T 1374/04 (Stammzellen/WARF) 07-04-2006
Download und weitere Informationen:
Der Großen Beschwerdekammer werden folgende Fragen vorgelegt:
1. Ist Regel 23d c) EPÜ auf eine Anmeldung anzuwenden, die vor dem Inkrafttreten der Regel eingereicht wurde?
2. Falls die Frage 1 bejaht wird, verbietet Regel 23d c) EPÜ die Patentierung von Ansprüchen auf Erzeugnisse (hier: menschliche embryonale Stammzellkulturen), die - wie in der Anmeldung beschrieben - zum Anmeldezeitpunkt ausschließlich durch ein Verfahren hergestellt werden konnten, das zwangsläufig die Zerstörung der menschlichen Embryonen umfasst, aus denen die Erzeugnisse gewonnen werden, wenn dieses Verfahren nicht Teil der Ansprüche ist?
3. Falls die Frage 1 oder 2 verneint wird, verbietet Artikel 53 a) EPÜ die Patentierung solcher Ansprüche?
4. Ist es im Rahmen der Fragen 2 und 3 von Bedeutung, dass nach dem Anmeldetag dieselben Erzeugnisse auch ohne Rückgriff auf ein Verfahren hergestellt werden konnten, das zwangsläufig die Zerstörung menschlicher Embryonen umfasst (hier: z. B. Gewinnung aus vorhandenen menschlichen embryonalen Zelllinien)?
menschliche embryonale Stammzellkultur - ausreichende Offenbarung (bejaht)
Ausschluss von der Patentierbarkeit nach Regel 23d c) in Verbindung mit Artikel 53 a) EPÜ - Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung - Befassung der Großen Beschwerdekammer
I. Die europäische Patentanmeldung Nr. 96 903 521.1, veröffentlicht als WO 96/22362 (EP Nr. 0 770 125) mit dem Titel "Stammzellen aus Primatenembryonen", wurde von der Prüfungsabteilung mit Entscheidung vom 13. Juli 2004 zurückgewiesen.
II. Grundlage für die Zurückweisung war der mit Schreiben vom 18. Juni 2003 eingereichte Anspruchssatz mit den Ansprüchen 1 bis 10.
Anspruch 1 lautete wie folgt:
"1. Zellkultur mit embryonalen Stammzellen von Primaten, die i) sich in einer In-vitro-Kultur über ein Jahr lang vermehren können, ii) einen Karyotyp bewahren, in dem alle für die Primatenart normalerweise charakteristischen Chromosomen vorhanden sind und sich durch über ein Jahr langes Kultivieren nicht erkennbar verändern, iii) während des Kultivierens ihr Potenzial bewahren, zu ento-, meso- und ektodermalen Gewebederivaten zu differenzieren, und iv) an der Differenzierung gehindert werden, wenn sie auf einer Nährschicht aus Fibroblasten kultiviert werden." (Hervorhebung durch die Kammer)
Die Ansprüche 2 bis 8 richteten sich auf weitere Ausführungsformen des Gegenstands von Anspruch 1, wobei Anspruch 8 auf eine Zellkultur mit nichtmenschlichen Primatenzellen gerichtet war.
Die Ansprüche 9 und 10 lauteten wie folgt:
"9. Verfahren zur Erhaltung einer Zellkultur nach einem der vorstehenden Ansprüche, das die Kultivierung der embryonalen Stammzellen von Primaten auf einer Nährschicht aus Fibroblasten umfasst, sodass sich die embryonalen Stammzellen von Primaten in Kultur in einem undifferenzierten Stadium vermehren."
(Hervorhebung durch die Kammer)
"10. Verfahren zur Erzeugung differenzierter Primatenzellen in Kultur, das den Schritt umfasst, embryonale Stammzellen von Primaten aus einer Zellkultur nach einem der Ansprüche 1 bis 8 differenzieren zu lassen."
(Hervorhebung durch die Kammer)
III. Die Prüfungsabteilung erkannte an, dass die Anmeldung auch die Herstellung menschlicher embryonaler Stammzellkulturen ermögliche, die trotz des Fehlens einschlägiger Beispiele unter die Ansprüche fielen, weil beim NIH Human Embryonic Stem Cell Registry (s. Dokument D3) anmeldungsgemäße menschliche embryonale Stammzelllinien hinterlegt worden seien. Sie wies die Anmeldung jedoch nach Artikel 97 (1) EPÜ mit der Begründung zurück, dass die Ansprüche 1 bis 7 sowie 9 und 10 nicht den Erfordernissen des Artikels 53 a) EPÜ in Verbindung mit Regel 23d c) EPÜ genügten, weil die Verwendung menschlicher Embryonen als Ausgangsmaterial für die Herstellung menschlicher embryonaler Stammzellkulturen in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung als unerlässlich beschrieben worden sei. Die Verwendung eines menschlichen Embryos als Ausgangsmaterial für die Herstellung eines gewerblich anwendbaren Erzeugnisses (hier: der beanspruchten embryonalen Stammzellkulturen) sei gleichbedeutend mit seiner Verwendung zu industriellen Zwecken im Sinne der Regel 23d c) EPÜ und somit durch diese Vorschrift in Verbindung mit Artikel 53 a) EPÜ vom Patentschutz ausgeschlossen. Regel 23d c) in Verbindung mit Artikel 53 a) EPÜ gelte nicht allein für den Anspruchsgegenstand, sondern beziehe sich vielmehr auf Erfindungen und schließe somit alle Aspekte ein, die den Anspruchsgegenstand der Öffentlichkeit offenbarten.
In der Beschreibung sei nur eine Quelle für die Ausgangszellen genannt, und zwar ein Präimplantationsembryo. Es sei daher unerheblich, dass sich der beanspruchte Gegenstand auf Zellkulturen und nicht auf ein Verfahren zur Herstellung dieser Kulturen beziehe. Die aus dem Erwägungsgrund 42 der Richtlinie 98/44/EG (Dokument D5) ableitbare Ausnahme vom Patentierungsverbot für die Verwendung menschlicher Embryonen greife im vorliegenden Fall nicht, weil die hergestellten Zellkulturen keinen therapeutischen oder diagnostischen Nutzen für den Embryo hätten, aus dem sie gewonnen worden seien, selbst wenn die Bereitstellung dieser Zellkulturen potenziell zur Entwicklung von Stoffen für die Behandlung von Störungen der menschlichen Fruchtbarkeit beitragen würde.
IV. Die Beschwerdeführerin legte am 6. September 2004 Beschwerde gegen diese Entscheidung ein. Am selben Tag entrichtete sie die Beschwerdegebühr. Am 19. November 2004 reichte sie die Beschwerdebegründung ein, in der sie zur Stützung ihres Antrags auf Aufhebung der angefochtenen Entscheidung zusätzlich zu den bereits aktenkundigen Dokumenten die Dokumente D11 bis D28 anführte.
V. Die Prüfungsabteilung half der Beschwerde nicht ab und legte sie der Beschwerdekammer vor (Art. 109 EPÜ).
VI. Am 27. Mai 2005 erließ die Kammer zusammen mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung eine Mitteilung, in der sie die Beschwerdeführerin unter anderem darauf hinwies, dass die Kammer nach Artikel 112 (1) a) EPÜ von Amts wegen die Große Beschwerdekammer befassen kann.
VII. Mit Schreiben vom 17. Oktober 2005 beantragte die Beschwerdeführerin hilfsweise, die Sache der Großen Beschwerdekammer vorzulegen und formulierte die folgenden vier Fragen:
"1. Fallen unter Regel 23d c) EPÜ auch Patentanmeldungen, deren Anspruchsgegenstand ein aus menschlichen Embryonen gewonnenes Erzeugnis umfasst?"
"2. Falls die Frage 1 verneint wird, können solche Anmeldungen dennoch nach Artikel 53 a) EPÜ zurückgewiesen werden, und wenn ja, nach welchen Kriterien?"
"3. Falls die Frage 1 bejaht wird, fallen unter Regel 23d c) EPÜ dann auch Patentanmeldungen, deren Anspruchsgegenstand ein Erzeugnis umfasst, das sich in irgendeiner Weise auf die Verwendung eines menschlichen Embryos zurückführen lässt?"
"4. Falls die Frage 3 verneint wird, nach welchen Kriterien ist dann zu entscheiden, ob sich ein Erzeugnis auf die Verwendung eines menschlichen Embryos zurückführen lässt, damit Regel 23d c) EPÜ greift?"
Ein weiteres Dokument D29 wurde eingereicht.
VIII. In der mündlichen Verhandlung am 18. November 2005 reichte die Beschwerdeführerin unter entsprechender Umnummerierung der bereits aktenkundigen Fragen eine neue Frage 1 zur Vorlage an die Große Beschwerdekammer mit folgendem Wortlaut ein:
"1. Findet Kapitel VI der Ausführungsordnung Anwendung auf Anmeldungen nach dem EPÜ, die am 1. September 1999 anhängig waren, d. h. an dem Tag, an dem diese Ausführungsbestimmungen in Kraft traten?"
IX. Anlage 1 zu dieser Entscheidung enthält ein Verzeichnis der in diesem Beschwerdeverfahren angezogenen Dokumente D1 bis D29.
X. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin im schriftlichen Verfahren und in der mündlichen Verhandlung lässt sich, soweit es für die Vorlage relevant ist, wie folgt zusammenfassen:
Zur Beantwortung der Frage, ob der beanspruchte Gegenstand nach Regel 23d c) in Verbindung mit Artikel 53 a) EPÜ patentierbar sei, müsse dieser einem "zweistufigen Test" (s. T 315/03 vom 6. Juli 2004, in verkürzter Form veröffentlicht im ABl. EPA 2006, 15) unterzogen werden. Hierbei sei als Erstes zu prüfen, ob der beanspruchte Gegenstand gegen Regel 23d c) EPÜ verstoße. Sei das nicht der Fall, so müsse anschließend geprüft werden, ob er den Erfordernissen des Artikels 53 a) EPÜ genüge.
Auslegung der Regel 23d c) EPÜ
Der wichtigste in diesem Zusammenhang zu klärende Punkt betreffe die Auslegung einer Rechtsvorschrift, und zwar die Frage, ob Regel 23d c) EPÜ eng ausgelegt werden sollte (wodurch nur Anmeldungen von der Patentierbarkeit ausgeschlossen würden, deren Ansprüche auf die Verwendung menschlicher Embryonen gerichtet seien) oder breit (wodurch der Ausschluss auf Erzeugnisse ausgedehnt würde, deren Isolierung unmittelbar und zwangsläufig die Verwendung menschlicher Embryonen voraussetze).
Sinn und Zweck der Regel 23d EPÜ sei es, die konkreten unter den Buchstaben a bis d dieser Regel aufgezählten Handlungen und Erzeugnisse von der Patentierbarkeit auszuschließen. Ob eine Patentanmeldung gegen Regel 23d EPÜ verstoße, sei allein im Hinblick auf den Gegenstand des Schutzbegehrens zu beurteilen, d. h. den Anspruchsgegenstand.
Obwohl die Anmeldung offenbare, dass menschliche embryonale Stammzellen aus Präimplantationsembryonen gewonnen werden könnten (und insoweit die Verwendung menschlicher Embryonen offenbare), beschränke sich der beanspruchte Gegenstand auf Kulturen embryonaler Stammzellen. Somit verstoße die Anmeldung nicht gegen Regel 23d c) EPÜ.
Patentanmeldungen, deren Anspruchsgegenstand ein aus einem menschlichen Embryo gewonnenes Erzeugnis umfasse, verstießen selbst dann nicht gegen Regel 23d c) EPÜ, wenn die Isolierung des Erzeugnisses unmittelbar und zwangsläufig die Verwendung menschlicher Embryonen voraussetze.
Vorteile einer engen Auslegung der Regel 23d c) EPÜ gegenüber den mit einer breiten Auslegung verbundenen Schwierigkeiten
- Vorrang der Ansprüche
Es sei ein Grundsatz des europäischen Patentrechts, dass die Erfindung, für die Schutz begehrt wird, durch die Ansprüche definiert werde. Bei der Nennung bestimmter "Erfindungen" in Regel 23d EPÜ werde also auf den Gegenstand der Ansprüche Bezug genommen.
Dass in der englischen Fassung der Regel 23d EPÜ von Erfindungen die Rede sei, die einen der unter den Buchstaben a bis d genannten Gegenstände "betreffen" ("concern"), erweitere die Ausschlussbestimmung nicht auf alle Aspekte, die den Anspruchsgegenstand der Öffentlichkeit offenbarten. Vielmehr werde das Wort "concern" in diesem Kontext im genau entgegengesetzten Sinn verwendet, nämlich um den Ausschluss auf Erfindungen zu beschränken, welche die unter den Buchstaben a bis d aufgezählten Handlungen oder Erzeugnisse zum Gegenstand hätten oder auf diese gerichtet seien. Diese Auslegung werde durch die deutsche und die französische Fassung der Regel 23d EPÜ, die Bestimmungen der Regel 23b (2) EPÜ und die Richtlinie 98/44/EG (Dokument D5) umfassend gestützt.
- Auslegung von Regel 23d c) EPÜ im Lichte der Regel 23d d) EPÜ
Gegenstand der Regel 23d d) EPÜ seien "Verfahren zur Veränderung der genetischen Identität von Tieren, die geeignet sind, Leiden dieser Tiere ohne wesentlichen medizinischen Nutzen für den Menschen oder das Tier zu verursachen, sowie die mit Hilfe solcher Verfahren erzeugten Tiere" (Hervorhebung durch die Kammer), im Gegensatz dazu beschränke sich der Gegenstand der Regel 23d c) EPÜ auf "die Verwendung von menschlichen Embryonen ". Im Lichte der Regel 23d d) EPÜ liege klar auf der Hand, dass das Fehlen jeglicher Bezugnahme auf Erzeugnisse, die aus der Verwendung menschlicher Embryonen resultierten, Absicht sei und Regel 23d c) EPÜ somit eng auszulegen sei.
- Auslegung der Regel 23d c) EPÜ im Lichte der Richtlinie 98/44/EG
Regel 23d EPÜ gehe auf Artikel 6 (2) der Richtlinie 98/44/EG (Dokument D5) zurück, in dem genau dieselben Ausnahmen von der Patentierbarkeit aufgeführt seien, einschließlich der Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken.
Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte der Richtlinie zeige, dass der Rat die Ausschlussbestimmung für "Methoden, bei denen menschliche Embryonen verwendet werden," wie sie vom Ausschuss für Recht und Bürgerrechte am 25. Juni 1997 in den Richtlinienentwurf eingebracht worden sei (Dokument D21), im gemeinsamen Standpunkt vom 8. April 1998 (Dokument D4) in zweifacher Hinsicht eingeschränkt habe. Zum einen seien die Worte "zu industriellen oder kommerziellen Zwecken" eingefügt worden, weil der Rat habe sicherstellen wollen, dass Erfindungen, die therapeutische oder diagnostische Zwecke verfolgten und auf den menschlichen Embryo zu dessen Nutzen angewandt würden, nicht von der Patentierbarkeit ausgeschlossen würden. Zum anderen habe der Rat die Formulierung "Methoden, bei denen menschliche Embryonen verwendet werden", durch "die Verwendung von menschlichen Embryonen" ersetzt. "Methoden, bei denen menschliche Embryonen verwendet werden", könnten unter Umständen Verfahren einschließen, in denen aus menschlichen Embryonen gewonnene Erzeugnisse, nicht aber die Embryonen selbst verwendet würden. "Die Verwendung von menschlichen Embryonen" könne sich dagegen nur auf Verfahren beziehen, bei denen die Embryonen unmittelbar - im Unterschied zu darauf basierenden Erzeugnissen oder Verfahren - verwendet würden.
Beachtenswert sei, dass Artikel 6 (2) c) zu einer Zeit in die Richtlinie aufgenommen worden sei, als die Technologie zur Herstellung embryonaler Stammzellen bereits verfügbar gewesen sei, sodass der Gesetzgeber die Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen ohne Weiteres hätte ausschließen können, z. B. in einem der Erwägungsgründe der Richtlinie 98/44/EG (Dokument D5).
Das beim Edinburgh-Patent EP 0 695 351 (Dokument D9) angezogene "Redundanzargument"
Im "Edinburgh-Fall" (s. Dokument D9) habe die zuständige Einspruchsabteilung argumentiert (s. S. 22 ihrer Entscheidung vom 21. Juli 2003), dass eine enge Auslegung der Regel 23d c) EPÜ (d. h. der alleinige Ausschluss einer als solcher beanspruchten Verwendung von Embryonen) vom Gesetzgeber nicht beabsichtigt gewesen sein könne, weil das bedeutet hätte, dass Regel 23d c) EPÜ gegenüber Regel 23e (1) EPÜ redundant wäre, denn Letztere schließe bereits menschliche Embryonen (als Frühphase der Entstehung des menschlichen Körpers) und damit auch die Verwendung menschlicher Embryonen von der Patentierung aus. Diese Auffassung sei jedoch falsch, wie sich aus den entsprechenden Artikeln 5 und 6 der Richtlinie ableiten lasse. Zweck und Gegenstand dieser beiden Bestimmungen überschnitten sich nämlich: a) Artikel 5 gewährleiste - neben der Unterscheidung zwischen Erfindung und Entdeckung - genauso wie Artikel 6 den Schutz der Menschenwürde; b) beide Bestimmungen beträfen denselben Gegenstand, da sich beide auf menschliche Embryonen als solche bezögen oder diese einschlössen. Auch lasse das Argument der Einspruchsabteilung, dass es, "wenn die Patentierung eines Erzeugnisses ethisch nicht vertretbar ist, kaum vorstellbar ist, dass die Patentierung seiner 'Verwendung' anders beurteilt wird", nicht den Schluss zu, dass Regel 23d c) EPÜ die Patentierung anderer Anspruchsgegenstände über die unmittelbare Verwendung menschlicher Embryonen hinaus verbiete.
Breite Auslegung als künstliches ethisches Konstrukt
In der Praxis könnten menschliche embryonale Stammzellen mittlerweile problemlos erzeugt werden, ohne Embryonen zu handhaben oder zu zerstören. Im Zusammenhang mit solchen Zelllinien stellten sich eindeutig nicht dieselben ethischen Fragen wie bei menschlichen embryonalen Stammzellkulturen, die aus einem Embryo neu gewonnen würden. Bei einer breiten Auslegung der Regel 23d c) EPÜ würden jedoch bereits vorhandene embryonale Stammzelllinien und auf anderem Wege gewonnene menschliche embryonale Stammzellen gleichermaßen beanstandet.
Das EPA sollte in ethischen Fragen nicht als Richter auftreten
Das EPA sei kein moralischer Richter über kontroverse Technologien und sollte auch nicht als solcher auftreten. Der Kompetenzbereich des EPA betreffe Patente und nicht die Lösung kontroverser moralischer und ethischer Fragen. Regelungen zu umstrittenen Technologien seien Sache der Gesetzgeber und nicht des EPA.
Richtiger Ansatz bei ethischen Fragen, Anwendung des Artikels 53 a) EPÜ
Es komme darauf an, zwischen Erfindungen zu unterscheiden, die zweifelsfrei gegen Artikel 53 a) EPÜ verstießen, und solchen, über deren Patentierbarkeit nicht ohne eine gründliche Auslegung der Bestimmungen des EPÜ befunden werden könne.
Lasse eine Bestimmung des EPÜ zwei unterschiedliche Auslegungen zu, von denen eine zur Zurückweisung der Anmeldung aus ethischen Gründen führe (breite Auslegung) und die andere die Erteilung eines Patents gestatte (enge Auslegung), sei der richtige Ansatz die enge Auslegung der Bestimmung, und zwar aus folgenden Gründen: i) die enge Auslegung erspare es dem EPA, als moralischer Richter aufzutreten, ii) Artikel 53 a) EPÜ bilde eine Ausnahme von den allgemeinen Grundsätzen der Patentierbarkeit in Artikel 52 (1) EPÜ und müsse somit nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern eng ausgelegt werden, und iii) in den Richtlinien würden die Begriffe der öffentlichen Ordnung und der guten Sitten offenkundig ebenfalls eng ausgelegt.
Im Zusammenhang mit auf menschliche embryonale Stammzellen gerichteten Erfindungen sei zu bedenken, dass es unter den Vertragsstaaten keinen Konsens gebe, inwieweit die Nutzung menschlicher embryonaler Stammzellen ethisch vertretbar ist. In mehreren EPÜ-Vertragsstaaten sei die Entwicklung menschlicher embryonaler Stammzellen aus überzähligen Embryonen erlaubt, und es finde derzeit eine Ethikdebatte über die Nutzung menschlicher embryonaler Stammzellen statt, in deren Verlauf sich die moralischen Einstellungen natürlich wandelten; dies werde auch durch die Tatsache belegt, dass das Europäische Parlament im November 2003 die Bewilligung öffentlicher Mittel für die Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen beschlossen habe.
Wenn sich Fragen im Zusammenhang mit den guten Sitten stellten, müsse jede diesbezügliche Entscheidung auf den am Tag der Entscheidung nachgewiesenen Tatsachen beruhen.
Erfindungen, die menschliche embryonale Stammzellen beträfen, seien eindeutig nicht so verabscheuungswürdig, dass die Erteilung von Patentrechten unbegreiflich wäre.
Der richtige Ansatz sei hier der in der Entscheidung T 19/90 (ABl. EPA 1990, 476) empfohlene Abwägungstest, es seien also die moralischen Einwände einerseits gegen den Nutzen der Erfindung für die Menschheit andererseits sorgfältig abzuwägen.
XI. Die Beschwerdeführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und ein Patent auf der Grundlage der Ansprüche 1 bis 10 vom 18. Juni 2003 zu erteilen. Hilfsweise beantragte sie die Befassung der Großen Beschwerdekammer mit der in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Frage 1 und den am 17. Oktober 2005 eingereichten (und entsprechend umzunummerierenden) Fragen 1 bis 4.
1. In der angefochtenen Entscheidung wurden im Wesentlichen zwei Aspekte der vorliegenden Anmeldung behandelt, die beide mit menschlichen embryonalen Stammzellkulturen zusammenhängen, Ausführungsformen der Erfindung also, die in den Schutzbereich der Ansprüche fallen (vgl. die Wortwahl "Primaten" in den Ansprüchen sowie auf S. 13 und 17 der Beschreibung). Diese Aspekte sind a) die ausreichende Offenbarung dieser Ausführungsformen (Art. 83 EPÜ) und b) deren Ausschluss von der Patentierbarkeit nach Regel 23d c) in Verbindung mit Artikel 53 a) EPÜ. Während a) zugunsten des Anmelders entschieden wurde, führte b) zur Zurückweisung der Anmeldung.
2. Was die ausreichende Offenbarung angeht, stimmt die Kammer in der Bejahung dieser Frage mit der Prüfungsabteilung überein, wie weiter unten begründet wird (s. Nrn. 7 bis 14).
3. Die angefochtene Entscheidung könnte also nur dann - entsprechend dem Hauptantrag der Beschwerdeführerin - aufgehoben werden, wenn deren Auffassung über die Auslegung von Regel 23d c) und Artikel 53 a) EPÜ geteilt würde. Mit anderen Worten ist die Antwort auf die von der Prüfungsabteilung unter b) behandelte Frage entscheidend für den Ausgang der vorliegenden Beschwerde.
4. Die Kammer hält die Frage der Patentierbarkeit menschlicher embryonaler Stammzellen und der dafür geltenden Voraussetzungen für eine Rechtsfrage von absolut grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Artikels 112 (1) a) EPÜ, die eine Entscheidung der Großen Beschwerdekammer erfordert. Die Patentierbarkeit menschlicher embryonaler Stammzellen ist eine äußerst kritische Frage, die lebhaft diskutiert wird.
5. Nachdem auf EG-Ebene die Richtlinie 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen (Dokument D5, auch veröffentlicht im ABl. EPA 1999, 101) verabschiedet worden war, wurde in die Ausführungsordnung zum EPÜ ein Kapitel VI aufgenommen. Hierzu gehört auch die Regel 23d c) EPÜ als ergänzendes Auslegungsmittel zu Artikel 53 a) EPÜ, was das Patentierungsverbot von Erfindungen anbelangt, die die Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken zum Gegenstand haben.
6. Eine Entscheidung der Großen Beschwerdekammer in dieser Sache wird eine verlässliche Grundlage dafür schaffen, wie weitere die Patentierung menschlicher embryonaler Stammzellen betreffende Fälle zu behandeln sind, die vor dieser und anderen Kammern, insbesondere der Kammer 3.3.04, anhängig sind oder sein werden. Auch wegen des letztgenannten Umstands hielte die Kammer es nicht für angezeigt, eine so grundlegende Frage selbst zu entscheiden. Auch wenn dies an sich kein Grund für eine Vorlage ist, so ist die Kammer doch der Meinung, dass eine Entscheidung der Großen Beschwerdekammer in dieser Sache wesentlich zur Akzeptanz der künftigen Praxis des EPA beitragen wird, die auf den darin aufgestellten Grundsätzen basieren wird. Zudem wird mit der Befassung der Großen Beschwerdekammer dem Hilfsantrag der Beschwerdeführerin entsprochen, die eine Reihe von Fragen vorgeschlagen hat.
Ausreichende Offenbarung (Art. 83 EPÜ)
7. Die Prüfungsabteilung kam zu dem Schluss, dass die Offenbarung der Anmeldung trotz des Fehlens einschlägiger Beispiele in der Beschreibung die Herstellung menschlicher embryonaler Stammzellkulturen ermögliche, weil i) angegeben sei, dass die für zwei andere Primaten (Rhesusaffe und Weißbüschelaffe) beschriebenen Verfahren und Wachstumsbedingungen angewendet werden könnten, ii) eine Quelle für diese Zellen genannt sei, nämlich überzählige menschliche Embryonen aus In-vitro-Fertilisationen (IVF), und iii) menschliche embryonale Stammzelllinien beim NIH Human Embryonic Stem Cell Registry "hinterlegt" worden seien, wie aus Dokument D3 hervorgehe.
8. Die Kammer stimmt mit der Feststellung der Prüfungsabteilung überein, dass Artikel 83 EPÜ im Hinblick auf den Anspruchsbereich erfüllt ist, der menschliche embryonale Stammzellkulturen betrifft. Zu diesem Schluss ist die Kammer jedoch teilweise aus anderen Gründen gelangt, die nachstehend erläutert werden.
9. Bei der Beurteilung, ob eine Erfindung im Sinne des Artikels 83 EPÜ ausreichend offenbart ist, gilt es zu beachten, dass hierfür einzig die in der Anmeldung enthaltenen Angaben maßgeblich sind, so wie sie der Fachmann anhand seines allgemeinen Fachwissens verstehen würde. In Fällen wie dem vorliegenden, in denen es um Zelllinien geht, kann die Offenbarung durch Hinweise auf die Hinterlegung einer Probe des biologischen Materials nach Regel 28 EPÜ ergänzt werden, wenn sich die Zelllinien nicht auf anderem Wege nacharbeiten lassen.
10. Im vorliegenden Fall wird aber nirgendwo in der Anmeldung auf eine Hinterlegung menschlicher Zelllinien hingewiesen. Damit ist der von der Prüfungsabteilung angeführte Umstand, dass später menschliche embryonale Stammzelllinien beim NIH Human Embryonic Stem Cell Registry "hinterlegt" worden seien (s. Nr. 7, Grund iii)), als solcher für die Frage der ausreichenden Offenbarung ohne Belang, weil eine solche Hinterlegung nicht Teil der Offenbarung der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung sein kann. Entscheidend für die Frage der ausreichenden Offenbarung ist hier also, ob die Beschreibung auch ohne einen Hinweis auf eine Hinterlegung und ohne einschlägige Beispiele ausreichende Angaben enthält, anhand deren der Fachmann ohne unzumutbaren Aufwand oder übermäßiges Experimentieren menschliche embryonale Stammzellkulturen herstellen kann.
11. Die Anmeldung beschreibt im Detail (s. Beispiele auf S. 26 bis 36), wie sich aus den Blastozysten zweier nichtmenschlicher Primaten, nämlich Rhesusaffe und Weißbüschelaffe, embryonale Stammzelllinien gewinnen und wie sich solche Zelllinien kultivieren lassen. Beschrieben wird insbesondere die Erzeugung einer embryonalen Stammzelllinie von Rhesusaffen, nämlich der Zelllinie R278.5, die in Kultur erwiesenermaßen die technischen Merkmale des Anspruchs 1 aufweist. Außerdem ist ein Verfahren zur Herstellung einer embryonalen Stammzelllinie von Weißbüschelaffen beschrieben (s. S. 33 bis 36), mit dem sieben mutmaßliche embryonale Stammzelllinien gewonnen werden konnten, von denen jede über sechs Monate lang kultiviert wurde. In dieser Hinsicht ist die Offenbarung also klar und vollständig.
12. In Bezug auf menschliche embryonale Stammzelllinien, für die in der Tat keine Beispiele angeführt sind, heißt es in der Anmeldung ausdrücklich (s. S. 13, Z. 8 bis 25), dass aufgrund der engen evolutionären Verwandtschaft zwischen Rhesusaffen und Menschen die beschriebenen Techniken zur Isolierung embryonaler Stammzelllinien von Rhesusaffen (s. Nr. 11) auch bei anderen höheren Primaten, einschließlich des Menschen, erfolgreich zur Erzeugung embryonaler Stammzelllinien eingesetzt werden könnten. Als Quelle für die Gewinnung menschlicher Zellen werden überzählige durch In-vitro-Fertilisation erzeugte menschliche Embryonen von hoher Qualität genannt (s. S. 17, Z. 24 bis S. 18, Z. 6). Des Weiteren ist angegeben, dass die für nichtmenschliche Primaten beschriebenen Verfahren ebenso zur Gewinnung menschlicher Zellen eingesetzt werden könnten (a. a. O.).
13. Für die Kammer besteht aufgrund des vorliegenden Beweismaterials kein Anlass, diese Aussagen anzuzweifeln. Vielmehr belegt ein späterer Beweis in Form einer wissenschaftlichen Publikation vom November 1998, zu deren Verfassern auch der Erfinder gehört (Dokument D16), dass menschliche embryonale Stammzelllinien tatsächlich aus menschlichen Blastozysten gewonnen wurden, und zwar "im Wesentlichen so, wie für embryonale Stammzellen nichtmenschlicher Primaten beschrieben" (s. S. 1145, mittlere Spalte, wo verwiesen wird auf Endnote 5, in der eine wissenschaftliche Publikation des Erfinders genannt wird, die die Erfindung in ähnlicher Weise offenbart wie die vorliegende Anmeldung, sowie Endnote 6, S. 1147, in der ein Verfahren beschrieben ist, das im Wesentlichen dem in der vorliegenden Anmeldung offenbarten entspricht).
14. Die Kammer erkennt also an, dass der Fachmann am maßgeblichen Anmeldetag ohne unzumutbaren Aufwand oder übermäßiges Experimentieren in der Lage gewesen wäre, menschliche embryonale Zelllinien zu erzeugen und zu züchten. Unter diesen Umständen hält sie konkrete Beispiele und/oder die Hinterlegung einer Zelllinie nicht für unabdingbar, um die Ausführbarkeit sicherzustellen.
Erfüllung der Erfordernisse der Regel 23d c) und des Artikels 53 a) EPÜ
Technischer Hintergrund
15. Eine menschliche embryonale Stammzellkultur besteht aus Zellen, die durch Vermehrung von Zellen einer bestimmten Zelllinie gewonnen wurden, die in ein Nährmedium eingebracht und gezüchtet wurden.
16. Nach den in der Anmeldung beschriebenen Verfahren (später im Dokument D16 veranschaulicht - s. Nr. 13) lassen sich menschliche embryonale Zelllinien aus überzähligen menschlichen Embryonen im Stadium von Präimplantationsblastozysten gewinnen. Diese bestehen aus zwei Teilen: dem Trophoblasten (einer hohlen Zellkugel, die sich im Uterus der Schwangeren einnistet und aus der sich die extraembryonalen Membranen entwickeln) und der inneren Zellmasse (ICM), aus der sich im Bauch der Schwangeren das Baby entwickelt.
17. Menschliche embryonale Stammzelllinien werden ebenso wie die nichtmenschlicher Primaten in einem mehrstufigen Verfahren aus der inneren Zellmasse von Embryonen gewonnen. Wie in dem als Gutachten angezogenen Dokument D16 (insbesondere S. 1147, Endnote 6) beschrieben, umfasst dieses im Wesentlichen folgende Schritte: i) Auswählen der Blastozysten (in der Patentanmeldung wird Wert darauf gelegt, dass nur Embryonen von hoher Qualität verwendet werden; s. S. 17, Z. 32 und 33), ii) immunchirurgisches Isolieren der inneren Zellmasse (um die Trophoblastenzellen von den Blastozysten zu entfernen), die dann in einem Nährmedium auf bestrahlten embryonalen Mausfibroblasten ausplattiert wird, iii) nach 9 bis 15 Tagen Zerteilen der Auswüchse aus innerer Zellmasse in Klumpen, die in frischem Nährmedium erneut auf bestrahlten embryonalen Mausfibroblasten ausplattiert werden, iv) Auswählen einzelner Kolonien von einheitlicher undifferenzierter Morphologie und Pipettierung mit Mikropipette gefolgt von mechanischem Zerteilen in Klumpen und erneutem Ausplattieren der ausgewählten Kolonien, und v) Passagieren der neu gebildeten und herangewachsenen Kulturen durch Zugabe von Typ-IV-Kollagenase oder Pipettierung einzelner Kolonien mit Mikropipette.
18. In der vorliegenden Anmeldung (s. S. 17, Z. 24 ff.) wird darauf hingewiesen, dass für die Gewinnung menschlicher embryonaler Stammzellen aus Präimplantationsembryonen in vitro erzeugte Embryonen verwendet würden, weil aufgrund ethischer Überlegungen in den USA die Entnahme menschlicher in vivo erzeugter Präimplantationsembryonen aus dem Uterus nicht zulässig sei. Die Autoren des später veröffentlichten Dokuments D16, die die Herstellung menschlicher embryonaler Stammzelllinien vermelden konnten, haben nach eigenen Angaben überzählige menschliche Embryonen im Stadium von Präimplantationsblastozysten verwendet, die durch In-vitro-Fertilisation erzeugt und anschließend mit der Zustimmung der Spenderinnen für Forschungszwecke freigegeben wurden (und die ansonsten entsorgt worden wären). Es hätten auch speziell für eine Verwendung in der Forschung erzeugte Präimplantationsembryonen eingesetzt werden können. Alle diese Verfahren schließen zwangsläufig die Zerstörung der Embryonen ein.
19. Sobald aus menschlichen Präimplantationsembryonen einmal Zelllinien gewonnen wurden (einige davon sind im Dokument D3 aufgeführt), können diese wiederholt zur Herstellung einer menschlichen embryonalen Stammzellkultur verwendet werden, ohne dass Embryonen zerstört werden müssen. Erforderlich wird Letzteres jedoch, wenn weitere der anspruchsgemäßen menschlichen embryonalen Stammzelllinien angelegt werden sollen.
Vorbemerkungen
Von der Beschwerdeführerin eingeräumte Sachverhalte
20. Bezüglich der rechtlichen und technischen Sachlage im vorliegenden Fall hat die Beschwerdeführerin auf Fragen der Kammer in der mündlichen Verhandlung Folgendes ausdrücklich eingeräumt:
a) Der Begriff "embryonale Stammzellen von Primaten", wie er in den Ansprüchen verwendet wird, schließt menschliche embryonale Stammzellen ein.
b) Am Anmeldetag musste der Fachmann, der die Erfindung nacharbeiten, d. h. eine Zellkultur von menschlichen embryonalen Stammzellen herstellen wollte, dafür zwangsläufig - wie in der Anmeldung angegeben - überzählige Präimplantationsembryonen verwenden und sie dabei zerstören.
c) Diese Präimplantationsembryonen, aus denen sich menschliche embryonale Stammzellen gewinnen lassen, sind "Embryonen" im Sinne der Regel 23d c) EPÜ.
d) Bei der Beurteilung, ob die hier beanspruchte Erfindung die Erfordernisse des EPÜ erfüllt, ist Regel 23d EPÜ anzuwenden, obwohl sie erst nach dem Anmeldetag der Erfindung in Kraft trat.
e) Die Rechtslage in Bezug auf die Auslegung der Regel 23d c) EPÜ ist noch nicht geklärt.
f) Die Patentierbarkeit menschlicher embryonaler Stammzellen ist eine stark umstrittene Frage.
Der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Rechtsfragen
21. Die vier Fragen, die der Großen Beschwerdekammer mit dieser Entscheidung vorgelegt werden, sind im Folgenden einschließlich der Erwägungen aufgeführt, die ihrer Abfassung zugrunde lagen.
Erste Frage an die Große Beschwerdekammer
22. Die Frage lautet:
"Ist Regel 23d c) EPÜ auf eine Anmeldung anzuwenden, die vor dem Inkrafttreten der Regel eingereicht wurde?"
23. Mit der Anwendbarkeit einzelner Vorschriften von Kapitel VI des Zweiten Teils der Ausführungsordnung, d. h. der Regeln 23b bis 23e EPÜ, und dieses Kapitels als Ganzes auf Patentanmeldungen, die vor dem Inkrafttreten des Kapitels eingereicht wurden, haben sich die Beschwerdekammern bislang in zwei Entscheidungen befasst, und zwar in T 272/95 vom 23. Oktober 2002 und in T 315/03 vom 6 Juli 2004 (s. Nr. X).
24. In der Entscheidung T 272/95 (s. Nr. 4 der Entscheidungsgründe) schloss die zuständige Kammer aus dem Fehlen jeglicher Übergangsbestimmungen zur Anwendbarkeit der Regeln 23b bis 23e EPÜ, der Verwaltungsrat müsse diese lediglich als Präzisierung der schon bei dessen Abfassung beabsichtigten Auslegung des Artikels 53 EPÜ betrachtet und folglich vorgesehen haben, dass diese Regeln von ihrem Inkrafttreten am 1. September 1999 an auf alle vor diesem Tag anhängigen Anmeldungen anzuwenden seien. In Nummer 5 der Entscheidungsgründe untersuchte die Kammer ferner im Hinblick auf Artikel 164 (2) EPÜ, ob diese Regeln, soweit sie sich auf Artikel 53 a) EPÜ beziehen, mit diesem in Einklang stehen. Sie stellte weiter fest, dass die Große Beschwerdekammer in der Entscheidung G 1/98 (ABl. EPA 2000, 111, Nrn. 3.10, 5 und 6 der Entscheidungsgründe) bezüglich der Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ befunden habe, dass Artikel 4 (1) b) und (3) der Richtlinie 98/44/EG (Dokument D5) im selben Sinne auszulegen sei, wie die Große Beschwerdekammer den Geltungsbereich des Artikels 53 b) EPÜ ausgelegt habe. Diese letztere Auslegung entspreche voll und ganz der neuen Regel 23c EPÜ, die ihrerseits auf der Richtlinie basiere. Die Große Beschwerdekammer habe diese sich auf Artikel 53 b) EPÜ beziehende Regel für rein interpretatorisch erachtet. Daraus schloss die Kammer in T 727/95, dass dasselbe auch für die neuen Regeln gelten müsse, soweit sie sich auf die Auslegung von Artikel 53 a) EPÜ bezögen, und wandte sie daher auf den vor ihr anhängigen Fall an.
25. In der Entscheidung T 315/03 (s. Nr. X) befand die zuständige Kammer, dass die Regeln 23b bis 23e EPÜ auf einen bei deren Inkrafttreten anhängigen Fall anzuwenden seien. Die Regeln 23b bis 23e EPÜ müssten ihrer Auffassung nach als "Paket" betrachtet werden, dessen einzige Funktion darin bestehe, Vorschriften für die Anwendung und Auslegung bereits vorhandener Bestimmungen des EPÜ zu liefern. Im Hinblick auf die Patentierung von Tieren vertrat die Kammer die Ansicht, dass das System durch die neuen Regeln nicht vollständig geändert worden sei und mit den neuen Regeln keine rückwirkenden Patenthindernisse geschaffen worden seien (s. Leitsatz I sowie Nrn. 5.1 und 5.12 der Entscheidungsgründe). Das Vorbringen des Beschwerdegegners (Patentinhabers), dass die Einführung des Konzepts eines "wesentlichen medizinischen Nutzens" in Regel 23d d) EPÜ zu einer bis dato unvorhersehbaren Änderung in der durch die Entscheidung T 19/90 vorgegebenen Auslegung des Artikels 53 a) EPÜ geführt habe, weil dies einen restriktiveren Test mit sich bringe, und Regel 23d d) EPÜ somit ultra vires angewandt werde, wurde von der Kammer zurückgewiesen. Obwohl sich die Kammer in ihrer Begründung im Wesentlichen auf die Rechtslage bezüglich der Patentierung von Tieren konzentriert und sich eingehend mit den Einzelheiten der von den Verfahrensbeteiligten konkret vorgetragenen Argumente beschäftigt hat, ergibt sich aus dieser Entscheidung letztlich doch der Schluss, dass die Regeln 23b bis 23e EPÜ auf Fälle anzuwenden sind, die bei ihrem Inkrafttreten anhängig waren, ohne dass noch irgendwelche weiteren Voraussetzungen an die betreffende Regel zu stellen wären.
26. Die jetzt befasste Kammer sieht zwischen den beiden angeführten Entscheidungen einen gewissen Unterschied, was die Begründung der Schlussfolgerung betrifft, dass die betreffenden Regeln auf vor ihrem Inkrafttreten eingereichte Anmeldungen anzuwenden sind: Während dies in der Entscheidung T 272/95 offenbar daran festgemacht wird, dass die betreffende Regel rein interpretatorischen Charakter habe, wurde in T 315/03 befunden, dass das Paket der Regeln ohne weitere Bedingungen anzuwenden sei.
27. Der durch die Vorlagefrage 1 aufgeworfene Sachverhalt ist von der Großen Beschwerdekammer noch nicht entschieden worden. In ihrer Entscheidung G 1/98 zur Patentierbarkeit genetisch veränderter Pflanzen nach Artikel 53 b) EPÜ verwies die Große Beschwerdekammer zwar auf Artikel 4 (1) b) und (3) der Richtlinie 98/44/EG (Dokument D5), allerdings nur, um anzumerken, dass im Hinblick auf die dortige vierte Vorlagefrage ihre Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ mit der Bedeutung übereinstimme, die dem Artikel 4 (1) b) und (3) laut Erwägungsgrund 32 der Richtlinie zukomme, weil dieser Artikel in seiner Wortwahl dem Artikel 53 b) EPÜ entspreche (a. a. O., Nr. 5.3 der Entscheidungsgründe, am Ende). Die Bezugnahme auf die Bestimmungen der Richtlinie diente der Großen Beschwerdekammer in dieser Entscheidung also lediglich als Argument, das ihre Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ stützt. Diese Entscheidung lässt keinen Rückschluss auf die Beantwortung der Frage 1 zu.
28. Mit Blick auf die zitierten früheren Entscheidungen der Technischen Beschwerdekammern hält die Kammer es für angebracht, die Große Kammer statt mit der von der Beschwerdeführerin vorgeschlagenen allgemeiner formulierten Frage (Anwendbarkeit von Kapitel VI der Ausführungsordnung als Ganzes) mit einer gezielten Frage zur Anwendbarkeit der Regel 23d c) EPÜ zu befassen, damit die Antwort der Großen Beschwerdekammer in keiner Weise vorweggenommen wird.
Zweite Frage an die Große Beschwerdekammer
29. Die Frage lautet:
"Falls die Frage 1 bejaht wird, verbietet Regel 23d c) EPÜ die Patentierung von Ansprüchen auf Erzeugnisse (hier: menschliche embryonale Stammzellkulturen), die - wie in der Anmeldung beschrieben - zum Anmeldezeitpunkt ausschließlich durch ein Verfahren hergestellt werden konnten, das zwangsläufig die Zerstörung der menschlichen Embryonen umfasst, aus denen die Erzeugnisse gewonnen werden, wenn dieses Verfahren nicht Teil der Ansprüche ist?"
30. Die Beschwerdeführerin hat mehrere Gründe angeführt, warum diese Frage verneint werden sollte. Da das vorliegende Verfahren ein einseitiges Verfahren ist, sind abgesehen von der Begründung der Zurückweisungsentscheidung durch die Prüfungsabteilung nur die von der Beschwerdeführerin zur Verteidigung ihrer Position vorgebrachten Argumente aktenkundig.
31. Für die Kammer wäre es unangebracht, in dieser Sache Stellung zu beziehen und eine Antwort auf die genannte Frage anzuraten. Sie wird sich deshalb einer Meinungsäußerung enthalten. Dennoch hält sie es für hilfreich, auf einige Argumente der Beschwerdeführerin einzugehen und zu begründen, warum sie die Frage 2 der Großen Beschwerdekammer in dieser Form vorlegt.
Zur Auslegung der Regel
32. Als erstes Argument brachte die Beschwerdeführerin vor, dass wiederholten Feststellungen der Beschwerdekammern zufolge (z. B. in T 320/87, ABl. EPA 1990, 71; T 19/90, ABl. EPA 1990, 476; T 356/93, ABl. EPA 1995, 545), Regel 23d c) und Artikel 53 a) EPÜ als Ausnahmen von der Patentierbarkeit eng auszulegen seien.
33. Der Kammer ist nur eine Entscheidung der Großen Beschwerdekammer bekannt, in der diese Frage unmittelbar thematisiert wurde. Dabei handelt es sich um die jüngst ergangene Stellungnahme G 1/04 vom 16. Dezember 2005 (zur Veröffentlichung im ABl. EPA vorgesehen, Nr. 6 der Entscheidungsgründe), in der die Große Beschwerdekammer erklärte, dass der häufig angeführte Grundsatz, wonach im EPÜ vorgesehene Ausschlussbestimmungen zur Patentierbarkeit restriktiv auszulegen seien, nicht ausnahmslos gelte. Auf das Patentierungsverbot für Diagnostizierverfahren nach Artikel 52 (4) EPÜ sei der Grundsatz der engen Auslegung jedoch anzuwenden. Bei näherer Untersuchung der Entscheidung wird indes deutlich, dass dieser Schluss nicht aufgrund der bloßen Tatsache gezogen wurde, dass Artikel 52 (4) EPÜ eine Ausschlussbestimmung zur Patentierbarkeit ist. Vielmehr war er das Ergebnis einer eingehenden Analyse dieser Vorschrift nach allen üblichen Methoden der Rechtsauslegung, also einer Prüfung ihres Wortlauts, Gegenstands und Zwecks, der beteiligten Interessen, der Folgen einer engen bzw. weiten Auslegung und des Aspekts der Rechtssicherheit. In der früheren Entscheidung G 1/98 (a. a. O.), die den Umfang des Ausschlusses von Pflanzensorten vom Patentschutz nach Artikel 53 b) EPÜ betraf, wird dieser Grundsatz noch nicht einmal erwähnt; zu ihrer "engen" Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ gelangte die Große Beschwerdekammer vielmehr, nachdem sie die Bedeutung der in dieser Vorschrift verwendeten Begriffe, ihren Gesetzeszusammenhang - insbesondere ihre Entstehungsgeschichte - und ihren Sinn und Zweck analysiert hatte.
34. Die Große Beschwerdekammer hat in ihrer ständigen Rechtsprechung anerkannt, dass die im Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge enthaltenen Regeln für die Auslegung von Verträgen herangezogen werden können, um Hinweise in Fragen der Auslegung des EPÜ zu erhalten (G 5/83, ABl. EPA 1985, 64 und unlängst G 2/02 sowie G 3/02, ABl. EPA 2004, 483, Nr. 5.2 der Entscheidungsgründe). In den Artikeln 31 und 32 des Wiener Übereinkommens sind die geltenden Auslegungsgrundsätze definiert.
35. Dementsprechend ist davon auszugehen, dass im vorliegenden Fall eine ähnliche Analyse durchgeführt werden muss, ehe darüber entschieden wird, wie Regel 23d c) EPÜ auszulegen ist.
Die Bedeutung des Wortes "Verwendung" in Regel 23d c) EPÜ
36. Die Beschwerdeführerin hat mehrere Argumente zum Gebrauch des Wortes "Verwendung" in Regel 23d c) EPÜ vorgebracht, denen zufolge nur Ansprüche, die unmittelbar auf die Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken gerichtet seien, unter die Ausschlussbestimmung fielen.
37. Unter Verweis auf Artikel 84 EPÜ machte die Beschwerdeführerin geltend, dass als Erfindung im Sinne der Regel 23d c) EPÜ der Gegenstand der Ansprüche anzusehen sei, der dann auf seine Vereinbarkeit mit dieser Regel geprüft werden müsse. Sie argumentierte, dass im vorliegenden Fall der Anspruchsgegenstand und damit die Erfindung im Sinne dieser Regel eine menschliche embryonale Stammzellen umfassende Zellkultur sei und nicht ein Verfahren zur Herstellung der Zellkultur von menschlichen embryonalen Stammzellen, das am Anmeldetag zugegebenermaßen - wie auch in der Anmeldung beschrieben - zwangsläufig die Zerstörung des menschlichen Embryos umfasst hätte, aus dem die embryonalen Stammzellen gewonnen worden wären.
38. In ihrer Entscheidung hielt die Prüfungsabteilung diesem Argument entgegen, dass sich Regel 23d c) EPÜ ihrem Wortlaut nach - ebenso wie Artikel 53 a) EPÜ - nicht ausschließlich auf den Anspruchsgegenstand beziehe, sondern vielmehr auf die Erfindung generell, die im vorliegenden Fall - wie in der Anmeldung offenbart - die Verwendung menschlicher Embryonen als Ausgangsmaterial und als einen für die Erzeugung menschlicher embryonaler Stammzellkulturen unerlässlichen Bestandteil der Erfindung betreffe (Nr. 10 der Entscheidungsgründe).
39. Zu diesem Punkt merkt die Kammer Folgendes an: Selbst wenn die Beschwerdeführerin Recht hätte mit ihrer Annahme, dass die Prüfung auf Vereinbarkeit mit der Regel 23d c) EPÜ der beanspruchten Erfindung gelten müsse, und nicht einem Gegenstand, der, ohne beansprucht zu werden, in der Anmeldung beschrieben wird, bedeutet das nicht, dass der Begriff "Verwendung" in Regel 23d c) EPÜ als Hinweis auf die Anspruchskategorie auszulegen wäre.
40. Die Kategorie eines Anspruchs (Verfahren/Verwendung oder Erzeugnis/Vorrichtung) wirkt sich auf die aus dem Patent erwachsenden Schutzrechte aus (Art. 64 EPÜ) und kann ferner die Beurteilung der Neuheit und erfinderischen Tätigkeit beeinflussen. Die Abfassung von Ansprüchen unterschiedlicher Kategorien ist innerhalb der Grenzen des Artikels 82 EPÜ allgemein zulässig, damit dem Anmelder gegenüber seinen Konkurrenten optimaler Schutz zuteil wird.
41. Der Kammer erscheint die Anspruchskategorie als solche aber nicht von Belang, wenn ethische Einwände gegen die Verwertung der dem Anspruchsgegenstand zugrunde liegenden Technologie in Form eines Patentierungsausschlusses rechtlich verankert sind. Das wollte vermutlich auch die Prüfungsabteilung ausdrücken.
Zur Entstehungsgeschichte von Artikel 6 (2) c) der Richtlinie und den Konsequenzen für Regel 23d c) EPÜ
42. Was die Bedeutung des Artikels 6 (2) c) der Richtlinie angeht, von dem Regel 23d c) EPÜ abgeleitet ist, so bezweifelt die Kammer, dass der europäische Gesetzgeber sich an Anspruchskategorien orientiert hat, als er den Buchstaben c des Artikels 6 (2) formulierte und damit "die Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken" von der Patentierbarkeit ausschloss. Wahrscheinlicher erscheint, dass er das Wesen der Erfindungen definieren wollte, die nicht patentierbar sein sollten.
43. Nach Auffassung der Kammer ist der von der Beschwerdeführerin gezogene Vergleich mit dem Wortlaut des Buchstaben d des Artikels 6 (2) der Richtlinie nicht stichhaltig, weil jeder der Buchstaben a bis d dieses Artikels eine eigene Entstehungsgeschichte hat und seiner Abfassung eigene Vorbilder in der früheren Gesetzgebung oder gegebenenfalls Rechtsprechung zugrunde lagen. Daher bezweifelt die Kammer, dass sich die richtige Auslegung des Artikels 6 (2) c) der Richtlinie (und damit der Regel 23d c) EPÜ) aus einem Vergleich mit dem Wortlaut des Buchstaben d ableiten lässt.
44. Buchstabe d betrifft einen Gegenstand, der sich von dem der übrigen Buchstaben des Artikels 6 (2) grundlegend unterscheidet, nämlich die Patentierung genetisch veränderter Tiere. Die Wortwahl des Buchstaben d scheint in gewisser Weise auf den Wortlaut des Artikels 53 b) EPÜ (wenngleich in einem anderen Kontext) und die in der Entscheidung T 19/90 (a. a. O.) entwickelten Grundsätze zurückzugehen. Ursprünglich fand er sich mit einem etwas anderen Wortlaut in Artikel 9 (2) b) des Vorschlags der Europäischen Kommission (Dokument D19), den diese am 25. Januar 1996 vorgelegt hatte, nachdem ihr erster Vorschlag gescheitert war. Er beruhte also auf Überlegungen, die damals von den politischen Entscheidungsträgern schon seit Langem öffentlich debattiert wurden.
45. Der Buchstabe c hingegen war im zweiten Vorschlag der Kommission nicht enthalten, sondern wurde vom Europäischen Parlament praktisch in letzter Minute in den Entwurf aufgenommen. Nach der ersten Lesung im Parlament hatte der Ausschuss für Recht und Bürgerrechte des Europäischen Parlaments in seinem Bericht vom 25. Juni 1997 (DOC_EN\RR\330\330382, Dokument D21) vorgeschlagen, den Buchstaben c - damals noch in einer etwas anderen Fassung - in Artikel 6 der Richtlinie aufzunehmen. Er wurde dann in einer legislativen Entschließung des Europäischen Parlaments (KOM(95)0661 - C4-0063/96 - 95/0350 (COD), ABl. C 286, 22. September 1997, S. 87) als Änderung zum Richtlinienentwurf unterbreitet und von der Kommission so in die geänderte Fassung ihres Vorschlags übernommen (ABl. C 311, 11. Oktober 1997, S. 12), schließlich aber im gemeinsamen Standpunkt, auf den sich der Rat am 27. November 1997 politisch geeinigt hat, erneut geändert und in die heutige Fassung gebracht (Bulletin EU 11-1997, Binnenmarkt (19/24)).
46. Offenbar wurde der Wortlaut des Artikels 6 (2) c) also im Wesentlichen von den politisch verantwortlichen Legislativorganen bestimmt, die wohl kaum in Patentanspruchskategorien gedacht haben dürften (vgl. z. B. Erwägungsgrund 38 der Richtlinie: "Verfahren, deren Anwendung"), sondern sicherstellen wollten, dass Technologien, bei denen menschliche Embryonen für als ethisch unvertretbar erachtete Zwecke verwendet werden, als solche von der Patentierbarkeit ausgeschlossen werden (vgl. dazu den Erwägungsgrund 42 der Richtlinie).
47. Zudem lässt der oben dargelegte zeitliche Ablauf erkennen, dass die Aufnahme des Buchstaben c in den Artikel 6 sowie seine Abfassung innerhalb sehr kurzer Zeit erfolgt sind und, wichtiger noch, zu einem Zeitpunkt, als ein überaus starkes Interesse an der Verabschiedung der Richtlinie bestand, das weitere langwierige redaktionelle Debatten ausschloss.
48. Die Beschwerdeführerin brachte ferner vor, dass zu dem Zeitpunkt, als Buchstabe c in den Artikel 6 aufgenommen wurde, die Verwendung menschlicher Embryonen zur Gewinnung menschlicher embryonaler Stammzellen bereits bekannt gewesen sei. Dass sie in der Richtlinie keine ausdrückliche Erwähnung finde, und sei es nur in einem der Erwägungsgründe, deute darauf hin, dass der Gesetzgeber sie nicht von der Patentierbarkeit habe ausschließen wollen.
49. In der Stellungnahme Nr. 9 der Beratergruppe für Fragen der Ethik in der Biotechnologie bei der Europäischen Kommission vom 28. Mai 1997 (Dokument D29) findet sich ein vager Hinweis auf Stammzellen im Zusammenhang mit Anmerkungen zu Forschungen über die Übertragung menschlicher Zellkerne (Klonierungstechniken). Unter der Überschrift "Anwendungen im Humanbereich" heißt es dort unter Nummer 1.18: "Allerdings könnten Forschungen über die Zellkernübertragung therapeutisch von großer Bedeutung sein, wie beispielsweise die Entwicklung geeigneter Stammzellkulturen für die Reparatur menschlicher Organe". Diese ungenau formulierte Textstelle scheint darauf hinzudeuten, dass die Berater noch keine klare Vorstellung davon hatten, ob und wie solche Techniken in der Praxis genutzt werden könnten.
50. Obwohl die vorliegende Patentanmeldung bereits im Juli 1996 veröffentlicht wurde, erschien nach dem eigenen Vorbringen der Beschwerdeführerin der erste wissenschaftliche Bericht über die erfolgreiche Erzeugung einer menschlichen embryonalen Stammzelllinie, zu dessen Autoren auch der Erfinder der Streitanmeldung zählt, im November 1998, also nach Verabschiedung der Richtlinie (und zwar in der Fach- und nicht in der allgemeinen Presse; Dokument D16). Dass die Verwendung menschlicher Embryonen in der Richtlinie nicht ausdrücklich erwähnt ist, erscheint somit in Anbetracht der Sachlage zum Zeitpunkt der Abfassung der Richtlinie unerheblich.
51. Zudem ist es ein allgemein anerkannter Grundsatz, dass sich die Bedeutung einer Rechtsvorschrift nicht auf die speziellen Fälle beschränkt, die der Gesetzgeber bei Abfassung der Vorschrift vor Augen hatte (G 1/98, a. a. O., Nr. 5.3 der Entscheidungsgründe).
Dritte Frage an die Große Beschwerdekammer
52. Die Frage lautet:
"Falls die Frage 1 oder 2 verneint wird, verbietet Artikel 53 a) EPÜ die Patentierung solcher Ansprüche?"
53. Die Beschwerdeführerin hat eingeräumt, dass die etwaige Nichtanwendbarkeit der Regel 23d c) EPÜ nicht zwangsläufig verhindert, dass der beanspruchte Gegenstand nach Artikel 53 a) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgeschlossen sein kann.
54. Die Auslegung dieser Vorschrift war Gegenstand mehrerer Entscheidungen der Beschwerdekammern, vornehmlich auf dem Gebiet der Biotechnologie (T 19/90, T 315/03 (Tiere), T 356/93 (Pflanzen), T 272/95 (menschliche Gene), a. a. O.), der Kammer ist jedoch nur eine Entscheidung der Großen Beschwerdekammer zu dieser Frage bekannt, nämlich die Entscheidung G 1/98 (a. a. O., Nr. 3.3.3 der Entscheidungsgründe).
55. Die Beschwerdeführerin hat vorgebracht, dass der in der Entscheidung T 19/90 (a. a. O.) angewandte "Abwägungstest" für die Patentierung von Tieren auch auf den vorliegenden Fall Anwendung finden sollte. Die Kammer bezweifelt jedoch, dass es, wenn es um menschliches Leben geht, ethisch vertretbar wäre, eine Entscheidung zu treffen, bei der abgewogen wird zwischen den Interessen von Menschen, die potenziell vom Einsatz der Technologie profitieren könnten, und einem etwaigen Recht menschlicher Embryonen (unabhängig davon, ob sie bereits als menschliche Wesen gelten können oder nicht) auf Leben bzw. darauf, nicht zum Nutzen anderer zerstört zu werden.
56. Dem hat die Kammer nichts weiter hinzuzufügen, außer dass sie Zweifel an dem von der Beschwerdeführerin vertretenen Standpunkt hegt.
Vierte Frage an die Große Beschwerdekammer
57. Die Frage lautet:
"4. Ist es im Rahmen der Fragen 2 und 3 von Bedeutung, dass nach dem Anmeldetag dieselben Erzeugnisse auch ohne Rückgriff auf ein Verfahren hergestellt werden konnten, das zwangsläufig die Zerstörung menschlicher Embryonen umfasst (hier: z. B. Gewinnung aus vorhandenen menschlichen embryonalen Zelllinien)?"
58. Die Beschwerdeführerin hat vorgebracht, dass der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung, ob die beanspruchten Erzeugnisse ohne Zerstörung menschlicher Embryonen hergestellt werden könnten, der Tag sei, an dem über die Patentierbarkeit des Gegenstands entschieden werde. Zudem hält sie es für relevant, dass sich seit Abfassung und Inkrafttreten der Richtlinie die Einstellung zur Nutzung menschlicher Stammzellen und den einschlägigen Technologien zum Positiven wandle.
59. Die Kammer versteht dieses Vorbringen so, dass - anders als bei den allgemeinen Patentierbarkeitserfordernissen der Artikel 83, 54 oder 56 EPÜ - für die Beurteilung, ob der beanspruchte Gegenstand eine Erfindung betrifft, die unter Regel 23d c) EPÜ fällt oder deren Verwertung im Sinne des Artikels 53 a) EPÜ gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstoßen würde, die bei Ergehen der Entscheidung vorherrschende Sach- und Rechtslage maßgeblich sein soll.
60. In der Entscheidung T 315/03 (a. a. O.) wurde bezüglich der Anwendung der Regel 23d und des Artikels 53 a) EPÜ das Gegenteil festgestellt (Leitsätze IV und VI.4). Dort kam die Kammer zu dem Schluss, dass die Prüfung eines "sich eigentlich auf Regel 23d d) EPÜ beziehenden" oder eines "echten" Einwands nach Artikel 53 a) EPÜ zum Anmelde- oder Prioritätstag zu erfolgen habe; danach bekannt werdendes Beweismaterial könne berücksichtigt werden, sofern es sich auf die Sachlage an diesem Tag beziehe.
61. Die Große Beschwerdekammer wird darüber zu entscheiden haben, ob dieser Ansatz richtig ist, sofern sich diese Frage in Anbetracht ihrer Antworten auf die vorangehenden Fragen 1 bis 3 als relevant erweist.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Der Großen Beschwerdekammer werden folgende Fragen vorgelegt:
1. Ist Regel 23d c) EPÜ auf eine Anmeldung anzuwenden, die vor dem Inkrafttreten der Regel eingereicht wurde?
2. Falls die Frage 1 bejaht wird, verbietet Regel 23d c) EPÜ die Patentierung von Ansprüchen auf Erzeugnisse (hier: menschliche embryonale Stammzellkulturen), die - wie in der Anmeldung beschrieben - zum Anmeldezeitpunkt ausschließlich durch ein Verfahren hergestellt werden konnten, das zwangsläufig die Zerstörung der menschlichen Embryonen umfasst, aus denen die Erzeugnisse gewonnen werden, wenn dieses Verfahren nicht Teil der Ansprüche ist?
3. Falls die Frage 1 oder 2 verneint wird, verbietet Artikel 53 a) EPÜ die Patentierung solcher Ansprüche?
4. Ist es im Rahmen der Fragen 2 und 3 von Bedeutung, dass nach dem Anmeldetag dieselben Erzeugnisse auch ohne Rückgriff auf ein Verfahren hergestellt werden konnten, das zwangsläufig die Zerstörung menschlicher Embryonen umfasst (hier: z. B. Gewinnung aus vorhandenen menschlichen embryonalen Zelllinien)?
Anlage 1
-------
Verzeichnis der in diesem Beschwerdeverfahren angezogenen Dokumente
(D1) Ariff Bongso et al., Human Reproduction, Bd. 9, Nr. 11, 1994, S. 2110 bis 2117
(D2) Benjamin E. Reubinoff et al., Nature Biotechnology, Bd. 18, April 2000, S. 399 bis 404
(D3) Ausdruck vom 13. Mai 2005 aus der Website http://escr.nih.gov/
(D4) Gemeinsamer Standpunkt (EG) Nr. 19/98, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, 8. April 1998, S. C 110/17 bis C 110/34
(D5) Richtlinie 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, 30. Juli 1998, S. L 213/13 bis L 213/21
(D6) Erklärung des Europäischen Patentamts zur Entschließung des Europäischen Parlaments vom 4. Oktober 2001 zu der Patentierung der Gene BRCA1 und BRCA2 ("Brustkrebsgene"), Dokument CA/145/01, 17. Oktober 2001
(D7) Entscheidung T 356/93, ABl. EPA 1995, 545
(D8) Entscheidung G 1/98, ABl. EPA 2000, 111
(D9) Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung vom 21. Juli 2003 über das europäische Patent Nr. 0 695 351
(D10) Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung vom 16. Januar 2003 über das europäische Patent Nr. 0 169 672
(D11) Dokument unbekannten Ursprungs mit dem Titel "Stem Cells: A Primer / National Institutes of Health" vom September 2002
(D12) Undatiertes Dokument unbekannten Ursprungs mit dem Titel "Executive summary"
(D13) Ausdruck vom 4. November 2003 aus der Website http://europa.eu.int/comm/research/quality-of-life/stemcells/about.html
(D14) Stellungnahme Nr. 15 der Europäischen Gruppe für Ethik der Naturwissenschaften und der Neuen Technologien der Europäischen Kommission, 14. November 2000, S. 1 bis 20
(D15) James A. Thomson et al., Proc. Natl. Acad. Sci. USA, Bd. 92, August 1995, S. 7844 bis 7848
(D16) James A. Thomson et al., Science, Bd. 282, 6. November 1998, S. 1145 bis 1147
(D17) Lori P. Knowles, Nature Biotechnology, Bd. 22, Nr. 2, Februar 2004, S. 157 bis 163
(D18) Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, Dokument KOM (2002) 545 endg., 7. Oktober 2002
(D19) Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen, Dokument 96/C 296/03, KOM (95) 661 endg. - 95/0350 (COD), Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, 8. November 1996, S. C 296/4 bis C 296/10
(D20) Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum "Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen", Dokument 96/C 295/03, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, 7. Oktober 1996, S. C 295/11 bis C 295/17
(D21) Bericht des Ausschusses für Recht und Bürgerrechte zum "Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen", Dokument DOC_EN\RR\330\330382, 25. Juni 1997, S. 1 bis 73
(D22) Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung vom 16. August 2001 über das europäische Patent Nr. 0 322 240/88312222.8, wie in E.P.O.R., Ausg. 1, Sweet & Maxwell Limited, S. 16 bis 23 veröffentlicht
(D23) Ausdruck vom 26. April 2004 aus der Website http://www.eel.nl/cases/HvJEG/698j0377ag.htm betreffend die Schlussanträge von Generalanwalt Jacobs vom 14. Juni 2001, S. 1 bis 37
(D24) Urteil des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache C-377/98 vom 9. Oktober 2001, S. 1 bis 12
(D25) Studie über Stellungnahmen nationaler Ethikausschüsse und ähnlicher Gremien, öffentliche Debatten und nationale Gesetzgebung zur Forschung an und zur Verwendung von menschlichen embryonalen Stammzellen, Bd. I, herausgegeben von Line Matthiessen-Guyader, Juli 2004, S. 1 bis 87
(D26) Stellungnahme Nr. 8 der Beratergruppe für Fragen der Ethik in der Biotechnologie bei der Europäischen Kommission, 25. September 1996
(D27) Entscheidung T 320/87, ABl. EPA 1990, 71
(D28) Entscheidung T 19/90, ABl. EPA 1990, 476
(D29) Stellungnahme Nr. 9 der Beratergruppe für Fragen der Ethik in der Biotechnologie bei der Europäischen Kommission, 28. Mai 1997