., S. 488 ff.; P. Malanczuk, Akehurst's Modern Introduction to International Law, 7. Auflage, Routledge, London und New York, 1997, S. 57 ff.).
7.2 Die Große Beschwerdekammer hat zur Kenntnis genommen, daß gemäß Artikel 27 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte jeder das Recht "auf Schutz der geistigen und materiellen Interessen [hat], die ihm als Urheber von Werken der Wissenschaft, Literatur oder Kunst erwachsen". Allerdings betrachtet sie dies als Gewährleistung dafür, daß Staaten ihren Bürgern Patent- und Urheberrechtsgesetze zur Verfügung stellen, um deren Interessen zu schützen, und teilt die Auffassung der Juristischen Beschwerdekammer, wonach die im TRIPS-Übereinkommen festgelegte Verpflichtung, Prioritätsrechte anzuerkennen, die Grundrechte der Beteiligten nicht berührt (Nr. 5.2 der Entscheidungsgründe der Vorlageentscheidung).
Ist das EPA an das TRIPS-Übereinkommen gebunden, weil die EPÜ- Vertragsstaaten daran gebunden sind?
8.1 Wie bereits ausgeführt, ist die Mehrzahl der damaligen EPÜ- Vertragsstaaten am 1. Januar 1995, d. h. vor den Prioritätsdaten der indischen Anmeldungen, der WTO und dem TRIPS-Übereinkommen beigetreten. Liechtenstein und die Schweiz traten dem TRIPS-Übereinkommen im weiteren Verlauf des Jahres 1995 bei; Monaco gehört ihm nach wie vor nicht an.
8.2 Die EPÜ-Vertragsstaaten, die dem TRIPS-Übereinkommen am 1. Januar 1995 beigetreten sind, sind seit diesem Zeitpunkt an seine Vorschriften gebunden. Für den vorliegenden Fall sind folgende Bestimmungen des TRIPS-Übereinkommens von besonderer Bedeutung: Artikel 1 regelt Wesen und Umfang der Pflichten, die durch das Übereinkommen auferlegt werden. Die Mitglieder haben die Bestimmungen des Übereinkommens anzuwenden; es steht ihnen aber frei, die für deren Umsetzung in ihrem eigenen Rechtssystem und in ihrer Rechtspraxis geeigneten Methoden festzulegen (Artikel 1 (1)). Artikel 2 (1) sieht, wie bereits erläutert, vor, daß die Mitglieder die Artikel 1 bis 12 sowie Artikel 19 der Pariser Verbandsübereinkunft einschließlich der Bestimmungen des Artikels 4 zum Prioritätsrecht befolgen; somit wurden Verpflichtungen aus diesen Artikeln der Pariser Verbandsübereinkunft zu Verpflichtungen der WTO-Mitglieder (vgl. United States-Section 211 Omnibus Appropriations Act of 1998, Entscheidung des Streitbeilegungsgremiums der WTO, Dok. WT/DS176/ABR). Für die Zwecke der vorliegenden Entscheidung brauchen andere Verpflichtungen der Mitglieder des TRIPS-Übereinkommens nicht berücksichtigt zu werden. Die Große Beschwerdekammer teilt die Auffassung des EPA (siehe Nr. 3.2), daß Artikel 2 (1) des TRIPS-Übereinkommens den WTO- Mitgliedern - einschließlich derer, die auch EPÜ- Vertragsstaaten sind - die allgemeine Verpflichtung auferlegt, die materiellrechtlichen Bestimmungen der Pariser Verbandsübereinkunft unabhängig davon einzuhalten, ob sie der Übereinkunft ebenfalls angehören. Auf dieser Grundlage hat das EPA der indischen Regierung 1995 mitgeteilt, daß eine Erstanmeldung in Indien ein Prioritätsrecht in jedem auch der WTO angehörenden EPÜ-Vertragsstaat begründe und umgekehrt. Somit war eine große Mehrheit der EPÜ-Vertragsstaaten nach dem TRIPS-Übereinkommen verpflichtet, durch indische Erstanmeldungen begründete Prioritäten nach ihrem nationalen Recht anzuerkennen, und umgekehrt. Natürlich haben die Verpflichtungen aus dem TRIPS-Übereinkommen als solche keine Direktwirkung für die EPO oder das EPA, sondern nur für diejenigen EPÜ-Vertragsstaaten, die Mitglieder der WTO und des TRIPS-Übereinkommens sind. Somit stellt sich die Frage, ob das EPA indirekt verpflichtet war, das TRIPS-Übereinkommen zum fraglichen Zeitpunkt anzuwenden, weil diesem so viele EPÜ- Vertragsstaaten angehörten.
8.3 Die EPO als internationale Organisation verfügt über ein eigenes internes Rechtssystem (Entscheidung des High Court of England and Wales (Patents Court) in der Sache Lenzing AG's European Patent (UK) [1997] R.P.C. 245, 264), und das EPÜ hat ein eigenständiges Rechtssystem für die Erteilung europäischer Patente geschaffen. Rechtlich gesehen sind weder die Rechtsvorschriften der Vertragsstaaten noch die von ihnen unterzeichneten internationalen Abkommen Teil dieses eigenständigen Rechtssystems. Im Rahmen des durch das EPÜ geschaffenen Systems verbleibt die Rechtsetzungskompetenz ausschließlich bei den Vertragsstaaten und wird entweder durch eine Regierungskonferenz (Artikel 172 EPÜ) oder durch den Verwaltungsrat (Artikel 33 EPÜ) ausgeübt. Das EPA selbst ist nicht Mitglied der WTO und des TRIPS-Übereinkommens. Die Verpflichtungen aus dem TRIPS-Übereinkommen haben somit keine Direktwirkung für das EPA, sondern nur für diejenigen EPÜ- Vertragsstaaten, die Mitglied der WTO und des TRIPS- Übereinkommens sind. In diesem Zusammenhang ist es irrelevant, ob einige oder alle Mitgliedstaaten der EPO dem TRIPS- Übereinkommen angehören. Selbst wenn sie alle am 1. Januar 1995 Mitglieder des TRIPS-Übereinkommens gewesen wären, so daß sich das Problem der gegenseitigen Anerkennung nach dem indischen Patentrecht nicht gestellt hätte, wäre immer noch eine Bekanntmachung gemäß Artikel 87 (5) EPÜ erforderlich gewesen.
Auch ist auf Artikel 66 EPÜ zu verweisen, wonach eine europäische Patentanmeldung, deren Anmeldetag feststeht, in den benannten EPÜ-Vertragsstaaten die Wirkung einer vorschriftsmäßigen nationalen Hinterlegung, gegebenenfalls mit der entsprechenden Priorität, hat. Aus dieser Bestimmung in Verbindung mit Artikel 4, Abschnitt A (2) Pariser Verbandsübereinkunft läßt sich schließen, daß Mitgliedstaaten der Pariser Verbandsübereinkunft und der WTO verpflichtet sind, europäische Patentanmeldungen als gleichwertig mit vorschriftsmäßigen nationalen Anmeldungen in EPÜ- Vertragsstaaten anzuerkennen. Nicht darin vorgesehen ist hingegen ein Mechanismus, der das EPA verpflichten würde, Prioritäten aus Staaten anzuerkennen, die nicht dem EPÜ oder der Pariser Verbandsübereinkunft angehören, solange die in Artikel 87 (5) EPÜ vorgesehenen formalen Handlungen nicht vorgenommen wurden und der Verwaltungsrat der EPO keine entsprechende Bekanntmachung erlassen hat.
8.4 Dennoch hat der Präsident des Europäischen Patentamts anerkannt, daß - auch wenn das EPA nicht dem TRIPS- Übereinkommen angehört und nicht daran gebunden ist - die nationalen Rechtssysteme der EPÜ-Vertragsstaaten möglicherweise vom TRIPS-Übereinkommen betroffen sind und diese verpflichtet sein könnten, dafür zu sorgen, daß das EPÜ mit dem TRIPS-Übereinkommen im Einklang ist (vgl. Schreiben des Präsidenten des EPA an den Comptroller-General des Patentamts des Vereinigten Königreichs vom 27. November 1996, Nr. IV, 2 in der Sache Lenzing AG's European Patent (UK) (1997), s. o.). In diesem Sinne ist das EPA Anfang 1995 an die indische Regierung herangetreten, um das Verfahren nach Artikel 87 (5) EPÜ in Gang zu setzen. Aus demselben Grund haben die EPÜ-Vertragsstaaten Artikel 87 EPÜ revidiert, um künftig die Mitglieder der Welthandelsorganisation den Verbandsländern der Pariser Verbandsübereinkunft in bezug auf die Anerkennung von Prioritäten gleichzustellen. Es ist zu hoffen, daß das revidierte EPÜ 2000 möglichst bald in Kraft treten wird. Bis dahin sieht Artikel 87 (5) EPÜ einen Mechanismus für die Anerkennung von Prioritäten durch das EPA vor, die durch Erstanmeldungen in noch nicht der Pariser Verbandsübereinkunft angehörenden WTO-Mitgliedstaaten begründet sind. Staaten, deren Angehörige von diesem Problem betroffen sind, können das EPA auffordern, das Verfahren nach Artikel 87 (5) EPÜ einzuleiten.
8.5 Wie unter Nummer 8.3 ausgeführt, verfügt die EPO als internationale Organisation mit dem EPÜ über ein eigenes internes Rechtssystem. Die Beschwerdekammern des EPA haben die Aufgabe, die Einhaltung des durch das EPÜ geschaffenen eigenständigen Rechtssystems zu gewährleisten, und sind ausschließlich an die Bestimmungen des EPÜ gebunden (Artikel 23 (3) EPÜ). Dabei ziehen sie allerdings auch Rechtsquellen außerhalb des EPÜ an, zu denen etwa das WVK 1969 (s. o.) und das TRIPS-Übereinkommen zählen. So können sich die Beschwerdekammern bei ihren Entscheidungen durchaus von den Bestimmungen anderer internationaler Instrumente leiten lassen, sind aber nicht unmittelbar daran gebunden.
8.6 Aus diesen Gründen haben sich die Beschwerdekammern des EPA schon mehrmals mit der Anwendung des TRIPS-Übereinkommens im Rahmen des EPÜ befaßt. In G 1/97 (ABl. EPA 2000, 322) hat die Große Beschwerdekammer die Frage der Anwendung offengelassen, weil das EPA nicht Mitglied des TRIPS- Übereinkommens ist, und auch die Frage der Bindungswirkung des TRIPS-Übereinkommens nicht geklärt, weil sie eine Entscheidung darüber in der betreffenden Sache nicht für notwendig hielt. Sie behandelte jedoch die Vereinbarkeit verschiedener Bestimmungen des EPÜ mit dem TRIPS-Übereinkommen und gelangte zu dem Schluß, daß die fraglichen Bestimmungen nicht im Widerspruch zueinander standen.
In einer anderen Sache (T 1173/97, ABl. EPA 1999, 609) befand die Beschwerdekammer folgendes:
"Auch wenn TRIPS nicht direkt auf das EPÜ anwendbar ist, hält es die Kammer jedoch für angezeigt, TRIPS in die Überlegungen einzubeziehen, da es darauf abzielt, allgemeine Normen und Grundsätze in bezug auf die Verfügbarkeit, den Umfang und die Ausübung handelsbezogener Rechte des geistigen Eigentums aufzustellen, worunter auch Patentrechte fallen. Auf diese Weise zeigt TRIPS klar auf, wohin die Entwicklung geht."
Mithin sind die Bestimmungen des TRIPS-Übereinkommens ebenso wie die Entscheidungen des Europäischen bzw. des Internationalen Gerichtshofs und nationale Entscheidungen Elemente, die von den Beschwerdekammern berücksichtigt werden müssen, für sie aber nicht bindend sind. Während die Beschwerdekammern das TRIPS-Übereinkommen ganz legitim zur Auslegung von EPÜ-Bestimmungen heranziehen können, die unterschiedliche Auslegungen zulassen, ist mit spezifischen TRIPS-Bestimmungen nicht zu rechtfertigen, daß ausdrückliche und eindeutige Bestimmungen des EPÜ außer acht gelassen werden, denn damit würde in die Rolle des Gesetzgebers eingegriffen. Dies wird dadurch bestätigt, daß es der Gesetzgeber des EPÜ 2000 für erforderlich hielt, Artikel 87 EPÜ im Hinblick auf die Umsetzung des TRIPS-Übereinkommens zu revidieren.
8.7 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß der Verwaltungsrat und der Ausschuß "Patentrecht" der EPO in den Jahren 1998 und 1999 einen Vorschlag der niederländischen Delegation geprüft haben, in den Artikel 23 (3) EPÜ eine Bestimmung aufzunehmen, wonach die Mitglieder der Beschwerdekammern an das TRIPS-Übereinkommen und an die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) gebunden sein sollten. Dieser Vorschlag wurde aber nicht weiterverfolgt (vgl. Dokumente des Verwaltungsrats und des Ausschusses "Patentrecht", CA/16/98 - Punkte für eine Revision des EPÜ, CA/PL 5/99 - Revision des EPÜ: Artikel 23 (3) EPÜ, CA/PL 13/99 - Protokoll der 9. Sitzung des Ausschusses "Patentrecht").
8.8 Die Große Beschwerdekammer hält fest, daß entsprechend dem in der Präambel des EPÜ dargelegten Ziel des Übereinkommens, die Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten auf dem Gebiet des Schutzes der Erfindungen zu verstärken, stets das Bestreben herrschte, das in den Vertragsstaaten und im EPA angewandte materielle Patentrecht zu harmonisieren. Daher ist eine Situation, in der das EPA Prioritäten nicht anerkennt, die in den Vertragsstaaten anerkannt werden, höchst unglücklich. Dies gilt um so mehr, als die Tatsache, daß die Umsetzung des TRIPS-Übereinkommens in bezug auf das europäische Patentsystem noch nicht in Kraft getreten ist, augenscheinlich den Zielsetzungen des TRIPS-Übereinkommens zuwiderläuft, nämlich - wie es in seiner Präambel heißt -, "Verzerrungen und Behinderungen des internationalen Handels zu verringern [...] unter Berücksichtigung der Notwendigkeit, einen wirksamen und angemessenen Schutz der Rechte des geistigen Eigentums zu fördern sowie sicherzustellen". Würde die Große Beschwerdekammer aber im vorliegenden Fall das TRIPS- Übereinkommen unmittelbar anwenden und die beanspruchten Prioritäten anerkennen, so würde es sich eine Gesetzgeberrolle anmaßen, und die Aufgabe des EPA oder der Großen Beschwerdekammer ist es nicht, gesetzgeberische Lücken der EPÜ- Vertragsstaaten zu schließen. So hat die Große Beschwerdekammer in der Sache G 1/97, ABl. EPA 2000, 322, (Nr. 3 b) der Entscheidungsgründe) folgendes erklärt:
"In einem kodifizierten System wie dem EPÜ kann nicht der Richter nach Bedarf an die Stelle des Gesetzgebers treten, der die erste Rechtsquelle ist und bleibt. Zwar kann er sich veranlaßt sehen, Lücken auszufüllen, insbesondere, wenn sich zeigt, daß der Gesetzgeber es versäumt hat, bestimmte Fälle zu regeln. Er kann sogar zur Rechtsfortbildung über die Ausfüllung von Lücken hinaus beitragen. Grundsätzlich muß die Rechtsordnung aber - und sei es auch in unvollkommener Form - Anhaltspunkte enthalten."
8.9 Aus diesen Gründen gelangt die Große Beschwerdekammer zu dem Schluß, daß keine rechtliche Grundlage für eine Anwendung des TRIPS-Übereinkommens durch das EPA besteht. Daher erübrigt es sich, die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit von TRIPS zu klären. Im vorliegenden Fall sind für das von den Beschwerdekammern anzuwendende Recht ausschließlich die Bestimmungen des EPÜ maßgebend, so daß die vorgelegte Frage zu verneinen ist.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Das TRIPS-Übereinkommen berechtigt den Anmelder einer europäischen Patentanmeldung nicht, die Priorität einer ersten Anmeldung in einem Staat zu beanspruchen, der zu den maßgeblichen Zeitpunkten zwar Mitglied des WTO/TRIPS- Übereinkommens war, aber nicht Mitglied der Pariser Verbandsübereinkunft.