T 1788/06 09-10-2008
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Verfahren zum Steuern bwz. Regeln des Verhaltens eines Verbrennungsmotors
Neuheit (ja)
Wesentlicher Verfahrensfehler, Rückzahlung der Beschwerdegebühr (ja)
I. Die Prüfungsabteilung hat mit der Entscheidung vom 31. Juli 2006 die europäische Patentanmeldung 01 958 015.8 zurückgewiesen.
Sie war der Auffassung, dass der Gegenstand des Anspruches 1 gemäß dem Haupt- und den Hilfsanträgen 1 und 2 nicht neu sei, weil die Druckschrift DE-A-1 9757875 (D1) bei fachmännischer Interpretation alle Merkmale des Anspruchs 1 dieser Anträge in dieser Kombination offenbare. Die Erzeugung der Stellsignale in den einzelnen Entscheidungsebenen durch Zugriff auf vor dem Betrieb des Verbrennungsmotors vorgegebene Informationen in Form von Kennfeldern, stelle eine Selbstverständlichkeit dar.
Den Hilfsantrag 3 hat sie gemäß Regel 86 (3) EPÜ 1973 nicht zugelassen "da die Anmelderin hinreichend Gelegenheit hatte, die Ansprüche zu ändern, dabei wurde auch berücksichtigt, dass sich der Gegenstand des Anspruchs 1, Hilfsantrag 3 nur auf eine Agglomeration bekannter Maßnahmen bezieht".
II. Anspruch 1 des Hauptantrags hat folgenden Wortlaut:
"Verfahren zum Steuern bzw. Regeln des Verhaltens eines Verbrennungsmotors, wobei der Verbrennungsablauf innerhalb des Verbrennungsmotors überwacht und ausgewertet wird, und wobei anhand des Verbrennungsablaufs Stellsignale zur Beeinflussung des Verhaltens des Verbrennungsmotors (10) erzeugt werden, wobei die Stellsignale zur Beeinflussung des Verhaltens des Verbrennungsmotors (10) in verschiedenen Entscheidungsebenen (100 - 103) erzeugt werden, welche sich hinsichtlich der Dauer ihrer Überwachungszeiten, in denen die Verbrennung des Verbrennungsmotors (10) überwacht wird, ehe mindestens ein neues Stellsignal erzeugt wird, und/oder der Dauer ihrer Reaktionszeiten, mit denen in Form mindestens eines entsprechenden Stellsignals auf einen veränderten Verbrennungszustand des Verbrennungsmotors (10) reagiert wird, unterscheiden, dadurch gekennzeichnet, dass in den einzelnen Entscheidungsebenen (100 - 103) die Stellsignale durch Zugriff auf vor dem Betrieb des Verbrennungsmotors (10) vorgegebene Informationen, insbesondere in Form von Kennfeldern, erzeugt werden, wobei der Anteil dieser Informationen an der Erzeugung der Stellsignale mit abnehmender Überwachungszeit bzw. Reaktionszeit der Entscheidungsebenen (100 - 103) zunimmt."
Im kennzeichnenden Teil des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 1 wurde "insbesondere" vor "in Form von Kennfeldern" eingefügt und das folgende Merkmal hinzugefügt:
"wobei in einer Entscheidungsebene (103), welche die längste Überwachungszeit bzw. Reaktionszeit aufweist, eine Diagnose des Verbrennungsmotors (10) durchgeführt wird, um durch Beobachtung des Verhaltens des Verbrennungsmotors über einen längeren Zeitraum durch Alterung and Abnutzung bedingte Abweichungen zu erfassen und den Verbrennungsmotor (10) unter Berücksichtigung der geänderten Prozessbedingungen entsprechend nachzuführen."
Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 entspricht demjenigen des Hilfsantrags 1, wobei die Formulierung "und/oder" durch "und" ersetzt worden ist.
Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 entspricht demjenigen des Hilfsantrags 1, wobei das Merkmal, "dass der Verbrennungsablauf innerhalb des Verbrennungsmotors (10) durch Erfassung des in mindestens einem Zylinder (1) des Verbrennungsmotors (10) auftretenden Zylinderdrucks erfasst wird" hinzugefügt worden ist.
III. Gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung hat die Anmelderin am 18. September 2006 unter gleichzeitiger Entrichtung der Beschwerdegebühr Beschwerde eingelegt. Die Beschwerdebegründung ist am 9. November 2006 eingegangen.
IV. Die Beschwerdeführerin (Anmelderin) beantragte, die Entscheidung der Prüfungsabteilung aufzuheben und die Sache an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen. Darüber hinaus beantragte sie auch die Rückzahlung der Beschwerdegebühr wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels.
Sie argumentierte im Wesentlichen, dass der beanspruchte Gegenstand neu sei, weil Druckschrift D1 nur darauf abstelle, dass die Stellsignale berechnet werden. Deshalb werde das Merkmal, nach welchem Stellsignale durch Zugriff auf vor dem Betrieb des Verbrennungsmotors vorgegebene Informationen erzeugt werden, durch sie weder explizit noch implizit vorweggenommen. Außerdem hätte die Prüfungsabteilung gegen die Erfordernisse des Artikels 113 EPÜ 1973 verstoßen, weil sie den Hilfsantrag 3 nicht zum Verfahren zugelassen hat.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Neuheit (Haupt-, Hilfsanträge 1 und 2)
2.1 Im Hinblick auf die Neuheit des Gegenstandes des Anspruchs 1 dieser Anträge ist lediglich streitig, ob sich die kennzeichnenden Merkmale für den Fachmann aus Druckschrift D1 ergeben.
2.2 Offenbarungsgehalt der Druckschrift D1
2.2.1 Diese Druckschrift offenbart verschiedene Entscheidungsebenen. In einer ersten Ausführungsform (s. Fig. 1) werden sie als Funktionen bezeichnet, denen verschiedene Prioritäten zugeordnet sind, d.h. unterschiedliche Überwachungs- bzw. Reaktionszeiten. In einer zweiten Ausführungsform (s. Fig. 3) sind diese Entscheidungsebenen durch verschiedene Drehzahlbereiche bzw. den zeitlichen Abstand zur Durchführung der Funktionen A gekennzeichnet. In diesen Entscheidungsebenen werden Stellsignale durch Zugriff auf von den Sensoren gelieferte Informationen (s. Sp. 4, Z. 43 bis 49) erzeugt.
Dass diese Informationen vor dem Betrieb des Verbrennungsmotors vorgegeben worden sind, wie dies gemäß Anspruch 1 erforderlich ist, ist in dieser Druckschrift explizit nicht beschrieben. Explizit beschreibt sie lediglich, dass diese Informationen drehzahlabhängig, also während des Betriebes berechnet werden (siehe bspw. Spalte 5, Zeilen 24-37). Auch aus den zeitsynchronen Funktionen werden Stellsignale berechnet (s. bspw. Sp. 5, Z. 38 - 42).
2.2.2 Gemäß der gefestigten Rechtsprechung der Beschwerdekammern entnimmt ein Fachmann einer Druckschrift die dort unmittelbar und eindeutig offenbarten Sachverhalte. Dies schließt die dort ausdrücklich genannten Merkmale ein, aber auch die für ihn vom Inhalt miterfassten (d.h. impliziten) Merkmale (s. z.B. T 0511/92, erwähnt in "Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts", 5. deutsche Auflage, 2006, I.C.2.3.). Nach Auffassung der Kammer müssen sich solche impliziten Merkmale klar und eindeutig aus dem ergeben, was in der Druckschrift ausdrücklich angegeben ist (siehe auch T 823/96, erwähnt in "Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts", supra, III. A.2.1 Seite 304).
Bei der Klärung der Frage, ob die kennzeichnenden Merkmale aus dieser Druckschrift bekannt sind, kommt es nicht darauf an, ob der Zugriff auf vor dem Betrieb des Verbrennungsmotors vorgegebene Informationen in Form von Kennfeldern für den Fachmann eine Selbstverständlichkeit ist, wie die Prüfungsabteilung argumentiert, sondern nur darauf, ob der Fachmann unter den in Druckschrift D1 genannten "Berechnungen" klar und eindeutig auch einen Zugriff auf vor dem Betrieb des Verbrennungsmotors vorgegebene Informationen, bspw. in Form von Kennfeldern, verstünde.
Dazu hat die Prüfungsabteilung jedoch keinerlei Nachweise erbracht und solche sind der Kammer auch nicht ersichtlich.
2.2.3 Somit ist weder das erste kennzeichnende Merkmal des Anspruchs 1 noch das zweite kennzeichnende Merkmal, insoweit als es die vor dem Betrieb des Verbrennungsmotors vorgegebenen Informationen beinhaltet, aus Druckschrift D1 bekannt.
2.3 Demnach ist der Gegenstand des Anspruches 1 neu. Da auch Anspruch 1 nach den Hilfsanträgen 1 und 2 diese Merkmale enthält, ist auch deren Gegenstand neu im Sinne des Artikels 54(1),(2) EPÜ 1973.
3. Verfahrensfragen (Hilfsantrag 3)
3.1 Die Anmelderin hat die Anspruchssätze gemäß den Haupt- und Hilfsanträgen innerhalb der mit der Ladung gesetzten Frist nach Regel 71(a) EPÜ 1973 eingereicht. Im Gegensatz zum Hauptantrag und den Hilfsanträgen 1 und 2, hat die Prüfungsabteilung jedoch den Hilfsantrag 3 nicht zugelassen und auf Regel 86 (3) EPÜ 1973 verwiesen.
3.2 Gemäß Satz 2 dieser im Zeitpunkt der Entscheidung der Prüfungsabteilung anwendbaren Vorschrift, kann eine europäische Patentanmeldung nach der Erwiderung auf den ersten Bescheid der Prüfungsabteilung nur noch mit deren Zustimmung geändert werden. Der Prüfungsabteilung wird insoweit ein Ermessen eingeräumt.
3.2.1 Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern muss eine Prüfungsabteilung bei der Ausübung dieses Ermessens allen im jeweiligen Fall rechtserheblichen Faktoren Rechnung tragen. Sie muss insbesondere das Interesse des Anmelders an einem hinreichenden Schutz seiner Erfindung und das seitens des europäischen Patentamts bestehende Interesse an einer effizienten und zügigen Erledigung des Prüfungsverfahrens gegeneinander abwägen.
Über die Art und Weise in der die Prüfungsabteilung ein derartiges Ermessen ausgeübt hat, sollte eine Beschwerdekammer sich nur hinwegsetzen, wenn sie zu dem Schluss gelangt, dass die Prüfungsabteilung ihr Ermessen nicht nach Maßgabe der richtigen Kriterien oder in unangemessener Weise ausgeübt hat und damit das ihr eingeräumte Ermessen überschritten hat (siehe G 7/93, Gründe 2.4 bis 2.6; ABl. EPA 1994, 775).
3.2.2 Im vorliegenden Fall hat die Anmelderin in Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 im Vergleich zum Hilfsantrag 1 das auf die Erfassung des Zylinderdrucks gerichtete zusätzliche kennzeichnende Merkmal aufgenommen.
Diese Änderung stellt nach Auffassung der Kammer eine angemessene Reaktion auf die Argumentation der Prüfungsabteilung im Ladungszusatz dar, mit welcher die Neuheit des beanspruchten Gegenstandes in Abrede gestellt worden ist. Dies gilt umso mehr, als in der von der Prüfungsabteilung herangezogenen Druckschrift D1, zumindest explizit, keine Erfassung des Zylinderdrucks beschrieben wird.
3.2.3 Auch das Vorgehen der Anmelderin im Prüfungsverfahren ist nicht zu beanstanden.
Nachdem alle ernsthaften Versuche den zum Teil schwer verständlichen Einwänden des ersten Prüfers die Grundlage zu entziehen erfolglos geblieben sind, hatte sich die Anmelderin entschieden, für die anberaumte mündliche Verhandlung einen Haupt- und mehrere Hilfsanträge einzureichen. Dies ist ein sinnvolles Vorgehen, da der Zweck einer mündlichen Verhandlung auch die Herbeiführung der Entscheidungsreife des Falles ist.
Darüber hinaus ist aus der Akte nicht ersichtlich, ob die Prüfungsabteilung überhaupt die von der Großen Beschwerdekammer geforderte Abwägung vorgenommen hat. Zwar erkennt die Kammer das seitens der Prüfungsabteilung bestehende Interesse an einer effizienten und zügigen Erledigung des Prüfungsverfahrens an. Im vorliegenden Fall ging die Nicht-Zulassung des Hilfsantrages 3 jedoch zu Lasten der berechtigten Interessen der Anmelderin an einem hinreichenden Schutz.
3.2.4 Auch die Begründung der Prüfungsabteilung den Hilfsantrag 3 nicht zuzulassen, weil die Anmelderin hinreichend Gelegenheit gehabt hätte, die Ansprüche zu ändern, ist nicht überzeugend. Aus dem gleichen Grund hätte die Prüfungsabteilung dann auch die Hilfsanträge 1 und 2 nicht zulassen dürfen. Dies hat sie jedoch nicht getan. Im Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen erfolgte die Nichtzulassung des Hilfsantrags 3 willkürlich.
3.2.5 Die Kammer kommt deshalb zum Ergebnis, dass die Prüfungsabteilung das ihr mit Regel 86(3) Satz 2 EPÜ 1973 eingeräumte Ermessen nicht korrekt ausgeübt hat. Damit litt das Verfahren vor der Prüfungsabteilung an einem wesentlichen Verfahrensmangel.
4. Zurückverweisung
4.1 Da das Verfahren vor der ersten Instanz wesentliche Mängel aufwies, verweist die Kammer die Angelegenheit gemäß Artikel 11 der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern an die erste Instanz zurück.
4.2 In diesem Zusammenhang möchte die Kammer zum Offenbarungsgehalt der Druckschrift D1 auf Folgendes hinweisen:
4.2.1 Diese Druckschrift beschreibt zwei Ausführungsarten des beanspruchten Verfahrens, nämlich die in den Figuren 1 und 2 dargestellte Ausführungsart und die in Figur 3 dargestellte. Beide Ausführungsarten scheinen hinsichtlich der im Oberbegriff des Anspruchs 1 genannten Entscheidungsebenen, insbesondere hinsichtlich der Überwachungszeiten und Reaktionszeiten von Bedeutung zu sein.
4.2.2 Aus Figur 3 scheint sich auch zu ergeben, dass der Anteil der Sensordaten (s. Sp. 4, Z. 43 bis 49) bei abnehmender Drehzahl (d.h. bei abnehmender Überwachungs- bzw. Reaktionszeit) zunimmt, weil der zeitliche Abstand der Durchführung der Funktionen geringer wird (d.h. die Taktrate wird erhöht). Somit scheint das zweite kennzeichnende Merkmal des Anspruchs 1 nach dem Hauptantrag, das auch in den Hilfsanträgen genannt wird, zumindest insoweit bekannt zu sein, als es nicht Informationen, die vor dem Betrieb des Verbrennungsmotors vorgegeben worden sind, betrifft.
4.2.3 Das in Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 im Vergleich zum Hauptantrag hinzugefügte Merkmal, scheint sowohl durch die in Figur 1 gezeigten Diagnose- und Adaptionsfunktionen erfüllt zu sein als auch von dem durch die Punkte DSW2 und ASW2 in Figur 3 gekennzeichneten Punkt (iVm Sp. 5, Z. 38, 39 und Sp. 8, Z. 7 - 9).
4.2.4 Das in Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 im Vergleich zu Hilfsantrag 1 hinzugefügte Merkmal, dass sich die verschiedenen Entscheidungsebenen durch ihre Überwachungs- und Reaktionszeiten unterscheiden, scheint ebenfalls aus dieser Druckschrift bekannt zu sein. So scheinen die in der Figur 1 gezeigten Funktionen unterschiedlich lange Überwachungszeiten zu beinhalten. Aus Figur 3 ist demgegenüber bekannt für verschiedene Entscheidungsebenen (bspw. DSW1 oder DSW2) verschiedene zeitliche Abstände für die Durchführung der Funktionen vorzusehen. Da diese Abtastrate einen Einfluss auf die Reaktionszeit, mit denen Stellsignale erzeugt werden, hat, scheint sich aus dieser Figur das zusätzliche Merkmal des Hilfsantrags 2 zu ergeben.
4.2.5 Das im Vergleich zu Hilfsantrag 1 zusätzliche Merkmal des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 3 scheint aus dieser Druckschrift nicht bekannt zu sein.
5. Rückzahlung der Beschwerdegebühr
Die Beschwerdegebühr wird zurückgezahlt, wenn der Beschwerde durch die Beschwerdekammer stattgegeben wird und die Rückzahlung wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels der Billigkeit entspricht (Regel 103 (1) a) EPÜ.
Da der Beschwerde stattgegeben werden kann und der wesentliche Verfahrensmangel es für die Beschwerdeführerin erforderlich machte, Beschwerde einzulegen, entspricht es nach Auffassung der Beschwerdekammer der Billigkeit, die Beschwerdegebühr zurückzuerstatten.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.
3. Dem Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird stattgegeben.