T 2558/16 06-07-2021
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Heftvorrichtung mit einem Heftkopf für die Verarbeitung von Ringösenheftklammern
Zulässigkeit der Beschwerde - Beschwerde hinreichend begründet (ja)
Spät eingereichter Antrag - Rückkehr zur erteilten Fassung
Spät eingereichter Antrag - Umstände der Beschwerdesache rechtfertigen Zulassung (ja)
Neuheit - (ja)
Zurückverweisung an die erste Instanz
Zurückverweisung - (ja)
I. Die Patentinhaberin legte Beschwerde ein gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das europäische Patent Nr. 1 837 197 zu widerrufen.
II. Die Einspruchsabteilung hatte entschieden, dass der Gegenstand der Ansprüche 1 und 7 des mit dem Schriftsatz vom 4. Juli 2016 eingereichten Hauptantrags sowie der Gegenstand der Ansprüche 1 und 4 jedes der mit dem Schriftsatz vom 4. Juli 2016 eingereichten ersten und zweiten Hilfsanträge über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung hinausgingen, dass der Schutzbereich des erteilten Patents durch jeden dieser Anträge erweitert werde, und dass der Gegenstand der Ansprüche 1 und 4 des in der mündlichen Verhandlung eingereichten dritten Hilfsantrags gegenüber der Druckschrift
D1:|EP 0 104 076 B1|
nicht neu sei. In der angefochtenen Entscheidung wurden außerdem folgende Dokumente genannt:
D2:|DE 44 34 513 C1; |
E1:|hohner Ersatzteilliste "Universal-Heftkopf 80/3 R" (20 Seiten);|
E2:|CD ROM mit drei Videofilmen; |
E3:|kommentierte Bilder 1 bis 8 aus Video 3; |
E4:|Auszug aus dem Dokument E1 (Deckblatt und Seiten 8 und 9). |
III. Die Patentinhaberin hat mit ihrer Beschwerdebegründung geänderte Hilfsanträge 1 bis 4 sowie folgendes Dokument eingereicht:
D2a:|DE 44 44 220 C2.|
IV. Mit Schreiben vom 11. Januar 2018 reichte sie weitere Dokumente ein:
P1:|"Industrielle Buchbinderei", Dieter Liebau et al, Verlag Beruf+Schule, 1997, Seiten 177 und 178;|
P2:|"Handbuch der Printmedien", Helmut Kipphan, Springer Verlag, 2000, Seiten 876 bis 879; |
P3:|US 4 485 955. |
V. Am 6. Juli 2021 hat eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer stattgefunden.
VI. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in erteilter Fassung (Hauptantrag), oder hilfsweise die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf der Grundlage der Ansprüche eines der mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsanträge 1, 2, 3 oder 4.
Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragte, die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen, oder hilfsweise die Beschwerde zurückzuweisen. Die Beschwerdegegnerin hat außerdem beantragt, den Hauptantrag sowie die Hilfsanträge 1 bis 4 nicht in das Beschwerdeverfahren zuzulassen.
VII. Die unabhängigen Ansprüche des Hauptantrags (Patent in erteilter Fassung) lauten wie folgt:
"1. Verfahren zum Heften von blattförmigen Materialien mittels Ringösenklammern (2), wobei ein Treiber (80) auf die Schultern der Ringösenklammern (2) drückt und diese in das blattförmige Material (30) treibt und eine zwischen die Schenkel der Ringösenklammern (2) eingebrachte Klammerstütze (6, 17) den Bereich der Ringöse (3) im Zuge des Eintreibvorganges stützt,
dadurch gekennzeichnet,
dass die Klammerstütze (6, 17) erst dann aus dem Bereich der Ringöse (3) herausbewegt wird, wenn die durch das blattförmige Material hindurch tretenden Schenkel der Ringösenklammern (2) weitgehend umgebogen sind."
"7. Heftmaschine mit einem Heftkopf (26) zum Heften von blattförmigen Materialien mit Ringösenklammern (2), wobei der Heftkopf (26) einen Treiber (80) aufweist, der auf die Schultern der Ringösenklammern (2) drückt und diese in das blattförmige Material eintreibt, und ferner eine Klammerstütze (6, 17) aufweist zur Stützung der Ringösenklammern (2) während des Eintreibvorganges sowie eine Biegeeinrichtung (50, 51, 52) zum Umbiegen der durch das blattförmige Material hindurch tretenden Schenkel der Ringösenklammern (2) und einen Antrieb zur Bewegung der Klammerstütze (6, 17) aus dem Bereich der Ringösenklammern (2) heraus,
dadurch gekennzeichnet,
dass der Antrieb (80, 83, 84; 93, 94) so ausgestaltet bzw. gesteuert ist, dass die Klammerstütze (6, 17) erst dann vollständig aus dem Bereich der Ringöse (3) herausbewegt wird, nachdem die durch das blattförmige Material hindurch tretenden Schenkel der Ringösenklammern (2) weitgehend umgebogen sind."
VIII. Die Beschwerdeführerin hat im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:
Zulässigkeit der Beschwerde
Die Beschwerde sei ausreichend begründet worden. Insbesondere wende sich die Beschwerdebegründung in ihrem Abschnitt II.1 mit einer umfangreichen Darlegung der Ursprungsoffenbarung in der A2-Schrift gegen die Feststellung der Einspruchsabteilung, dass es keinen Hinweis darauf gebe, dass der Stützkörper und die Klammerstütze zwei unabhängig voneinander zu bewegende Teile sein könnten. In diesem Zusammenhang werde ausdrücklich geltend gemacht, dass die A2-Schrift zwei Rückzugsbewegungen offenbare. Ferner ziehe die Beschwerdebegründung im Abschnitt II.1.5 den Schluss, dass die Auffassung der Einspruchsabteilung im Abschnitt 4.2.2 der angefochtenen Entscheidung nicht gerechtfertigt sei. Deshalb stelle sie eine unmittelbare und klare Verbindung zur angefochtenen Entscheidung her, siehe T 2532/11. Die Beschwerde sei somit zulässig.
Zulassung des Hauptantrags
Anders als im Fall T 1578/13 musste die Patentinhaberin während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung davon ausgehen, dass eine Rückkehr zur erteilten Fassung im erstinstanzlichen Verfahren keinen Erfolg bringen würde. Die Einspruchsabteilung habe sich in ihrer vorläufigen Meinung bereits negativ über die Neuheit des beanspruchten Gegenstands gegenüber der Druckschrift D1 ausgesprochen. Nachdem die Aufnahme des Stützkörpers in die unabhängigen Ansprüche nicht als zulässig befunden worden sei, habe die Patentinhaberin in der mündlichen Verhandlung den dritten Hilfsantrag eingereicht, der jedoch ebenfalls wegen fehlender Neuheit verworfen worden sei. In T 755/00 habe die Kammer in einem ähnlich gelagerten Fall ausgeführt, dass die entscheidende Frage sei, ob von einem Verfahrensmissbrauch auszugehen sei. Dies sei vorliegend nicht der Fall, sodass der Hauptantrag zuzulassen sei.
Auslegung des Anspruchswortlauts
Der Auffassung der Kammer werde zugestimmt, dass die Schenkel der Ringösenklammern erst dann als weitgehend umgebogen gälten, wenn sie nahezu völlig umgebogen seien. Erst dann sei die durch die Klammerschließer auf die Klammer ausgeübte Kraft so gut wie vertikal, sodass keine schädlichen Querkräfte auftreten.
Neuheit im Hinblick auf die Druckschrift D1
Die in der Figur 6 der Druckschrift D1 als vertikaler Strich dargestellte Stirnwand 83 der Klammerstütze 80 sei auch in der Endposition gemäß Figur 11 erkennbar, in der die Klammerstütze gerade aus dem Bereich der Ringöse herausgefahren sei, und zwar direkt hinter dem Treiber 95, in der Figur links von der Klammmer. Die gleichzeitige Bewegung des Treibers, der Klammerstütze und der Klinscher bedeute, dass sich die Klammerstütze kurz vor dieser Endposition noch im Bereich der Klammer befunden habe, dass aber der Rückzug der Klammerstütze aus der Ringöse gleichzeitig mit ihrem Rückzug aus dem zwischen den Klammerschenkeln begrenzten Raum zu einem Zeitpunkt vollendet sei, zu dem das Zusammenbiegen der Schenkel noch andauere. Eine genaue Lehre zum Verhältnis zwischen der Bewegung des Treibers und der Bewegung der Klammerschließer enthalte die Druckschrift D1 nicht. Allerdings entnehme der Fachmann den Lehrbuchauszügen P1 und P2, sowie der Druckschrift P3 eindeutig, dass die Klammerschließer erst dann betätigt würden, wenn die Klammerschenkel durch das blattförmige Material hindurchgestoßen seien. Einen Nachweis für einen Hefter, der bereits während des Eintreibens die Schenkel umbiege, habe die Beschwerdegegnerin nicht vorgebracht. Entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin bedeute daher die Wortwahl "at the same time" in Spalte 11, Zeilen 19 bis 34 der Druckschrift D1 nicht einen gleichen Zeitpunkt, sondern die Zeitspanne der Abwärtsbewegung des Treibers 95 bis zum Schließen der Klammerschenkel 151 durch die Klammerschließer 42, wobei die Abläufe innerhalb dieser Zeitspanne nacheinander erfolgten.
Zurückverweisung
Die von der Beschwerdegegnerin vorgebrachten Tatsachen zur offenkundigen Vorbenutzung seien mangels ausreichender Substantiierung nicht zulässig. Das könne auch die Kammer prüfen, weshalb eine Zurückverweisung unnötig sei.
IX. Der Vortrag der Beschwerdegegnerin lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:
Zulässigkeit der Beschwerde
Die Anträge in der Beschwerdebegründung seien nicht Gegenstand der angefochtenen Entscheidung. Bezüglich der gestellten Anträge liege kein Beschwer der Beschwerdeführerin vor, siehe T 528/93 und G 9/91. Vielmehr greife die Beschwerdeführerin mit dem neuen Hauptantrag auf die erteilten Ansprüche zurück, die nicht der angefochtenen Entscheidung zugrunde lägen. Zu den von der Einspruchsabteilung genannten Gründen, weshalb der Gegenstand von Anspruch 1 des der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Hauptantrags, des ersten bzw. des zweiten Hilfsantrags über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehe, habe die Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerdebegründung jedoch keine Stellung genommen. Das gelte auch für den Einwand der Schutzbereichserweiterung und für den Einwand der mangelnden Neuheit in Verbindung mit dem Gegenstand von Anspruch 1 des der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden dritten Hilfsantrags. Der Verweis auf Seite 5 unter Ziffer 1.5 auf die angefochtene Entscheidung befasse sich inhaltlich ausschließlich mit der Offenbarung der A2-Schrift. Außerdem gehe die Beschwerdeführerin nicht auf die Begründung der Einspruchsabteilung bezüglich der nicht ursprungsoffenbarten Möglichkeit zweier unabhängig zu bewegender Teile in den Anspruchsgegenständen der der Entscheidung zugrundeliegenden Anträge ein. Auch hinsichtlich des Einwands der unzulässigen Schutzbereichserweiterung in Zusammenhang mit dem Hauptantrag und den ersten und zweiten Hilfsanträgen und hinsichtlich der Neuheit in Zusammenhang mit dem dritten Hilfsantrag äußere sich die Beschwerdeführerin nicht. Es fehle daher insgesamt an einer Begründung, warum die angefochtene Entscheidung aufzuheben sei. Die Beschwerde sei demnach unzulässig.
Zulassung des Hauptantrags
Im vorliegenden Fall sei bereits in der Einspruchserwiderung, d.h. schon zu Beginn des Einspruchsverfahrens, die Aufrechterhaltung des Patents nur in beschränktem Umfang beantragt worden. Auch in dem mit Schreiben vom 4. Juli 2016 eingereichten neuen Hauptantrag habe die Beschwerdeführerin nicht die erteilte Fassung verteidigt. Die Einspruchsabteilung habe der Beschwerdeführerin in der mündliche Verhandlung die Gelegenheit gegeben, einen weiteren Hilfsantrag einzureichen. Spätestens dann hätte die Beschwerdeführerin die naheliegende Möglichkeit ergreifen müssen, den Einwänden nach Artikel 123 (2) und (3) EPÜ durch den Rückgriff auf die erteilte Fassung zu begegnen. Da die unabhängigen Ansprüche in erteilter Fassung im Wesentlichen mit der ursprünglich eingereichten Fassung übereinstimmten, wären die von der Einspruchsabteilung gerügten Mängel nach Artikel 123 (2) EPÜ damit durch die erteilte Fassung zweifelsfrei behoben gewesen. Allerdings habe sich die Beschwerdeführerin bewusst zu einer anderen Vorgehensweise entschlossen. Durch ihr Verhalten, erstmals im Beschwerdeverfahren auf das Patent in erteilter Fassung zurückzugreifen, habe die Beschwerdeführerin die Prüfung der erteilten Fassung im erstinstanzlichen Verfahren verhindert und so einen Instanzenweg abgeschnitten. Sie versuche nun, die Kammer entgegen der gebotenen Verfahrensökonomie dazu zu zwingen, in erster und gleichzeitig letzter Instanz zu entscheiden oder den Fall an die erste Instanz zurückzuverweisen. Grundsätzlich solle ein vor der Einspruchsabteilung wegen geringer Erfolgsaussichten zurückgenommener Antrag nicht mehr im Beschwerdeverfahren vorgebracht werden können. In T 1578/13 sei über eine identische Situation wie vorliegend bereits entschieden worden. Demnach sei der Hauptantrag gemäß Artikel 12 (4) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK 2007) nicht zuzulassen. Es werde auch auf die Vorschrift des Artikels 12 (2) VOBK 2007 verwiesen.
Auslegung des Anspruchswortlauts
Der Kammer werde zugestimmt, dass der Ausdruck "weitgehend umgebogen" im Sinne der Patentschrift auszulegen sei, d.h. keine schädlichen Querkräfte mehr auftreten sollten. Dies hänge in der Praxis von der Dicke des zu heftenden Papiers und von der Dicke der Heftklammer ab. Die Definition laut Duden sei allerdings zu einschränkend.
Neuheit im Hinblick auf die Druckschrift D1
Die Ringösenkontur 156 des Treibers 95 in der Druckschrift D1 durchlaufe zwischen den in den Figuren 10 und 12 dargestellten Positionen einen Hub über die gesamte Schenkellänge der Seitenschenkel 151, während diese bereits gebogen würden. Daher seien die Klammerschenkel 151 bereits vor Erreichen der Endposition in der Figur 12 weitgehend umgebogen. Dies ergebe sich auch aus der expliziten Offenbarung in Spalte 11, Zeilen 19 bis 34 der Druckschrift D1, wonach die Fortführung der Abwärtsbewegung des Treibers und die dabei erfolgende Rückwärtsdrängung der Klammerstütze, das Durchtreiben der Klammerschenkel durch das zu heftende blattförmige Material und die aufwärts gerichtete Schwenkbewegung der Klinscher, die die an der Unterseite des zu heftenden blattförmigen Materials entsprechend der Einstechtiefe der Ringösenheftklammer zunehmend vorstehenden Schenkel umbiegen, gleichzeitig durchgeführt würden. Obwohl die Schenkel grundsätzlich erst umgebogen werden könnten, nachdem sie komplett durchgestochen seien, fänden in den zum Zeitrang des Patents gebräuchlichen Heftköpfen die Klinscherbewegung und der Eintreibvorgang üblicherweise gleichzeitig statt. Da der Eintreibvorgang so lange erfolge, bis die Schultern der Ringösenheftklammer zur oberseitigen Anlage an das blattförmigen Material kommen, könne der Treiber 95 die Klammerstütze 85 erst dann vollständig aus dem Bereich der Ringöse herausdrängen, wenn die Schenkel 151 zumindest weitgehend umgebogen seien.
Daher nehme die Druckschrift D1 den Gegenstand sowohl von Anspruch 1 als auch von Anspruch 7 des Hauptantrags neuheitsschädlich vorweg.
Zurückverweisung
Gegen eine Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung habe die Beschwerdegegnerin nichts einzuwenden.
Anzuwendendes Recht
1. Die dem Streitpatent zugrundeliegende Anmeldung wurde am 6. März 2007 eingereicht. Deshalb sind im vorliegenden Fall in Anwendung von Artikel 7 der Akte zur Revision des EPÜ vom 29. November 2000 (ABl. EPA 2007, Sonderausgabe Nr. 1, S. 196) und des Beschlusses des Verwaltungsrats vom 28. Juni 2001 über die Übergangsbestimmungen nach Artikel 7 der Akte zur Revision des EPÜ vom 29. November 2000 (ABl. EPA 2007, Sonderausgabe Nr. 1, S. 197) die Artikel 54 und 111 EPÜ 1973 weiterhin anzuwenden.
2. Für die Beurteilung der Zulässigkeit der vorliegenden Beschwerde, die am 21. November 2016 eingelegt wurde, gelten die Rechtsvorschriften des revidierten EPÜ, denn die Zulässigkeit einer Verfahrenshandlung ist auf der Grundlage des zum Zeitpunkt dieser Handlung herrschenden Rechts zu beurteilen (tempus regit actum, vgl. J 10/07, T 1366/04, T 1279/05).
3. Die revidierte Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK 2020) ist am 1. Januar 2020 in Kraft getreten. Vorbehaltlich der Übergangsbestimmungen (Artikel 25 VOBK 2020) ist die revidierte Fassung auch auf am Tag des Inkrafttretens bereits anhängige Beschwerden anwendbar. Im vorliegenden Fall wurde die Beschwerdebegründung und die Erwiderung darauf vor dem 1. Januar 2020 eingereicht. Daher sind Artikel 12 (4) bis (6) VOBK 2020 nicht anzuwenden. Stattdessen gilt weiterhin Artikel 12 (4) VOBK 2007 (Artikel 25 (2) VOBK 2020).
Zulässigkeit der Beschwerde - Artikel 108 EPÜ Satz 3 i.V.m. Regel 99 (2) EPÜ
4. Die Bestimmungen der Regel 101 (1) EPÜ legen fest, dass eine Beschwerde dann als unzulässig zu verwerfen ist, wenn sie nicht den Artikeln 106 bis 108 EPÜ, Regel 97 EPÜ, Regel 99 (1) b) oder c) EPÜ oder Regel 99 (2) EPÜ entspricht, es sei denn, dass ein Mangel vor Ablauf der maßgeblichen Frist nach Artikel 108 EPÜ behoben worden ist.
5. Die Beschwerdegegnerin nennt für ihren Einwand der Unzulässigkeit der Beschwerde keine Rechtsgrundlage, jedoch zielt sie auf die Vorschriften des Artikels 108 Satz 3 EPÜ und der Regel 99 (2) EPÜ ab. Letztere sieht vor, dass der Beschwerdeführer in der Beschwerdebegründung darzulegen hat, aus welchen Gründen die angefochtene Entscheidung aufzuheben oder in welchem Umfang sie abzuändern ist und auf welche Tatsachen und Beweismittel er seine Beschwerde stützt.
6. Für die Zulässigkeit einer Beschwerde ist es nicht unbedingt erforderlich, dass der Beschwerdeführer die Entscheidung der Einspruchsabteilung als fehlerhaft angreift. Nach der gefestigten Rechtsprechung (vgl. "Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts", 9. Auflage 2019, V.A.2.6.5 c)) kann eine Beschwerdebegründung auch dann als ausreichend angesehen werden, wenn ein neuer Sachverhalt vorgebracht wird, der der Entscheidung die rechtliche Grundlage entzieht. Insbesondere kann ein Beschwerdeführer geänderte Anspruchssätze vorlegen und erläutern, warum diese geeignet sind, die in der angefochtenen Entscheidung gerügten Mängel auszuräumen. Ausnahmsweise kann aber ein neuer Antrag, der offensichtlich der Ausräumung des Widerrufsgrunds dient, z.B. weil ein von der Einspruchsabteilung unter Artikel 123 (2) EPÜ beanstandetes Merkmal durch eine passende Änderung ersetzt wird, durchaus ohne weitere Begründung, warum die angefochtene Entscheidung für falsch gehalten wird, einen ummittelbar erkennbaren und ausreichend direkten Zusammenhang zwischen der angefochtenen Entscheidung und der Beschwerdebegründung darstellen (s. T 1276/05, Punkt 1.2 der Entscheidungsbegründung; T 933/04, Punkt 1.2.3 der Entscheidungsbegründung).
Dabei kommt es für die Frage der Zulässigkeit der Beschwerde nicht darauf an, ob die geänderten Ansprüche in weiterer Folge von der Kammer ins Verfahren zugelassen werden oder ob der Vortrag des Beschwerdeführers letztlich überzeugend ist.
7. Im vorliegenden Fall ist das Patent wegen Verstöße gegen Artikel 123 (2) und (3) EPÜ in Verbindung mit Änderungen des Patents gemäß dem Hauptantrag und jeden der ersten und zweiten Hilfsanträge, alle in Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereicht, sowie wegen fehlender Neuheit des Gegenstands der Ansprüche 1 und 4 gemäß dem dritten Hilfsantrag, der im Laufe der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereicht worden war, im Hinblick auf die Druckschrift D1 widerrufen worden.
Die Kammer teilt die Ansicht der Beschwerdeführerin, dass die Beschwerdebegründung sich inhaltlich mit den verschiedenen Punkten der Begründung der angefochtenen Entscheidung auseinandergesetzt hat. Zum einen befasst sich der unter der Überschrift "1. Artikel 123 (2) und (3) EPÜ (E Blatt 3 Abschnitt 4)" subsumierte Vortrag mit der detaillierten Analyse des zeitlichen Bewegungsablaufs des Stützkörpers der Klammerstütze relativ zu dem Bereich der Öse. In Verbindung mit dem Verweis in Punkt II.1.5 der Beschwerdebegründung auf "die gegenteilige Auffassung der Einspruchsabteilung (E Abschnitt 4.2.2)", wertet die Kammer diesen Vortrag als einen klaren Versuch, die angebliche Unrichtigkeit der angefochtenen Entscheidung hinsichtlich der Zulässigkeit der Änderungen des damals vorliegenden Hauptantrags, der gegenüber den erteilten Ansprüchen um das Merkmal des Stützkörpers ergänzt worden war, darzutun. Zum anderen enthält auch der zweite Abschnitt der Beschwerdebegründung mit der Überschrift "2. Neuheit und erfinderische Tätigkeit (Artikel 54, 56 EPÜ)" einen direkten Verweis auf die entsprechende Begründung der angefochtenen Entscheidung: "E Abschnitt 5.2". Insbesondere in Punkt II.2.1.e) argumentiert die Beschwerdeführerin, aus welchen Gründen sie die Ansicht der Einspruchsabteilung, wonach die Druckschrift D1 das Merkmal offenbare, dass die Klammerstütze erst dann aus dem Bereich der Ringöse herausbewegt wird, wenn die durch das blattförmige Material hindurch tretenden Schenkel der Ringösenklammern weitgehend umgebogen sind, als fehlerhaft betrachtet: "Daraus ist zweifelsfrei ersichtlich, daß der Rückzug des Stützkörpers 85 aus der Öse 156 gleichzeitig mit dem Rückzug der Klammerstütze 80 aus dem zwischen den Klammerschenkeln 151 begrenzten Raum zu einem Zeitpunkt vollendet ist, zu dem das Umbiegen der Schenkel 151 noch andauert (Spalte 11, Zeilen 25 bis 31)". Daher kann die Kammer aus der Beschwerdebegründung unmittelbar ersehen, warum die Entscheidung nach Auffassung der Beschwerdeführerin aufzuheben ist.
8. Des Weiteren hat die Beschwerdeführerin mit der Beschwerdebegründung geänderte Ansprüche in Form von vier neuen Hilfsanträgen eingereicht. Auf Seite 5 der Beschwerdebegründung wurde im Einzelnen dargelegt, warum die Neuformulierung der Ansprüche in den Hilfsanträgen 1 bis 4 geeignet sei, die von der Einspruchsabteilung gerügten Mängel bezüglich Artikel 123 (2) und (3) EPÜ auszuräumen. Überdies gelten die auf Seiten 6 und 7 der Beschwerdebegründung vorgelegten Argumente zur Neuheit gegenüber der Druckschrift D1 auch für die neuen Hilfsanträge, deren Verfahrensansprüche jeweils das Merkmal des Rückzugs der Klammerstütze aus dem Bereich der Ringöse aufweisen.
9. Dem Argument der Beschwerdegegnerin, dass die Beschwerde bereits deshalb unzulässig sei, weil die Beschwerdeführerin mit dem neuen Hauptantrag auf erteilte Ansprüche zurückgreife, die nicht der angefochtenen Entscheidung zugrunde lägen, kann die Kammer nicht folgen. Dies ist vielmehr eine Frage der Zulassung des Hauptantrags ins Beschwerdeverfahren (s. dazu Punkt 14. infra; s. T 755/00, Punkt 3 der Entscheidungsgründe) und nicht eine Frage der Zulässigkeit der Beschwerde, die unter anderem die Übereinstimmung mit den Artikeln 107 und 108 EPÜ, sowie die Regel 99 (2) EPÜ betrifft. Selbst wenn die Kammer einen solchen Antrag später in Ausübung ihres Ermessens im Verfahren unberücksichtigt ließe, könnte dies die einmal gegebene Zulässigkeit der Beschwerde nicht rückwirkend beseitigen. Ebenso hat die Kammer in der von der Beschwerdegegnerin in diesem Zusammenhang zitierten Entscheidung T 528/93 über die Zulassung eines im erstinstanzlichen Verfahren zurückgenommenen Antrags im Beschwerdeverfahren entschieden, ohne vorher die Zulässigkeit der Beschwerde in Frage zu stellen.
10. In Anwendung der von der Rechtsprechung entwickelten Prinzipien sind die Vorschriften des Artikels 108 Satz 3 EPÜ und der Regel 99 (2) EPÜ in der vorliegenden Beschwerdesache somit erfüllt. Da die Beschwerde auch den übrigen Voraussetzungen der Artikel 106 bis 108 und Regel 97 und 99 EPÜ genügt, hat die Kammer entschieden, dass die Beschwerde zulässig ist.
Zulassung des Hauptantrags (Patent in erteilter Fassung) - Artikel 12 (4) VOBK 2007, Artikel 25 (2) VOBK 2020
11. Die Beschwerdegegnerin hat beantragt, den mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hauptantrag, der auf die erteilte Fassung des Patents gerichtet ist, nicht in das Beschwerdeverfahren zuzulassen. Sie hat dabei auf Artikel 12 (2) und (4) VOBK 2007 verwiesen.
12. Die Bestimmungen von Artikel 12 (2) VOBK 2007 verlangen, dass die Beschwerdebegründung und die Erwiderung den vollständigen Sachvortrag der Beteiligten enthalten und deutlich und knapp angeben müssen, aus welchen Gründen beantragt wird, die angefochtene Entscheidung aufzuheben, abzuändern oder zu bestätigen. Alle Tatsachen, Argumente und Beweismittel sollen ausdrücklich und spezifisch angeführt werden.
Nach Artikel 12 (4) VOBK 2007 berücksichtigt die Kammer grundsätzlich das gesamte Vorbringen der Beteiligten nach Artikel 12 (1) VOBK 2007, wenn und soweit es sich auf die Beschwerdesache bezieht und die Erfordernisse des Artikels 12 (2) VOBK 2007 erfüllt. Artikel 12 (4) VOBK 2007 nennt jedoch auch die Befugnis der Kammer, Tatsachen, Beweismittel und Anträge nicht zuzulassen, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können oder dort nicht zugelassen worden sind. Artikel 12 (4) VOBK 2007 dient sowohl dem Gebot eines fairen Verfahrens als auch der Verfahrensbeschleunigung und stellt damit sicher, dass im Beschwerdeverfahren nicht über einen gänzlich neuen Sachverhalt zu entscheiden ist. Die Zulassung eines neuen Antrags ist daher insbesondere dann in Frage zu stellen, wenn der Patentinhaber schon im Einspruchsverfahren sachdienliche Anträge zur Ausräumung bekannter Einwände hätte stellen können und sollen und/oder wenn der Gegenstand des neuen Antrags eine Erweiterung des im Rahmen des Einspruchsverfahrens beanspruchten Gegenstands darstellt. Zu berücksichtigen ist auch die Frage, ob die Zulassung eines solchen Antrags zusätzlichen Aufwand verursache würde, oder seine späte Vorlage einem Verfahrensmissbrauch gleichkommt.
13. Im vorliegenden Fall unterscheiden sich die unabhängigen Ansprüche des Hauptantrags im Wesentlichen dadurch von denjenigen des der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Hauptantrags, dass die Klammerstütze - anstatt eines den Bereich der Ringöse stützenden Stützkörpers der Klammerstütze - erst dann aus dem Bereich der Ringöse zurückbewegt wird, wenn die Klammerschenkel weitgehend umgebogen sind.
Im zweiten Abschnitt der Beschwerdebegründung hat die Beschwerdeführerin ausführlich Stellung genommen zur Offenbarung der Druckschrift D1. Sie hat sich dabei insbesondere mit dem zeitlichen Bewegungsablauf des Stützkörpers der Klammerstütze gegenüber dem Bereich der Ringöse befasst. Allerdings enthält die Stellungnahme, insbesondere in Punkt 2.1.a) und in Punkt 2.1.e), auch konkrete Äußerungen zur Bewegung der Klammerstütze gegenüber dem Bereich der Ringöse: "Die Klammerstütze 80 und ihr Stützkörper 85 bilden eine ebene Stirnwand 83 ... [die] in den Ansichten der Figuren 7 bis 10 und 12 jeweils als Fläche und in den dazu orthogonalen Ansichten der Figuren 6 und 11 jeweils als Linie [erscheint]", "Bei seiner weiteren Abwärtsbewegung schiebt der Treiber 95 die Klammerstütze aus seiner Bewegungsbahn heraus", "In dieser Lage ist notwendigerweise auch die gesamte Stirnwand 83 der Klammerstütze 80 - in Figur 7 gesehen - hinter den Treiber 95 geschoben", "Im Einzelnen ist in Figur 11 ... links von der Klammer 150 die als vertikaler Strich erscheinende Stirnwand 83 der Klammerstütze 80 [erkennbar]", "Daraus ist zweifelsfrei ersichtlich, daß .. gleichzeitig mit dem Rückzug der Klammerstütze 80 aus dem zwischen den Klammerschenkeln 151 begrenzten Raum zu einem Zeitpunkt vollendet ist, zu dem das Umbiegen der Schenkel 151 noch andauert (Spalte 11, Zeilen 25 bis 31)".
Die Kammer kommt daher zum Schluss, dass sich die Beschwerdebegründung substantiiert mit dem Hauptantrag befasst hat, so dass das diesbezügliche Vorbringen der Beschwerdeführerin die Erfordernisse nach Artikel 12 (2) VOBK 2007 erfüllt und deshalb nach Artikel 12 (1) VOBK 2007 grundsätzlich berücksichtigt wird.
14. Eine Rückkehr zu den erteilten Ansprüchen am Anfang des Beschwerdeverfahrens fällt durchaus unter die Anträge, die nach Artikel 12 (4) VOBK 2007 "bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können". Die Nicht-Zulassung des Hauptantrags steht daher nach Artikel 12 (4) VOBK 2007 im Ermessen der Kammer.
14.1 Die bloße Tatsache, dass eine beschwerdeführende Patentinhaberin im erstinstanzlichen Verfahren ihren Antrag auf Zurückweisung des Einspruchs nicht weiterverfolgt bzw. durch weitere Anträge ersetzt hat, bedeutet nicht grundsätzlich, dass sie daran gehindert ist, im Beschwerdeverfahren wieder die erteilte Fassung des Patents zu verteidigen. Ein Anspruch darauf besteht allerdings nicht. Vielmehr liegt die Zulassung eines solchen Antrags im Ermessen der Kammer. Dabei sind die Umstände des Einzelfalls, vorliegend insbesondere die Ereignisse im Einspruchsverfahren, bei der Ausübung des Ermessens nach Artikel 12 (4) VOBK 2007 maßgebend (s. T 28/10, Punkt 3.2 der Entscheidungsbegründung).
14.2 Nachdem die Beschwerdegegnerin in ihrer Einspruchsschrift die Neuheit des Gegenstands der unabhängigen Ansprüche in erteilter Fassung u.a. gegenüber der Druckschrift D1 bestritten hatte, beantragte die Beschwerdeführerin mit ihrer Einspruchserwiderung zunächst die Aufrechterhaltung des Patents in beschränktem Umfang auf der Basis eines als Hauptantrag eingereichten Anspruchssatzes. Als Reaktion auf die mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung erlassene vorläufige Meinung der Einspruchsabteilung, dass der Gegenstand von Anspruch 1 dieses Hauptantrags von der Druckschrift D1 neuheitsschädlich vorweggenommen sei, hat die Beschwerdeführerin in Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung einen neuen Hauptantrag und zwei Hilfsanträge eingereicht. Die Einspruchsabteilung kam in der mündlichen Verhandlung zum Schluss, dass weder der Hauptantrag noch die Hilfsanträge den Erfordernissen des Artikels 123 (2) und (3) EPÜ genügten. Daraufhin reichte die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung einen dritten Hilfsantrag ein, dessen unabhängige Ansprüche im Wesentlichen denjenigen des mit der Einspruchserwiderung eingereichten Hauptantrags entsprachen. Die Einspruchsabteilung hat diesbezüglich fehlende Neuheit gegenüber der Druckschrift D1 festgestellt und deshalb auch dem dritten Hilfsantrag nicht stattgegeben.
14.3 Die Beschwerdegegnerin hat zutreffend dargelegt, dass die unabhängigen Ansprüche in erteilter Fassung im Wesentlichen mit jenen der ursprünglich eingereichten Fassung der Patentanmeldung übereinstimmten. Folglich hätten nach Auffassung der Beschwerdegegnerin die von der Einspruchsabteilung hinsichtlich des der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Hauptantrags gerügten Mängel nach Artikel 123 (2) EPÜ zweifelsfrei durch einen dementsprechenden, im Einspruchsverfahren gestellten Antrag behoben werden können. Ein solcher Antrag hätte zwangsläufig auch den von der Einspruchsabteilung gerügten Einwand der Erweiterung des Schutzbereichs nach Artikel 123 (3) EPÜ ausgeräumt.
Angesichts der negativen Ausführungen im Ladungsbescheid der Einspruchsabteilung zur Neuheit des Gegenstands des damaligen, schon eingeschränkten Hauptantrags im Hinblick auf die Druckschrift D1, die in der mündlichen Verhandlung nach der Diskussion des Hilfsantrags 3 schließlich bestätigt wurden, hat die Kammer Zweifel, ob ein Wiederaufgreifen der erteilten Fassung mit ihren breiteren Ansprüchen schon im Einspruchsverfahren tatsächlich veranlasst gewesen wäre. Unabhängig von der Frage, ob bereits im Einspruchsverfahren eine konkrete Veranlassung bestand, die erteilte Fassung des Patents zu verteidigen, schließt die Kammer aus dem Vortrag der Beschwerdegegnerin jedoch, dass es sich bei dem vorliegende Hauptantrag um einen erfolgsversprechenden Versuch handelt, alle von der Einspruchsabteilung hinsichtlich des der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Hauptantrags gerügten Einwände auszuräumen.
14.4 Zu berücksichtigen ist außerdem, dass sich die Einspruchsabteilung bereits im Rahmen der Neuheitsdiskussion zu dem in der mündlichen Verhandlung eingereichten dritten Hilfsantrag, dessen unabhängige Ansprüche durch Hinzufügung weiterer Merkmale gegenüber der erteilten Fassung eingeschränkt worden waren, mit der Offenbarung jedes einzelnen Merkmals der Ansprüche 1 und 7 gemäß dem vorliegenden Hauptantrag im Hinblick auf die Druckschrift D1 auseinandergesetzt hat. Insbesondere zur strittigen Frage, ob die in der Druckschrift D1 offenbarte Klammerstütze erst dann aus dem Bereich der Ringöse herausbewegt wird, wenn die Klammerschenkel weitgehend umgebogen sind, ist sie in der angefochtenen Entscheidung eingegangen (s. Punkt 5.3.1 der Entscheidungsgründe). Insofern hat die Verfahrensführung der Beschwerdeführerin, den Antrag auf Zurückweisung des Einspruchs im Einspruchsverfahren nicht weiterzuverfolgen, die Einspruchsabteilung nicht daran gehindert, über die kritischen Aspekte auch des vorliegenden Hauptantrags in der Sache zu entscheiden. Im Falle einer Zulassung des vorliegenden Hauptantrags könnte die Kammer die Schlussfolgerungen der Einspruchsabteilung zur Neuheit bezüglich der Druckschrift D1 überprüfen und wäre daher nicht gezwungen, erstmalig im Beschwerdeverfahren über diese Frage zu befinden. Auch eine eventuelle Zurückverweisung an die erste Instanz im Fall der Anerkennung der Neuheit des erteilten Anspruchsgegenstands im Hinblick auf die Druckschrift D1 durch die Kammer wäre nicht ursächlich mit dem Wiederaufgreifen der erteilten Fassung verknüpft, sondern würde allenfalls von den weiteren Einwänden abhängen, über die die Einspruchsabteilung nicht entschieden hat, da sie dazu keine Veranlassung hatte. Die Kammer kann daher nicht erkennen, dass die Beschwerdeführerin durch ihre Handlungsweise das Gebot der Verfahrensökonomie verletzt hätte.
14.5 Die Beschwerdegegnerin hat geltend gemacht, in der Entscheidung T 1578/13 sei bereits über eine Situation wie die vorliegende entschieden worden. Dem ist Folgendes entgegenzuhalten. In dem genannten Fall hatte die Patentinhaberin zwar, ähnlich wie im vorliegenden Fall, mit der Beschwerdebegründung einen Antrag eingereicht, der dem erteilten und mit der Einspruchserwiderung aufgegebenen Anspruchssatz entsprach. In der angefochtenen Entscheidung war allerdings keine sachliche Auseinandersetzung mit der Patentfähigkeit des beanspruchten Gegenstands im Hinblick auf den zitierten Stand der Technik erfolgt. Vielmehr hatte die Einspruchsabteilung den während der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsanträgen aufgrund mangelnder Klarheit nicht stattgegeben und das Patent daraufhin widerrufen. Somit wäre die Kammer in der Sache T 1578/13, anders als im vorliegenden Fall, bei einer Zulassung des neuen Antrags dazu gezwungen gewesen, zum ersten Mal im Beschwerdeverfahren über die kritischen Punkte zu entscheiden (s. Punkt 5.4 der Entscheidungsbegründung).
14.6 Aus den genannten Gründen hat die Kammer ihre Befugnis nach Artikel 12 (4) VOBK 2007 dahingehend angewendet, den Hauptantrag in das Beschwerdeverfahren zuzulassen.
Auslegung des Anspruchswortlauts
15. Die Beurteilung der Patentfähigkeit erfordert die Auslegung einiger Merkmale der unabhängigen Ansprüche 1 und 7 des Hauptantrags.
15.1 "Bereich der Ringöse"
Beim Heften von gestapelten Druckblättern mittels Ringösenklammern wird der von einer Drahtrolle zugeführte Heftdraht so gebogen, dass er nach außen die Geometrie einer Ringöse bildet (s. Absatz [0004] des Patents). Ein Bauteil befindet sich somit im Bereich der Ringöse, wenn und solange es sich in dem von der Ringöse abgesteckten Raum befindet, d.h. (wenigstens teilweise) von dem die Ringöse bildenden Heftdraht umschlungen wird.
15.2 "weitgehend umgebogen"
Nach Absatz [0012] des Patents wird die Klammerstütze aus dem Bereich der Ringöse herausbewegt, wenn die entsprechende Einrichtung "den Umbiegevorgang so weitgehend abgeschlossen hat, dass keine schädlichen Querkräfte mehr auftreten, die zu einer Verbiegung im Bereich der Ringöse führen können". In ähnlicher Weise verlangen die Absätze [0025] und [0027] des Patents, dass "die Ringösenklammer 2 zu einem Zeitpunkt von dem Stützkörper 17 der Klammerstütze 6 freigeben [wird], zu dem das Umbiegen der Klammerschenkel durch die Klinscher 51, 52 so weit abgeschlossen ist, dass keine Biegespannungen die Form der Ringöse 3 mehr stören können" bzw. dass die Steuereinheit der für die Abwärtsbewegung des Treibers und die Schwenkbewegung der Klammerstütze zuständigen Motoren ein Steuersignal zu dem Zeitpunkt erhält, "zu dem die Klinscher 51, 52 die Schenkel der Klammer 2 so weit umgebogen haben, dass keine schädlichen Querkräfte mehr auftreten".
Selbst wenn man zu Gunsten der Beschwerdegegnerin annimmt, dass sich die Beschreibung der Patentschrift als Wörterbuch zur Auslegung mehrdeutiger Begriffe in den Ansprüchen verwenden lässt, so bleibt doch die Frage, wann denn eine Querkraft als "schädlich" bzw. eine Biegespannung als "störend" anzusehen ist, zumal das Patent keinerlei Angaben zum Verlauf der Querkräfte bzw. Biegespannungen in den Ringösenklammern enthält, woraus der untere Wert, ab dem diese Kräfte oder Spannungen als schädlich bzw. störend gelten, abzuleiten wäre.
Die Beschwerdegegnerin hat stichhaltig dargelegt, dass die Querkräfte in den Ringösenklammern in der Praxis stark mit der Dicke des zu heftenden blattförmigen Materials zusammenhängen. Auf der Grundlage elementarer festigkeitstechnischer Überlegungen ist auch eine Abhängigkeit von der Dicke und vom Material der Ringösenklammern anzunehmen. Daher wäre, wenn man den Anspruchswortlaut nur gestützt auf die Ausführungen in der Beschreibung auslegte, die Bedeutung des Anspruchsmerkmals auch von äußeren Umständen abhängig, die weder in den Ansprüchen noch im Patent definiert sind.
In Anbetracht dessen macht sich die Kammer vorliegend den allgemeinen Wortsinn des Begriffs "weitgehend" zu eigen, nämlich "nahezu gänzlich, nahezu völlig" (s. auch Duden).
15.3 Die Kammer legt das kennzeichnende Merkmal der Ansprüche 1 und 7 daher so aus, dass die Klammerstütze erst dann nicht mehr (vollständig) von dem die Ringöse bildenden Heftdraht umschlungen wird, wenn bzw. nachdem die freien Enden der durch das blattförmige Material durchgestochenen Klammern nahezu völlig umgebogen sind.
Neuheit im Hinblick auf die Druckschrift D1
16. Zwischen den Beteiligten besteht Einigkeit, dass die Merkmale des Oberbegriffs sowohl von Anspruch 1 als auch von Anspruch 7 des Hauptantrags aus der Druckschrift D1 bekannt sind. Strittig ist allerdings, wann die in der Druckschrift D1 offenbarte Klammerstütze 80 aus dem Bereich der Ringöse 156 herausbewegt wird.
17. In der angefochtenen Entscheidung stellte die Einspruchsabteilung im Rahmen des damals vorliegenden dritten Hilfsantrags fest, dass die Klammerstütze nach dem in der Druckschrift D1 vorveröffentlichten Verfahren erst dann aus dem Bereich der Ringöse herausbewegt wird, wenn die durch das blattförmige Material hindurch tretenden Schenkel der Ringösenklammern weitgehend umgebogen sind, bzw. dass der Antrieb der Klammerstütze dementsprechend gesteuert wird (Punkt 5.3.1 der Entscheidungsbegründung: letzter Absatz auf Seite 4 und dritter Absatz auf Seite 5). Als einzige Begründung nannte sie die Spalte 11, Zeilen 19 bis 34 und die Figuren 11 und 12 der Druckschrift D1.
18. Aus dieser Textstelle der Druckschrift D1 leitet die Kammer ab, dass die unten abgebildeten Figuren 11 und 12 die Endposition der unterschiedlichen, sich bewegenden Bauteile darstellen, d.h. die Position am Ende der Abwärtsbewegung des Treibers 95, in der die
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
Klammerschließer oder Klinscher 42 den Biegevorgang der Schenkel 151 unterhalb des zu heftenden Bogenstapels 155 vollständig abgeschlossen haben. Ausweislich der Figurenbeschreibung auf Spalte 3, Zeilen 42 bis 48 ("with the support lever retracted") wird die Klammerstütze 80, inklusive ihres mittleren Abschnitts 85, welcher den Bereich der Ringöse 156 während deren Bildung stützt, in der Endposition nicht länger von dem die Ringöse 156 bildenden Heftdraht umschlungen. Dafür wird laut Spalte 11, Zeilen 19 bis 34 der Treiber 85 eingesetzt, der während seiner Abwärtsbewegung die Klammerstütze 80 nach hinten aus seiner Bewegungsbahn herausdrückt ("cams ... rearwardly out of the way") und gleichzeitig die Schenkel 151 der fertig geformten Klammer 150 durch den zu heftenden Bogenstapel 155 treibt ("through the associated work piece", im Text irrtümlicherweise durch das Bezugszeichen 135 bezeichnet). Währenddessen werden in bekannter Weise die Klinscherbacken nach oben gebracht, um die Schenkel 151 umzubiegen und gegen die untere Seite des Bogenstapels zu drücken ("At the same time ... carried upward to bend ... and clinch ... all in a well known manner").
19. Die Beschwerdegegnerin schließt aus dem letzten Satz auf Spalte 11, Zeilen 25 bis 34, dass der Rückzug der Klammerstütze und der Biegevorgang der Klammerschenkel gleichzeitig stattfänden. Dieser Ansicht kann sich die Kammer jedoch nicht anschließen. In linguistischer Hinsicht bezieht sich der Ausdruck "[a]t the same time" am Anfang des Satzes auf das Prädikat "are carried upward". Durch den Infinitivsatz "to bend ... and clinch" wird zwar das Ziel der Aufwärtsbewegung angegeben, es wird damit aber nicht festgelegt, dass der Biege- und Klinschvorgang zwingend gleichzeitig mit den vorher beschriebenen Handlungen zu erfolgen hat. Stattdessen ist es denkbar, dass die Klammerschenkel erst von den Klinscherbacken umgebogen werden, nachdem die Klammerschenkel vollständig in den Heftstapel eingetrieben sind und die Klammerstütze aus dem Bereich der Ringöse herausgeschwenkt ist. Dies wird auch von der weiteren Beschreibung und den Figuren der Druckschrift D1 nicht ausgeschlossen.
20. Es kann sein, dass es zum Zeitrang des Streitpatents üblich war, die Klinscherbewegung und den Eintreibvorgang in einem Heftkopf gleichzeitig durchzuführen. Das heißt aber nicht, dass dies auch zum maßgeblichen Zeitpunkt der Offenbarung, d.h. dem Veröffentlichungsdatum der Druckschrift D1 (s.
T 205/91, Punkt 4 der Entscheidungsbegründung) der Fall war. Letztlich ist dieser Punkt jedoch von untergeordneter Bedeutung. Denn sogar wenn angenommen würde, dass der Verweis "all in a well known manner" auf Spalte 11, Zeile 29 solche Lösungen umfasst hätte, hat die Beschwerdegegnerin die Kammer nicht davon überzeugt, dass der gleichzeitige Rückzug der Klammerstütze 80 und der Biegevorgang der Klammerschenkel 151 unmittelbar und eindeutig aus dem Gesamtzusammenhang der Druckschrift D1 hervorgeht. Folglich lässt sich nicht ohne Zweifel aus der Offenbarung des vorveröffentlichen Dokuments ableiten, ob die Klammerstütze kurz vor dem Zeitpunkt, an dem die durch den zu heftenden Bogenstapel hindurch tretenden Klammerschenkel der Ringösenklammern nahezu völlig umgebogen sind, noch von dem die Ringöse bildenden Heftdraht umschlungen wird.
21. Somit ist das kennzeichnende Merkmal von Anspruch 1 des Hauptantrags nicht aus der Druckschrift D1 bekannt. Dies gilt auch für das kennzeichnende Merkmal des unabhängigen Vorrichtungsanspruchs 7 des Hauptantrags, das verlangt, dass der Antrieb zur Bewegung der Klammerstütze so ausgestaltet bzw. gesteuert sein muss, dass die Klammerstütze erst dann vollständig aus dem Bereich der Ringöse herausbewegt wird, nachdem die durch das blattförmige Material hindurch tretenden Schenkel der Ringösenklammern weitgehend umgebogen sind. Die Kammer gelangt daher zum Schluss, dass sowohl der Gegenstand von Anspruch 1 als auch der Gegenstand von Anspruch 7 des Hauptantrags gegenüber der Druckschrift D1 neu ist (Artikel 54 (1) und (2) EPÜ 1973).
Zurückverweisung
22. Die angefochtene Entscheidung hat sich ausschließlich mit der Frage der Neuheit im Hinblick auf die Druckschrift D1 befasst. Weder die Neuheit gegenüber der in der Beschwerdeerwiderung neuerlich vorgebrachten behaupteten offenkundigen Vorbenutzung "Universal-Heftkopf 80/3 R" noch die erfinderische Tätigkeit waren Gegenstand der Entscheidung.
23. Die Beschwerdegegnerin hatte bereits mit der Einspruchsschrift unter Vorlage der Dokumente E1, E3, E4 und der Videofilme E2 sowie unter Angebot dreier Zeugen diese Vorbenutzung geltend gemacht. Zwar hat die Einspruchsabteilung im Anhang zur Ladung zur mündlichen Verhandlung indirekt zum Ausdruck gebracht, dass die Vorbenutzung für die Frage der Neuheit hinsichtlich der Ansprüche in erteilter Fassung durchaus relevant sein könnte (s. Punkt 4.4.2 der Mitteilung vom 20. Oktober 2015: "[d]ie Dokumente E1 bis E4 offenbaren schon die Merkmale der Oberbegriffe der Ansprüche 1 und 4 des Hauptantrags"). Jedoch hat sich die Einspruchsabteilung weder mit der Frage der Substantiierung noch mit der Frage, ob die behauptete offenkundige Vorbenutzung als bewiesen anzusehen ist, auseinandergesetzt.
Die Beschwerdeführerin hat in ihren Schreiben vom 11. Januar 2018 und vom 17. Oktober 2019 beanstandet, dass die vorliegenden Angaben zur offenkundigen Vorbenutzung "zumindest hinsichtlich der notwendigen Substantiierung der Umstände der Benutzung unzureichend" seien und deshalb die offenkundige Vorbenutzung "nicht vollständig substantiiert" sei.
24. Ferner hat die Beschwerdegegnerin in der Beschwerdeerwiderung geltend gemacht, dass der Gegenstand von Anspruch 1 bzw. 7 des Hauptantrags ausgehend entweder von der Druckschrift D1 oder von der offenkundigen Vorbenutzung in Verbindung mit der Druckschrift D2 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe.
Zur erfinderischen Tätigkeit hat die Beschwerdeführerin im Beschwerdeverfahren lediglich vorgetragen, dass die Druckschrift D1 "weder Hinweise auf die dem angefochtenen Patent zugrundeliegende Aufgabe (B1-Schrift, Absatz [0009]) noch auf diesbezügliche Lösungsmerkmale" enthalte (Punkt 2.2 der Beschwerdebegründung).
25. Da bisher weder die behauptete offenkundige Vorbenutzung diskutiert noch der Einspruchsgrund der mangelnden erfinderischen Tätigkeit geprüft worden ist, und weil sich im Beschwerdeverfahren zu diesen Punkten nicht alle Beteiligten umfassend geäußert haben, stellen die Umstände des vorliegenden Falles besondere Gründe im Sinne von Artikel 11 VOBK 2020 dar, so dass es die Kammer für angebracht hält, die Angelegenheit in Einklang mit Artikel 111 (1) EPÜ 1973 zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
3. Die Angelegenheit wird zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen.