J 0003/90 (Poststreik) 30-04-1990
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1. Regel 85 (2) EPU trifft nicht nur auf landesweite Störungen der Postzustellung zu (in Ubereinstimmung mit J 11/88, ABl. EPA 1989, 433).
2. Nach Artikel 113 (1) EPU dürfen Entscheidungen des EPA nur auf Gründe gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Das EPA verstößt gegen diesen Grundsatz, wenn es bei Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen (Art. 114 (1) EPU) die Beteiligten nicht ausführlich über die angestellten Ermittlungen und ihre Ergebnisse unterrichtet und ihnen nicht anschließend - vor Ergehen der Entscheidung - ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme gibt.
3. Ermittelt das EPA gemäß Artikel 114 (1) EPU den Sachverhalt von Amts wegen, so hat es hierbei völlig objektiv vorzugehen.
Postzustellung - allgemeine Unterbrechung
Rechtliches Gehör
I. Die europäische Patentanmeldung Nr. 88 311 543.8 wurde vom englischen Vertreter der Beschwerdeführerin, der seinen Geschäftssitz in Nottingham, Vereinigtes Königreich, hat, beim britischen Patentamt eingereicht, das ihr als Anmeldetag den 6. Dezember 1988 zuerkannte. In der Anmeldung wurde die Priorität der am 4. Dezember 1987 eingereichten US-Anmeldung Nr. 129 005 in Anspruch genommen. Da der 4. Dezember 1988 auf einen Sonntag fiel, erstreckte sich das Prioritätsjahr auf Montag, den 5. Dezember 1988 (R. 85 (1) EPU).
II. In seinem Schreiben vom 20. Dezember 1988 vertrat der Vertreter die Auffassung, daß in der Anmeldung das Prioritätsrecht nach Artikel 87 (1) EPU in Anspruch genommen werden dürfe, obwohl der Anmeldetag einen Tag nach Ablauf der Prioritätsfrist liege. Er begründete dies mit einer Störung der Postzustellung im Vereinigten Königreich, auf die seines Erachtens Regel 85 (2) EPU zutreffe. Ferner wies er darauf hin, daß er die Anmeldung am Nachmittag des 2. Dezember 1988 durch einen privaten Kurierdienst abgeschickt habe. Infolge eines Versehens sei die Anmeldung aber erst am Dienstag, den 6. Dezember 1988 zugestellt worden. In einem zweiten Schreiben desselben Datums bat der Vertreter um eine Mitteilung des Präsidenten des Europäischen Patentamts nach Regel 85 (2) EPU des Inhalts, daß die Frist für Beteiligte, die ihren Wohnsitz oder Sitz im Vereinigten Königreich haben oder einen Vertreter mit Geschäftssitz in diesem Staat bestellt haben, bis mindestens 6. Dezember 1988 verlängert wird.
III. Das Europäische Patentamt stellte daraufhin Ermittlungen in der Sache an. Mit Schreiben vom 12. Januar 1989 wurde das britische Patentamt unter Bezugnahme auf ein kürzlich geführtes Telefongespräch um Informationen zu dem angeblichen Poststreik im Raum Nottingham gebeten. In diesem Schreiben der Rechtsabteilung wurde auf Beweismaterial verwiesen, aus dem hervorzugehen scheine, daß es sich nur um einen örtlich begrenzten Streik gehandelt habe. Quelle und Inhalt dieses Beweismaterials wurden nicht genannt. Das britische Patentamt wurde um eine Bestätigung gebeten, daß es nicht amtlich verlautbaren könne, bei dem Streik habe es sich um eine "allgemeine Unterbrechung" gehandelt. Sollte sich aber herausstellen, daß der Streik die Bedingungen für eine Verlängerung von Fristen erfülle, so benötige die Rechtsabteilung Angaben über seine genaue Dauer und insbesondere darüber, ob der vom britischen Patentamt genannte Zeitraum vom 18. November bis 1. Dezember auch die anschließende Störung der Postzustellung einschließe.
IV. Mit Schreiben vom 17. Februar 1989 erklärte das britische Patentamt durch seinen Assistant Comptroller, daß es nach Regel 111 (1) PatG 1977 eine entsprechende Bescheinigung für den Zeitraum vom 18. November bis 6. Dezember 1988 ausgestellt hätte, wenn es sich um eine nationale Anmeldung gehandelt hätte.
V. Ferner teilte die britische Post dem Europäischen Patentamt mit Schreiben vom 26. April 1989 und 4. Juli 1989 mit, daß zwischen dem 16. November 1988, 16.00 Uhr und dem 24. November 1988, 22.00 Uhr im Bezirkspostamt Nottingham ohne Vorankündigung ein örtlicher wilder Streik von Postbediensteten stattgefunden habe. Die Post bestätigte, daß in der Innenstadt Nottinghams Briefkästen geschlossen, rund 6 Meilen außerhalb der Innenstadt aber Briefkästen und kleinere Verteilerpostämter in Betrieb gewesen seien und daß bestimmte Bezirke außerhalb Nottinghams, deren Post in der Regel über Nottingham laufe, während des Streiks sämtliche Post selbst weiterbefördert hätten. Ferner wies die Post darauf hin, daß sie nur einen stark eingeschränkten Dienst habe bieten können; beispielsweise seien "First-class- Briefsendungen" den Empfängern erst nach vier bis fünf Tagen zugestellt worden. Aus den Antwortschreiben der Post geht nicht hervor, wie lange die Postzustellung anschließend gestört war.
VI. In der angefochtenen Entscheidung vom 25. August 1989 bezieht sich die Eingangsstelle des Europäischen Patentamts auf das Schreiben des britischen Patentamts vom 17. Februar 1989 sowie auf den Schriftwechsel mit der britischen Post, der der Entscheidung beigefügt ist. Die Eingangsstelle schloß aus den vorliegenden Informationen, daß es sich nicht um eine allgemeine Unterbrechung der Postzustellung im Sinne der Regel 85 (2) EPU gehandelt habe; sie verwies insbesondere darauf, daß die Unterbrechung auf einen relativ kleinen geographischen Bereich beschränkt gewesen sei, daß ihr Ausmaß der Öffentlichkeit vom Beginn des Streiks an bekannt gewesen sei und daß die Unterbrechung drei Wochen vor dem entscheidenden Datum des 5. Dezember 1988 begonnen habe. Nach Auffassung der Eingangsstelle wäre es für den Vertreter ein leichtes gewesen, den Streik bei Beachtung der angemessenen Sorgfalt zu umgehen. In der Entscheidung wurde ein Antrag auf mündliche Verhandlung mit der Begründung abgelehnt, ein solches Verfahren sei nicht sachdienlich (Art. 116 (2) EPU). Schließlich hieß es in der Entscheidung, daß die Anmeldung wegen des Verlusts der Priorität nach Ablauf von 18 Monaten, gerechnet vom 6. Dezember 1988 an, veröffentlicht werde.
VII. Während des Verfahrens, das zu der angefochtenen Entscheidung führte, machte das Europäische Patentamt die Beschwerdeführerin am 14. Juni 1989 in einer Mitteilung nach Regel 41 (3) EPU darauf aufmerksam, daß der Prioritätstag (4. Dezember 1987) nicht mehr innerhalb des Prioritätsjahrs liege. Der Beschwerdeführerin wurde mitgeteilt, daß unrichtige Angaben innerhalb eines Monats nach Zustellung der Mitteilung berichtigt werden könnten. Werde der genannte Mangel nicht beseitigt, so führe dies zum Verlust des Prioritätsrechts. Dieser Mitteilung (EPA Form 1051) war ein Blatt mit Informationen über eine Verlängerung der Frist für die Inanspruchnahme einer Priorität nach Artikel 87 (1) EPU beigefügt. Es wurde ferner auf das Schreiben des britischen Patentamts vom 17. Februar 1989 (vgl. Nr. IV) verwiesen. Da es sich nach Auffassung des Europäischen Patentamts nicht um eine allgemeine Unterbrechung gehandelt habe, werde die Anmeldung erst nach Ablauf von 18 Monaten, gerechnet vom 6. Dezember 1988 an, veröffentlicht. Erwähnt wurden außerdem die Auskünfte der Postbehörde in Nottingham, ohne daß jedoch ihr Inhalt näher angegeben wurde. Die Beschwerdeführerin wurde nicht aufgefordert, sich zu diesen Feststellungen des EPA zu äußern.
VIII. Die Beschwerdeführerin brachte in ihrem Schreiben vom 26. Juni 1989 unter Bezugnahme auf die Mitteilung vom 14. Juni 1989 vor, daß die Erklärung des Assistant Comptroller vom 17. Februar 1989 die Annahme des EPA, es habe sich nicht um eine allgemeine Unterbrechung gehandelt, nicht bestätige. Sie verwies auch auf fortgesetzte Arbeitskonflikte in verschiedenen regionalen Postämtern im gesamten Vereinigten Königreich. Die Beschwerdeführerin beantragte die nochmalige Prüfung der Angelegenheit, die Zulassung einer Fristverlängerung nach Regel 85 (2) EPU, die Veröffentlichung der Anmeldung nach Ablauf von 18 Monaten nach dem beanspruchten Prioritätstag und schließlich eine mündliche Verhandlung vor Ergehen einer für sie nachteiligen Entscheidung.
IX. In ihrer Entscheidung vom 25. August 1989 wies die Eingangsstelle die Anträge der Beschwerdeführerin zurück; sie blieb beim 6. Dezember 1988 als Anmeldetag, verweigerte die beanspruchte Priorität und erklärte, bei dem Poststreik habe es sich nicht um eine allgemeine Unterbrechung der Postzustellung im Sinne der Regel 85 (2) EPU gehandelt.
X. Am 9. Oktober 1989 legte die Beschwerdeführerin Beschwerde ein und reichte am 3. Januar 1990 eine Begründung ein. Die entsprechende Gebühr wurde am 16. Oktober 1989 entrichtet. Die Beschwerdeführerin beantragt die Aufhebung der Entscheidung vom 25. August 1989, die Wiedereinsetzung in die beanspruchte Priorität und die Rückzahlung der Beschwerdegebühr. Zur Stützung ihrer Anträge bringt sie im wesentlichen folgendes vor: Sie könne der in der Entscheidung vertretenen Auffassung zustimmen, daß die Unterbrechung der Postzustellung vom 16. November bis 6. Dezember 1988 gedauert habe, obwohl ihrer Auffassung nach die Auswirkungen bis mindestens 7. Dezember andauerten. Der einzige Meinungsunterschied betreffe die Frage, ob es sich bei dieser Unterbrechung und anschließenden Störung um eine "allgemeine" Unterbrechung der Postzustellung im Sinne der Regel 85 (2) EPU gehandelt habe. Die Erklärung des Assistant Comptroller liefere prima facie den Beweis für das Vorliegen einer allgemeinen Unterbrechung und anschließenden Störung. Für Beteiligte mit Wohnsitz oder Sitz im Vereinigten Königreich wäre es unbefriedigend, wenn das EPA die Regel 85 (2) EPU anders auslegen würde als das britische Patentamt die (in allen wichtigen Punkten mit der Regel 85 (2) EPU identische) Regel 111 (1) PatG 1977. Verwiesen werde ferner auf die Entscheidung J 11/88; in jenem Fall habe der Kammer eine Erklärung des Assistant Comptroller des britischen Patentamts vorgelegen, die genauso abgefaßt gewesen sei wie die Verlautbarung im vorliegenden Fall; die Kammer habe damals die Ansicht geäußert, daß dies eine zuverlässige, eindeutige amtliche Erklärung sei, die den Präsidenten des Amts zu einer Mitteilung nach Regel 85 (2) EPU veranlaßt hätte. Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Eingangsstelle lege zu Unrecht den Maßstab der angemessenen Sorgfalt an, der sie zu der Schlußfolgerung führe, es habe sich nicht um einen Streik im Sinne der Regel 85 (2) EPU gehandelt. Das gleiche Verfahren - den Rückgriff auf ein anderes Beförderungsmittel - hätte man nämlich auch bei einer landesweiten Unterbrechung anwenden können. Die Entscheidung des britischen Patentgerichts in der Sache Omron Tateisi zeige, daß ein Arbeitskonflikt bei der Post nicht landesweit zu sein brauche, um als Unterbrechung der Postzustellung nach Regel 111 (1) PatG 1977 zu gelten. Die Beschwerdekammer habe in ihrer Entscheidung J 11/88 unter Nummer 7 darauf hingewiesen, daß sie die Entscheidung in der Sache Omron Tateisi bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt habe. Ein zugelassener Vertreter in Nottingham hätte nichts unternehmen können, um die Auswirkungen der Unterbrechung zu umgehen. Zur Stützung dieser Ausführungen legte die Beschwerdeführerin ihren Schriftwechsel mit der britischen Post und verschiedene Zeitungsartikel vor, die das Ausmaß der Störung beweisen sollten. Zu ihrem Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr führt die Beschwerdeführerin aus, daß ihr nie eine Kopie des Schreibens der britischen Post vom 4. Juli 1989, auf das ihrem Eindruck nach die Entscheidungsgründe nahezu vollständig gestützt worden seien, übermittelt worden sei. Die Eingangsstelle habe durch die Mißachtung des Artikels 113 (1) EPU ihres Erachtens einen wesentlichen Verfahrensfehler begangen.
1. Die Beschwerde ist zulässig. Regel 85 (2):
2. Die Juristische Beschwerdekammer hat in ihrer Entscheidung J 4/87 "Elton" (ABl. EPA 1988, 172) festgestellt, daß das EPA im Falle einer unvorhergesehenen Verzögerung bei der Postzustellung, die eine Fristversäumung zur Folge hat, nicht zu einer Fristverlängerung befugt ist, wenn diese nicht unter Regel 85 (2) EPU fällt. Bei der im vorliegenden Fall zu entscheidenden Sachfrage geht es deshalb darum, ob die Umstände von Rechts wegen eine Fristverlängerung nach Regel 85 (2) EPU gestatten.
3. Hinsichtlich des Sachverhalts teilt die Kammer die Auffassung, daß die Postzustellung im Raum Nottingham (hier: in den Innenstadtbezirken Nottinghams) vom 18. November bis einschließlich 6. Dezember 1988 unterbrochen und im Anschluß daran gestört war.
4. Festzustellen bleibt noch, ob diese Unterbrechung ihrer Art nach eine allgemeine Unterbrechung war. Zu diesem Punkt hat die Beschwerdeführerin auf die Entscheidung J 11/88 "Leyland Stanford" (ABl. EPA 1989, 433) verwiesen. Die Juristische Beschwerdekammer hatte in diesem Fall erklärt, daß die Frage nach der Art einer Unterbrechung eine Tatfrage sei, die anhand aller verfügbaren glaubwürdigen Informationen entschieden werden müsse. Ferner war die Kammer zu dem Schluß gelangt, daß alle Fristen, die während der Dauer einer "allgemeinen Unterbrechung" oder Störung ablaufen, von Rechts wegen verlängert werden.
5. Der der Entscheidung J 11/88 zugrunde liegende Fall war insofern ähnlich gelagert wie der hier vorliegende, als in dem Bezirk, in dem der Vertreter der Beschwerdeführerin seinen Geschäftssitz hatte, Postbedienstete gestreikt hatten. Wie im vorliegenden Fall ging es um die Frage, ob ein Streik, der nicht landesweit ist, die Anwendung der Regel 85 (2) EPU auslösen kann. Ferner bestanden die der Kammer vorliegenden Beweismittel - hier wie dort - aus Erklärungen des britischen Patentamts und der britischen Post, in denen jeweils die Behauptungen der Beschwerdeführerin zu Ort und Dauer des Streiks bestätigt wurden, wobei der Assistant Comptroller zusätzlich erklärte, daß das britische Patentamt bescheinigt hätte, daß die Postzustellung allgemein unterbrochen war, wenn es sich um eine nationale Anmeldung gehandelt hätte.
6. Die Kammer stellte in der Entscheidung J 11/88 zunächst fest, daß das als Beweismittel dienende Schreiben des britischen Patentamts der ersten Instanz nicht vorgelegen habe. Dann fuhr sie fort: "Der Beschwerdekammer hingegen liegt es heute vor, und es hebt die Feststellung der Formalprüfungsstelle, es habe keine "allgemeine Unterbrechung" der Postzustellung im Sinne der Regel 85 (2) EPU gegeben, eindeutig auf." Die Entscheidung der ersten Instanz wurde aufgehoben und die Rückzahlung der Zuschlagsgebühr nach Regel 85b EPU angeordnet.
7. Bei dem der Juristischen Beschwerdekammer hier vorliegenden Fall geht es um eine Unterbrechung des Postdienstes in einem begrenzten Gebiet. Zur Vorgeschichte gehört die Tatsache, daß es im Vereinigten Königreich 1988 auch schon früher zu Streiks bei der Post gekommen war, was den Präsidenten des EPA zu einer Mitteilung nach Regel 85 (2) EPU für den Zeitraum vom 31. August bis 17. Oktober 1988 veranlaßt hatte (ABl. EPA 1988, 466).
8. Zusätzlich zu dem Beweismaterial, das der ersten Instanz im vorliegenden Fall zur Verfügung stand, hat die Beschwerdeführerin Erklärungen der britischen Post (vom Februar 1989 und 6. Dezember 1989) vorgelegt, denen zufolge es bei Briefsendungen einen Bearbeitungsrückstand gegeben habe, der bei "First-class- Briefsendungen" erst am 5. Dezember und bei "Second-class- Briefsendungen" erst am 8. Dezember abgebaut gewesen sei. Beigefügt war auch eine Ubersicht über diejenigen Gebiete, in denen im November und Dezember 1988 Arbeitskampfmaßnahmen stattgefunden hatten. Insgesamt sind in dieser Ubersicht 26 verschiedene Bezirke aufgeführt, wobei die Maßnahmen von der Verweigerung von Uberstunden bis zu ein- und mehrtägigen Streiks reichen; die längste Störung war im Raum Nottingham zu verzeichnen, wo zwischen dem 16. und dem 24. November gestreikt wurde, was zu 5 000 "Verlusttagen" (= Anzahl der während dieses Zeitraums nicht arbeitenden Personen) führte.
9. Aus Regel 85 (2) EPU geht nicht hervor, was unter dem Begriff "allgemein" zu verstehen ist. In Ubereinstimmung mit den Feststellungen in der Entscheidung J 11/88 können jedoch wohl nicht nur landesweite Unterbrechungen gemeint sein. Die Eingangsstelle macht geltend, daß nicht jede kleine lokale Störung zu einer Verlängerung von Fristen führen dürfe, da es sonst zu einer unzumutbaren Häufung von Verlängerungen kommen würde. Die Beschwerdekammer räumt zwar ein, daß Dritte ein Interesse daran haben, sich auf die Einhaltung von Fristen verlassen zu können, hält aber das Argument für unerheblich, daß es durch Streikserien zu einer Häufung von Fristverlängerungen dieser Art kommen könnte. Bei jeder Störung allgemeiner Art verlängerten sich nun einmal die betreffenden Fristen von Rechts wegen. Es geht auch nicht allein darum, ob eine Störung geringfügig oder - geographisch gesehen - örtlich begrenzt war. Zu entscheiden ist vielmehr, ob die Unterbrechung der Postzustellung die Bewohner des betreffenden Gebiets dergestalt beeinträchtigt hat, daß von einer allgemeinen Unterbrechung gesprochen werden muß. In diesem Zusammenhang gilt es, eine Reihe von Faktoren zu berücksichtigen. Was den vorliegenden Fall anbelangt, so stellt die Kammer zunächst fest, daß sich der Geschäftssitz des Vertreters der Beschwerdeführerin im Postbezirk NG 1 befindet, d. h. in der Innenstadt Nottinghams, dem von den Streikmaßnahmen am meisten betroffenen Bezirk. Zweitens ist der Raum Nottingham dicht bevölkert und wirtschaftlich bedeutsam. Drittens besagt die Behauptung der Eingangsstelle, eine Unterbrechung im Raum London - insbesondere wenn dieser das Zustellgebiet sei - wäre als allgemein einzustufen, nicht zwangsläufig, daß Streiks, die andernorts die Postaufgabe beeinträchtigen, den obengenannten Gegebenheiten zufolge nicht auch als allgemein betrachtet werden können. Die Eingangsstelle bringt ferner vor, daß es sich nicht um einen allgemeinen Streik gehandelt haben könne, da sein Ausmaß der Öffentlichkeit von Beginn der Streikaktionen an bekannt gewesen sei. Die Eingangsstelle verweist in diesem Zusammenhang auf die Entscheidung J 11/88 und behauptet, daß dort der Vertreter von der Störung überrascht worden sei. Sie kommt zu dem Schluß, die Vertreter seien verpflichtet, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um örtliche Schwierigkeiten zu überwinden. Die Kammer vermag jedoch in dieser Entscheidung keinen Hinweis darauf zu finden, daß der Uberraschungseffekt maßgeblich gewesen wäre. Tatsächlich weist in der Entscheidung überhaupt nichts darauf hin, daß die Gebühr übermittelt wurde, als es zum Streik kam. Außerdem dürfte der Uberraschungseffekt wohl unerheblich sein für die Beantwortung der Frage, ob es sich um eine allgemeine Unterbrechung handelt. Wie die Beschwerdeführerin dargelegt hat - und wie auch in der angefochtenen Entscheidung eingeräumt wurde -, ist der Umstand, daß sie den Streik durch Inanspruchnahme eines privaten Kurierdienstes zu umgehen suchte, für die Frage nach Art und Umfang der Unterbrechung ohne Belang. Ob ein Vertreter den Auswirkungen des Streiks hätte ausweichen können, kann mithin für die Anwendung der Regel 85 (2) EPU kein Kriterium sein. Daß die Unterbrechung drei Wochen vor dem entscheidenden Datum des 5. Dezember 1988 begonnen hatte, ändert daran nichts. Nur dann, wenn die breite Öffentlichkeit von dem Streik nachweislich nicht betroffen war, könnte man sagen, es habe sich nicht um eine allgemeine Unterbrechung gehandelt. Die Eingangsstelle hat schließlich (ohne Vorlage entsprechender Beweise) behauptet, der Vertreter habe mit der Absendung der Anmeldung absichtlich bis 2. Dezember 1988 gewartet. Der Vertreter hat aber darauf hingewiesen, daß er dies nicht aus freien Stücken, sondern deshalb getan habe, weil er letzte Anweisungen seines Mandanten habe abwarten müssen; für die Beschwerdekammer besteht kein Anlaß, diese Behauptung anzuzweifeln.
10. Aus dem obigen Sachverhalt (Nr. 9) zieht die Kammer den Schluß, daß sich zwar nur schwerlich eine allgemeine Regel zur Abgrenzung des Begriffs "allgemein" aufstellen läßt, daß aber das begrenzte geographische Ausmaß der Störung nicht ausschließt, daß es sich um eine allgemeine Unterbrechung handelte. Die Erklärung des Assistant Comptroller ist ein zuverlässiger Hinweis dafür, daß die Unterbrechung tatsächlich insofern allgemein war, als sie ein bestimmtes Ausmaß hatte und nicht nur ein unbedeutendes Gebiet betraf. Zu prüfen ist allerdings ferner, ob die Unterbrechung die breite Öffentlichkeit betroffen hat. Ein Streik, der nur auf die Störung der Postzustellung bei speziell ausgewählten Empfängern ausgerichtet ist, wäre seiner Art nach kein allgemeiner Streik. Auch so gesehen hat es sich in Nottingham um einen allgemeinen Streik gehandelt. Aus dem Beweismaterial der britischen Post geht hervor, daß der Streik insofern weitreichende Auswirkungen hatte, als der Rückstand erst rund zwei Wochen nach Beendigung des Streiks abgebaut war und nur ein stark eingeschränkter Dienst mit Beförderungszeiten von rund vier Tagen für "First-class- Briefsendungen" angeboten werden konnte. Die Kammer kommt daher zu dem Schluß, daß eine allgemeine Unterbrechung mit anschließender Störung der Postzustellung im Sinne der Regel 85 (2) EPU gegeben war. Die Prioritätsfrist von 12 Monaten, gerechnet vom 4. Dezember 1987 an, verlängert sich somit von Rechts wegen bis zum 6. Dezember 1988. Artikel 113:
11. Nach Artikel 113 dürfen Entscheidungen des EPA nur auf Gründe gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Was den Schriftwechsel mit der britischen Post anbelangt, so hat die Beschwerdeführerin hiervon keine Abschriften erhalten. Es genügt für die Zwecke des Artikels 113 EPU nicht, wenn sie der Entscheidung lediglich beigefügt werden. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, daß nicht nur Informationen für das Amt, sondern auch schriftliche Anfragen des Amts für die Beteiligten von Bedeutung sein können und ihnen deshalb zugänglich gemacht werden sollten. Hinzu kommt, daß anscheinend kein schriftlicher Vermerk über den Inhalt von Telefongesprächen angefertigt wurde, obwohl man sich offensichtlich auch auf die so gewonnenen Informationen stützte. Inwieweit diese letztlich die Entscheidung beeinflußt haben, läßt sich nicht feststellen; es liegt jedoch auf der Hand, daß der Beteiligte in Ermangelung dieser Informationen unter Umständen den Zusammenhang und den Hintergrund ihm übersandter schriftlicher Informationen nicht verstehen und somit seinen Standpunkt auch nicht vollständig darlegen kann. Der Beschwerdeführerin wurde auch nicht Gelegenheit gegeben, sich innerhalb von zwei Monaten zu dem vom EPA gesammelten schriftlichen Beweismaterial zu äußern, obwohl sie in der Mitteilung nach Regel 41 (3) EPU vom 14. Juni 1989 über dessen Inhalt kurz unterrichtet worden war. Die Kammer stellt des weiteren fest, daß die Beschwerdeführerin angeboten hatte, Beweismaterial vorzulegen, das Amt jedoch auf dieses Angebot nicht einging. Schließlich geht aus dem Schreiben des Assistant Comptroller hervor, daß er dem Vertreter hiervon eine Abschrift zukommen ließ. In der Akte gibt es aber keinen Hinweis darauf, daß das Amt von sich aus ebenso verfuhr. Was den Schriftwechsel mit dem Assistant Comptroller anbelangt, so wurde er vom Amt um eine Bestätigung gebeten, "daß das britische Patentamt keine amtliche oder nichtamtliche Mitteilung ähnlichen Inhalts wie das obige Schreiben des Assistant Comptroller erlassen kann ..." (vgl. Sache J 11/88). Die Kammer weist darauf hin, daß eine Behörde bei amtlichen Ermittlungen völlig objektiv vorgehen sollte. Schließlich scheint die Eingangsstelle in der angefochtenen Entscheidung nicht berücksichtigt zu haben, daß der Assistant Comptroller seinen eigenen Angaben zufolge vor Beantwortung der Anfrage Ermittlungen anstellen ließ. Er entschuldigte sich sogar für die dadurch entstandene Verzögerung. Dennoch scheint die Eingangsstelle das vom Assistant Comptroller herangezogene Material nicht einmal geprüft zu haben, bevor sie seine Erklärung als unerheblich abtat.
12. Ist im Ubereinkommen oder in der Ausführungsordnung eine Frist vorgesehen, die vom Europäischen Patentamt zu bestimmen ist, so darf diese Frist nach Regel 84 EPU auf nicht weniger als zwei Monate festgesetzt werden. Dies gilt unter anderem für Aufforderungen, sich zu vorgebrachten Beweismitteln oder zu den Beteiligten übermittelten vorläufigen Stellungnahmen zu äußern. Das dem EPA-Formblatt 1051 beigefügte Blatt ist als eine solche vorläufige Stellungnahme anzusehen. Daß ein Beteiligter die Gelegenheit zu einer Stellungnahme nutzt, ohne hierzu aufgefordert worden zu sein, entbindet das Amt nicht von der Verpflichtung, dem Beteiligten rechtliches Gehör und ein ordnungsgemäßes Verfahren zuzusichern. Das Amt muß dafür sorgen, daß der betreffende Beteiligte die Möglichkeit erhält, alle entscheidungserheblichen Sachverhalte zu prüfen und gegebenenfalls dazu Stellung zu nehmen. Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdeführerin zwar Stellung genommen, aber sie war nicht in der Lage, sich zu allen im Besitz des Amts befindlichen Unterlagen zu äußern, von denen einige wichtige Bestandteile der Begründung zu der angefochtenen Entscheidung darstellten. Zusammenfassend stellt die Kammer fest, daß bei der Bearbeitung dieses Falls in der ersten Instanz wesentliche Verfahrensmängel aufgetreten sind. Die Beschwerdeführerin hat daher Anspruch auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die Entscheidung der Eingangsstelle wird aufgehoben und die Beschwerdeführerin in die beanspruchte Priorität vom 4. Dezember 1987 wiedereingesetzt.
2. Die Beschwerdegebühr ist zurückzuzahlen.