T 1128/21 01-02-2024
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Steuerung eines modularen Stromrichters mit verteilten Energiespeichern
Hauptantrag - Gegenstand geht über den Inhalt der früheren Anmeldung hinaus (ja)
Hilfsanträge 1 bis 3 - Ermessen Vorbringen nicht zuzulassen - Voraussetzungen des Art. 12 (3) VOBK 2020 erfüllt (nein)
Hilfsantrag 1a - Änderung nach Ladung - berücksichtigt (nein)
I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung über die Zurückweisung des Einspruchs gegen das europäische Patent Nr. 2 100 364.
II. In der angefochtenen Entscheidung war die Einspruchsabteilung zu dem Schluss gelangt, dass die Einspruchsgründe nach Artikel 100 a) in Verbindung mit Artikel 54 und 56 EPÜ sowie nach Artikel 100 b) und 100 c) EPÜ der Aufrechterhaltung des angefochtenen Patents nicht entgegenstehen.
III. In einer der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK teilte die Kammer den Parteien ihre vorläufige Meinung mit, wonach der Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents entgegensteht und die Hilfsanträge 1 bis 3 nach Artikel 12 (5) VOBK im Beschwerdeverfahren nicht zu berücksichtigen sein dürften.
IV. Eine mündliche Verhandlung vor der Kammer fand am 1. Februar 2024 als Videokonferenz statt.
Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung sowie den Widerruf des angefochtenen Patents.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte abschließend, die Beschwerde zurückzuweisen, hilfsweise, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent in geänderter Fassung auf der Grundlage eines der Hilfsanträge 1 bis 3, eingereicht mit Schriftsatz vom 19. Februar 2021 aufrechtzuerhalten, weiter hilfsweise auf Grundlage des in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsantrags 1a als vierter Hilfsantrag.
V. Anspruch 1 des erteilten Patents (Hauptantrag) hat den folgenden Wortlaut (Merkmalsbezeichnungen in Klammern kammerseitig hinzugefügt):
"[a] Vorrichtung (1) zum Umrichten eines elektrischen Stromes mit wenigstens einem Phasenmodul (2a,2b,2c), das einen Wechselspannungsanschluss (31,32,33) und wenigstens einen Gleichspannungsanschluss (p,n) aufweist, wobei zwischen jedem Gleichspannungsanschluss (p,n) und jedem Wechselspannungsanschluss (31,32,33) ein Phasenmodulzweig (6p1,6p2,6p3,6n1,6n2,6n3) ausgebildet ist, und wobei jeder Phasenmodulzweig (6p1,6p2,6p3,6n1,6n2,6n3) über eine Reihenschaltung aus Submodulen (7) verfügt, die jeweils einen Kondensator (8) und wenigstens zwei Leistungshalbleiter (Tl,T2) aufweisen,
[b] - mit Messsensoren zum Bereitstellen von Istwerten und
[c] - mit Regelungsmitteln (9,10), die mit den Messsensoren verbunden und zum Regeln der Vorrichtung (1) in Abhängigkeit der Istwerte und vorgegebener Sollwerte eingerichtet sind, dadurch gekennzeichnet, dass
[d] die Regelungsmittel (9,10) eine Stromregeleinheit (10) und jeweils einem Phasenmodulzweig zugeordnete Ansteuereinheiten aufweisen, wobei die Stromregeleinheit (10) zum Bereitstellen von Zweigspannungssollwerten für die Ansteuereinheiten (9) eingerichtet ist und die Ansteuereinheiten zwischen die Submodule (7) und die Stromregeleinheit (10) geschaltet und zur Erzeugung von Steuersignalen für die besagten Submodule eingerichtet sind,
[e] - wobei die Ansteuereinheiten Kondensatorspannungswerte sämtlicher Submodule des ihr zugeordneten Phasenmodulzweiges als Submodul-Istwerte erhalten, diese Submodul-Istwerte zum Erhalt eines Zweigenergieistwertes summieren und den Zweigenergieistwert der Stromregeleinheit zuführen,
[f] - wobei die Ansteuereinheiten von der Stromregeleinheit einen Zweigspannungssollwert erhalten,
[g] - und wobei die Ansteuereinheiten Steuersignale für die ihnen zugeordneten Submodule erzeugen derart, dass die an der Reihenschaltung dieser Submodule anfallende Spannung dem jeweiligen Zweigspannungssollwert möglichst entspricht."
VI. Im Hinblick auf die zu den Hilfsanträgen 1 bis 3 und 1a getroffene Entscheidung, die ausschließlich die Zulassung dieser Hilfsanträge betrifft, ist es nicht erforderlich, deren Wortlaut hier wiederzugeben.
VII. Die Beschwerdeführerin argumentierte im Wesentlichen, dass das Merkmal e des Anspruchs 1 des erteilten Patents über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehe und der Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents damit entgegenstehe. Die Hilfsanträge 1 bis 3 und 1a seien im Beschwerdeverfahren nicht zuzulassen.
VIII. Die Beschwerdegegnerin vertrat im Wesentlichen die Auffassung, dass sich aus Anspruch 1 implizit ergebe, dass die Kondensatorspannungswerte durch Submodulspannungssensoren erfasst werden. Die betreffende Änderung gemäß Merkmal e sei daher zulässig. Die Hilfsanträge 1 bis 3 und 1a seien in das Beschwerdeverfahren zuzulassen.
Auf die detaillierten Argumente der Parteien wird in den Entscheidungsgründen Bezug genommen.
1. Hauptantrag - Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ
1.1 Anspruch 1 in der erteilten Fassung gemäß Hauptantrag geht über den Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung hinaus.
1.2 Das Merkmal e des Anspruchs 1, welches im Laufe des Prüfungsverfahrens in den Anspruch 1 aufgenommen wurde, lautet wie folgt:
"wobei die Ansteuereinheiten Kondensatorspannungswerte sämtlicher Submodule des ihr zugeordneten Phasenmodulzweiges als Submodul-Istwerte erhalten, diese Submodul-Istwerte zum Erhalt eines Zweigenergieistwertes summieren und den Zweigenergieistwert der Stromregeleinheit zuführen,"
1.3 Die Beschwerdeführerin hat im Wesentlichen argumentiert, dass sich das oben genannte Merkmal, wonach die Ansteuereinheiten Kondensatorspannungswerte sämtlicher Submodule des ihr zugeordneten Phasenmodulzweiges als Submodul-Istwerte erhalten, in seiner Breite nicht aus den ursprünglich offenbarten Unterlagen ergebe. Insbesondere hat sie dargelegt, dass Anspruch 1 in der erteilten Fassung ursprünglich nicht offenbarte technische Sachverhalte umfasse. Der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag sei nämlich nicht, auch nicht implizit, darauf beschränkt, dass die Antriebseinheiten die Kondensatorspannungswerte von Messsensoren der Submodule erhalten. Vielmehr sei von Anspruch 1 auch der Erhalt von Kondensatorspannungswerten auf andere Weise, beispielsweise durch Schätzung und insbesondere auch durch Bereitstellung mittels einer anderen Einheit als dem Submodul, umfasst. Dies sei in technischer Hinsicht plausibel und nicht ausgeschlossen, woraus folge, dass die Fachperson das Merkmal e im Kontext des Anspruchs 1 nicht zwingend so verstehen würde, dass der Erhalt der Kondensatorspannungswerte durch einen Submodulsensor erfolgt, der eine an dem Kondensator des jeweiligen Submoduls abfallende Spannung erfasst und diesen Wert als Submodul-Istwert an die Ansteuereinheit bereitstellt.
Die in Merkmal b des Anspruchs 1 allgemein genannten Messsensoren zum Bereitstellen von Istwerten ließen im Übrigen keinen eindeutigen Zusammenhang mit den Ansteuereinheiten gemäß Merkmal e erkennen.
1.4 Die Beschwerdegegnerin hat nicht bestritten, dass in der ursprünglichen Anmeldung nur offenbart ist, dass die Ansteuereinheiten die Kondensatorspannungswerte von Messsensoren der Submodule erhalten, wie es insbesondere in der ursprünglichen Beschreibung auf Seite 2, Zeilen 28 bis 30, sowie in dem ursprünglichen abhängigen Anspruch 2, definiert wird. Jedoch machte sie geltend, dass die Fachperson den Anspruch 1 implizit nur in diesem Sinne interpretiert hätte, sodass sein Gegenstand also nichts umfasse, was über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Anmeldung hinausgehe. Insbesondere sei der Anspruch 1 in seiner Gesamtheit zu interpretieren. Demnach seien die Ansteuereinheiten gemäß Merkmal d zwischen die Submodule und die Stromregeleinheit geschaltet, sodass die Fachperson unmittelbar verstanden hätte, dass die Kondensatorspannungswerte nur direkt von den Submodulen aus zu den Ansteuereinheiten gelangen können. Hingegen sei in technischer Hinsicht nicht nachvollziehbar und sogar unlogisch, wie und warum die Kondensatorspannungswerte von der Stromregeleinheit oder von einer anderen nicht näher spezifizierten Einheit zu den Ansteuereinheiten gelangen sollten. Die Fachperson hätte darüber hinaus unmittelbar verstanden, dass es sich bei den in Merkmal b genannten "Messsensoren zum Bereitstellen von Istwerten", zwingend um Submodulsensoren handelt, um die Kondensatorspannungswerte als Submodul-Istwerte im Sinne des Merkmals e für die Ansteuereinheit bereitzustellen. Ungeachtet dessen hätte die Fachperson den Begriff "Istwert" in Merkmal e aus sich heraus im Sinne eines Messwerts aufgefasst.
Insgesamt gehe damit eindeutig aus dem Anspruch 1 hervor, dass die in Merkmal e definierten Kondensatorspannungswerte als Submodul-Istwerte durch entsprechende Submodulsensoren in den Submodulen erfasst und für die Ansteuereinheit bereitgestellt werden. Ein entsprechendes Verständnis des Anspruchs 1 ergebe sich auch durch seine strukturelle Unterteilung in Oberbegriff und kennzeichnenden Teil, sodass für die Fachperson auch aus diesem Grund klar erkennbar war, dass es sich bei den im Oberbegriff genannten, durch Messsensoren bereitgestellten Istwerten, um die im kennzeichnenden Teil, insbesondere in Merkmal e genannten Kondensatorspannungswerte als Submodul-Istwerte handelt, die somit zwingend durch Submodulsensoren in den Submodulen erfasst und für die Ansteuereinheit bereitgestellt werden.
1.5 Die Einspruchsabteilung ist der Auffassung der Beschwerdegegnerin in der angefochtenen Entscheidung gefolgt. Insbesondere hat sie festgestellt, dass der Anspruch 1 bereits sinngemäß die Erfassung von Kondensatorspannungswerten als Submodul-Istwerte in den jeweiligen Submodulen durch entsprechende Erfassungsmittel umfasse (siehe Punkt 5.16 der Gründe für die angefochtene Entscheidung).
1.6 Unstreitig war somit insgesamt, dass die ursprünglichen Anmeldungsunterlagen in ihrer Gesamtheit ausschließlich Ansteuereinheiten offenbaren, welche die Kondensatorspannungswerte als gemessene Submodul-Istwerte von entsprechenden Submodulsensoren der Submodule unmittelbar erhalten, wie dies insbesondere aus Seite 4, Zeilen 25 bis 30, Seite 5, Zeilen 26 bis 30 und Seite 7 unten bis Seite 8 oben der ursprünglichen Beschreibung sowie aus den Figuren 2 und 3 und dem ursprünglichen Ansprüche 2 und 3 hervorgeht.
1.7 Für die Beurteilung der Zulässigkeit der gemäß Merkmal e vorgenommenen Änderung des erteilten Anspruchs 1 kommt es daher entscheidend auf die Beantwortung der Frage an, ob die Fachperson dem Anspruch 1 in seiner Gesamtheit im Rahmen einer impliziten Offenbarung unmittelbar und eindeutig nichts anderes entnehmen konnte, als dass die Kondensatorspannungswerte mittels eines entsprechenden Submodulsensors im Submodul erfasst werden und der Ansteuereinheit bereitgestellt werden. Die Kammer ist hiervon nicht überzeugt. Aus Anspruch 1 gemäß Hauptantrag ergibt sich nicht, auch nicht implizit, dass die Kondensatorspannungswerte sämtlicher Submodule als Submodul-Istwerte von Submodul-Messsensoren, und insbesondere von den Messsensoren gemäß Merkmal b zum Bereitstellen von Istwerten, von der Ansteuereinheit erhalten werden.
1.8 Der Beschwerdegegnerin ist zunächst darin zuzustimmen, dass der Schutzbereich von Anspruch 1 im technischen Kontext des gesamten beanspruchten Gegenstands auszulegen ist. Nichtsdestotrotz kann eine technische Information grundsätzlich nur dann als den Schutzbereich einschränkend angesehen werden, wenn die Fachperson diese technische Information zumindest implizit als zum Inhalt des beanspruchten Gegenstands gehörend erkennt. Eine entsprechende technische Information muss sich der Fachperson dann zwangsläufig beim Lesen des Anspruchs 1 erschließen.
Im vorliegen Fall erkennt die Fachperson jedoch nicht zwangsläufig beim Lesen des Anspruchs 1, dass die Kondensatorspannungswerte gemäß Merkmal e als Submodul-Istwerte von einem (in Anspruch 1 nicht spezifizierten) Submodulsensor des Submoduls bereitgestellt werden. Dieses Merkmal ist vielmehr erst Gegenstand des erteilten abhängigen Anspruchs 2. Anspruch 1 lässt hingegen völlig offen, wie die Ansteuereinheit Kondensatorspannungswerte sämtlicher Submodule des ihr zugeordneten Phasenmodulzweigs als Submodul-Istwerte erhält.
1.9 Nichts anderes ergibt sich unter Berücksichtigung der weiteren Merkmale des zweiteilig abgefassten Anspruchs 1, insbesondere der Merkmale b, c und d. Das Merkmal b des Anspruchs 1 definiert allgemein das Vorhandensein von Messsensoren zum Bereitstellen von Istwerten. Nach Merkmal c sind die Messsensoren ferner mit Regelungsmitteln verbunden, die zum Regeln der Vorrichtung in Abhängigkeit der Istwerte und vorgegebener Sollwerte eingerichtet sind. Ferner ergibt sich aus Merkmal d, u.a. dass die Regelungsmittel eine Stromregeleinheit und jeweils einem Phasenmodulzweig zugeordnete Ansteuereinheiten aufweisen und die Ansteuereinheiten zwischen die Submodule und die Stromregeleinheit geschaltet sind.
In diesem Kontext ist das Merkmal e zu lesen, welches zwar ausdrücklich besagt, dass die Ansteuereinheiten Kondensatorspannungswerte sämtlicher Submodule des ihr zugeordneten Phasenmodulzweigs als Submodul-Istwerte erhalten. Wie oben bereits dargelegt, spezifiziert das Merkmal e jedoch weder explizit noch implizit, dass die Ansteuereinheit den Submodul-Istwert von in den Submodulen befindlichen Submodulsensoren erhalten.
Dieser technische Umstand ergibt sich auch nicht zwingend allein durch die Tatsache, dass die Ansteuereinheiten zwischen die Submodule und die Stromregeleinheit im Sinne des Merkmals d geschaltet sind, denn eine entsprechende Anordnung schließt nicht aus, dass die Ansteuereinheit Kondensatorspannungswerte als Submodul-Istwerte von einer anderen Einheit als von einem Submodulsensor oder durch Schätzung erhält.
Es besteht auch kein eindeutiger Zusammenhang zwischen den "Istwerten", die von Messsensoren gemäß Merkmal b bereitgestellt werden, und den "Submodul-Istwerten" gemäß Merkmal e. Aus Merkmal b ergibt sich nicht einmal unmittelbar, dass die dort genannten Messsensoren zwingend Submodul-Messsensoren bzw. Submodulsensoren sein müssen. Vielmehr können die Messsensoren nach dem erteilten abhängigen Anspruch 5 "Zweigstromsensoren umfassen, die zum Messen von Phasenzweigströmen (Izwg) eingerichtet sind".
Aus der gebotenen Gesamtbetrachtung der Ansprüche ergibt sich für die Fachperson somit zweifelsfrei, dass es sich bei den Messsensoren im Sinne des Merkmals b nicht notwendigerweise um Submodulsensoren eines Submoduls zur Bereitstellung von Kondensatorspannungswerten im Sinne des erteilten abhängigen Anspruchs 2 handelt. Ergänzend wird auch auf die ursprüngliche Beschreibung auf Seite 18, Zeile 18 bis Seite 19, Zeile 4 bzw. Absatz [0038] des Patents verwiesen, wonach die Stromregeleinheit (nicht die Ansteuereinheiten) mit verschiedenen Messsensoren verbunden ist und von diesen Phasenstrommesswerte, Phasenmodulzweigstrommesswerte und Gleichstrommesswerte sowie entsprechende Spannungsmesswerte erhält.
1.10 Ferner stellt die Kammer fest, dass ein Kondensatorspannungswert in Form eines Submodul-Istwerts nicht notwendigerweise ein gemessener Spannungswert ist. Insbesondere lässt Anspruch 1, wie oben dargelegt, weder eine explizite noch eine implizite Verbindung zwischen den von Messsensoren gelieferten "Istwerten" gemäß Merkmal b und den "Submodul-Istwerten" gemäß Merkmal e erkennen. Die Kammer teilt auch nicht die Auffassung der Beschwerdegegnerin, dass der Begriff "Istwert" von der Fachperson im Sinne eines Messwerts verstanden worden wäre. Wie die Beschwerdegegnerin zutreffend ausgeführt hat, kann ein Istwert auch durch Schätzung ermittelt werden. Dem Begriff "Submodul-Istwert" ist schon gar nicht die Bedeutung inhärent, dass der Istwert durch einen im Submodul befindlichen Submodulsensor erfasst wird.
1.11 Insgesamt ist die Kammer daher zu dem Schluss gelangt, dass die Vorrichtung nach Anspruch 1 nicht implizit darauf beschränkt ist, dass jedes Submodul über einen Submodulsensor verfügt, der einen Kondensatorspannungswert in Form eines Submodul-Istwerts an die Ansteuereinheit bereitstellt, entsprechend der unstreitig einzigen in dieser Hinsicht ursprünglich offenbarten Ausführungsform der Erfindung.
Vielmehr umfasst der Gegenstand des Anspruchs 1 Ausführungsformen, bei denen die Ansteuereinheiten die Kondensatorspannungswerte als Submodul-Istwerte von einer anderen Einheit, wie beispielsweise der Stromregeleinheit bzw. eine andere geeignete Einheit, oder durch Schätzung erhalten. Diese Varianten sind in technischer Hinsicht keineswegs abwegig, sodass nicht ausgeschlossen ist, dass eine Fachperson sie bei der Interpretation des beanspruchten Gegenstands in Betracht gezogen hätte.
Dem steht auch nicht das Argument der Beschwerdegegnerin entgegen, diese Alternativlösungen seien technisch unlogisch oder umständlicher (von der Beschwerdegegnerin anhand eines hypothetischen Problems von Stadtwerken erläutert, Informationen über den Badewasserverbrauch von Kunden zu erhalten). Entscheidend ist vorliegend vielmehr, dass die Fachperson die im Patent beschriebene Lösung im Hinblick auf Submodulsensoren in jedem Submodul zur Ermittlung der Kondensatorspannungswerte als Submodul-Istwerte und deren Bereitstellung an die Ansteuereinheit, nicht als die einzige vom beanspruchten Gegenstand in seiner Gesamtheit erfasste Lösung erkennen würde.
1.12 Darüber hinaus kann die Kammer nicht erkennen, dass die oben dargelegten alternativen Lösungen zum Erhalt der Kondensatorspannungswerte als Submodul-Istwerte durch die Ansteuereinheit in Widerspruch zu der Gesamtheit der technischen Merkmale von Anspruch 1 stehen. Die Beschwerdeführerin hat in diesem Zusammenhang zutreffend dargelegt, dass allein die Tatsache, dass die Ansteuereinheiten zwischen die Submodule und die Stromregeleinheit geschaltet sind, den Erhalt der Kondensatorspannungswerte von einer anderen, nicht weiter spezifizierten Einheit nicht ausschließt.
1.13 Die Kammer ist daher zu dem Schluss gelangt, dass der Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents entgegensteht.
2. Hilfsanträge 1 bis 3 - Zulassung in das Beschwerdeverfahren
2.1 Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, dass die Hilfsanträge 1 bis 3 mangels hinreichender Substantiierung unter Artikel 12 (3) VOBK nicht zugelassen werden sollten. Aus dem schriftlichen Vortrag der Beschwerdegegnerin sei insbesondere nicht erkennbar, welche Einwände adressiert werden sollen und warum diese überwunden werden. Zudem seien die Änderungen nicht geeignet, die in der Beschwerdebegründung geltend gemachten Einwände nach Artikel 100 a), b) und c) EPÜ zu überwinden, wie im Schriftsatz vom 21. Juni 2022 im Einzelnen dargelegt worden sei.
2.2 Die Beschwerdegegnerin beantragt, die Hilfsanträge 1 bis 3 in das Beschwerdeverfahren im Rahmen des Ermessens der Kammer zuzulassen, weil sonst der Widerruf eines "guten Patents" drohe. Insoweit sei insbesondere zu berücksichtigen, dass die Hilfsanträge im Einspruchsverfahren rechtzeitig eingereicht worden seien, obwohl - aufgrund der positiven Einschätzung der Einspruchsabteilung - seinerzeit keine Veranlassung zur Einreichung von Anträgen bestanden habe. Die Anträge seien zudem aus sich heraus verständlich. Dies sei nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern (T 319/18) ein Grund für die Zulassung der Anträge. Insbesondere für Hilfsantrag 1 sei klar erkennbar, dass dieser zur Überwindung des Einspruchsgrundes unter Artikel 100 c) EPÜ eingereicht worden sei. Es seien Merkmale aus den Patentansprüchen 2 und 3 aufgenommen worden, die erkennbar zur Ausräumung der von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Einwände geeignet seien. Auch die Grundlage der Änderungen sei erkennbar gewesen, weil auf die erteilten Patentansprüche 2 und 3 hingewiesen worden sei. Der erteilte Patentanspruch 2 sei zudem identisch mit dem ursprünglich eingereichten Anspruch 1. Es seien zwar nicht sämtliche Merkmale aus Patentanspruch 2 und 3 übernommen worden. Dies sei jedoch erkennbar als Reaktion auf den Einwand der Beschwerdeführerin, dass eine unzulässige Zwischenverallgemeinerung vorliege, erfolgt. Dabei seien nur wesentliche Merkmale aus den Unteransprüchen übernommen worden. Merkmale, die nicht relevant gewesen seien, seien nicht übernommen worden. Die Grundlage dafür biete die Beschreibung.
2.3 Die Kammer hat ihr Ermessen auf Grundlage von Artikel 12 (3) und (5) VOBK 2020 dahingehend ausgeübt, die Hilfsanträge 1 bis 3 mangels hinreichender Substantiierung nicht zuzulassen.
Die Beschwerdegegnerin hat dargelegt, dass die Anträge bereits im Einspruchsverfahren innerhalb der von der Einspruchsabteilung gesetzten (verlängerten) Frist nach Regel 116 EPÜ eingelegt wurden. Die Hilfsanträge gelten daher nicht als Änderung im Sinne von Artikel 12 (4) VOBK 2020. Die Hilfsanträge 1 bis 3 sind folglich auf Grundlage des in der mündlichen Verhandlung erörterten Artikels 12 (3) VOBK 2020 zu beurteilen.
2.3.1 Wirksame Einreichung trotz Substantiierungsmangels
Die Hilfsanträge 1 bis 3 wurden wirksam eingereicht. Dies wurde von den Parteien auch nicht in Frage gestellt. In den Beschwerdekammern wird allerdings teilweise vertreten, dass unsubstantiierte Anträge, die nicht selbsterklärend sind, erst zu dem Zeitpunkt als eingereicht gelten, zu dem eine ausreichende Substantiierung erfolgt (vgl. z.B. T 1732/10, Gründe 1.5; T 1426/17, Gründe 2.1). Diese Ansicht wird von der vorliegenden Kammer nicht geteilt. Vielmehr ist zwischen der Einreichung eines Antrags mit geänderten Patentansprüchen und der Frage einer hinreichenden Substantiierung dieses Antrags zu unterscheiden (ebenso T 1220/21, Gründe 4.2). Dies ergibt sich systematisch aus Artikel 12 (3) und (5) VOBK 2020. Danach ist die Zulassung eines Antrags, auch wenn er nicht hinreichend substantiiert wurde, von der Kammer zu prüfen. Eine solche Prüfung und die Möglichkeit, einen Antrag trotz unzureichender Substantiierung zuzulassen, setzt voraus, dass der Antrag trotz eines Substantiierungsmangels anhängig ist, d.h. wirksam eingereicht wurde. Während das Fehlen einer Substantiierung die Zulassung des Antrags in das Ermessen der Kammer stellt, gibt es ausgehend von Artikel 12 (3) und (5) VOBK 2020 daher nach Ansicht der Kammer keine Grundlage für die Schlussfolgerung, dass ein Antrag nicht gültig eingereicht wurde, nur weil er nicht oder nicht ausreichend substantiiert wurde.
2.3.2 Art und Umfang der Substantiierung unter Artikel 12 (3) VOBK 2020
Die Hilfsanträge 1 bis 3 genügen nicht den Erfordernissen an eine hinreichende Substantiierung nach Artikel 12 (3) VOBK 2020.
Artikel 12 (3) VOBK 2020 sieht vor, dass die Parteien deutlich und knapp angeben müssen, aus welchen Gründen beantragt wird, die angefochtene Entscheidung aufzuheben, abzuändern oder zu bestätigen. Sie müssen ausdrücklich alle geltend gemachten Anträge, Tatsachen, Einwände, Beweise und Argumente im Einzelnen anführen. Diese Bestimmungen spiegeln wider, dass es nicht Aufgabe der Kammer oder der gegnerischen Partei ist, über die Absichten und Grundlagen, die dem Vorbringen der Parteien zugrunde liegen (siehe auch T 2115/17, Gründe 6.1.3) zu spekulieren oder das erstinstanzliche Vorbringen nach etwaigen (ergänzenden) Erklärungen zu durchsuchen.
Das Erfordernis der Substantiierung nach Artikel 12 (3) VOBK 2020 gilt zudem auch dann, wenn der Einspruch im erstinstanzlichen Verfahren zurückgewiesen wurde und der Patentinhaber ? wie hier - im Beschwerdeverfahren lediglich als Beschwerdegegner beteiligt ist. Nach Artikel 12 (3) VOBK 2020 muss nämlich jeder Beteiligte klar und prägnant begründen, warum die Aufhebung, Aufrechterhaltung oder Abänderung der angefochtenen Entscheidung beantragt wird, wobei alle geltend gemachten Argumente ausdrücklich anzugeben sind. Beantragt der Patentinhaber im Beschwerdeverfahren die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage eines Anspruchsantrags, der nicht dem in der angefochtenen Entscheidung für zulässig befundenen Anspruch entspricht, bedeutet dies, dass die angefochtene Entscheidung geändert werden soll, was gemäß Artikel 12 (3) VOBK 2020 zu begründen ist. Der Umstand, dass die Einspruchsabteilung den Einspruch zurückgewiesen hat und im Einspruchsverfahren keine Veranlassung zur Einreichung von Hilfsanträgen bestand, entbindet die Beschwerdegegnerin daher entgegen ihrer Ansicht nicht davon, die Anträge zu substantiieren, sobald sie im Beschwerdeverfahren eingereicht werden.
Selbst wenn ein geänderter Antrag auch ohne ausdrückliche Erläuterung als selbsterklärend angesehen würde, was vorliegend indes nicht der Fall ist (näher s.u.), würde er nicht diesem in Artikel 12 (3) VOBK 2020 festgelegten Standard genügen, der die ausdrückliche Angabe der Anträge und der ihnen zugrunde liegenden Tatsachen und Argumente im Einzelnen verlangt. Eine ausdrückliche Begründung kann nicht mit einer Eingabe gleichgesetzt werden, die die Gründe nur implizit erkennen lässt (vgl. T 2598/12, Gründe 1.10). Daher unterliegt auch ein Antrag, der selbsterklärend ist, der Ermessensentscheidung der Kammer (ebenso z. B. Beschluss in T 568/14, Gründe 8.4 und 8.5, in denen über die Zulassung des Antrags entschieden wurde, obwohl er als selbsterklärend angesehen wurde). Die Beschwerdegegnerin hat jedoch zutreffend darauf hingewiesen, dass der Umstand, dass eine Eingabe selbsterklärend ist, bei den im Rahmen der Ermessensausübung anzuwendenden Kriterien zu berücksichtigen ist.
Das erforderliche Maß an Substantiierung gemäß Artikel 12 (3) VOBK 2020 hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab. Ein Patentinhaber, der einen Antrag mit Änderungen einreicht, hat in der Regel ausdrücklich und im Einzelnen mitzuteilen:
- wo in der ursprünglich eingereichten Anmeldung für jede der in den Ansprüchen vorgenommene Änderung die Grundlage zu finden ist,
- welche Einwände ausgeräumt werden sollen und
- warum die jeweilige Änderung geeignet sein soll, die erhobenen Einwände auszuräumen.
Diese Anforderungen werden von den Beschwerdekammern in ständiger Rechtsprechung sowohl für Artikel 12 (3) VOBK 2020 als auch für Artikel 12 (2) VOBK 2007 zugrunde gelegt (siehe z.B. die von der Beschwerdegegnerin zitierte Entscheidung T 319/18, Gründe 2.1, weitere Nachweise in: Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage 2022, V.A.5.12.6) und entsprechen den in Artikel 12 (4) Satz 3 und 4 VOBK 2020 normierten Kriterien, die für die Substantiierung von Anträgen anzuwenden sind, die als Änderung nach Artikel 12 (4) 1. Halbsatz VOBK 2020 gelten. Nach Ansicht der Kammer gibt es keinen Grund, einen anderen Maßstab anzulegen, wenn der Antrag - wie im vorliegenden Fall - nicht als Änderung im Sinne von Artikel 12 (4) VOBK 2020 gilt. Der Umstand, dass der Antrag bereits erstinstanzlich in zulässiger Weise eingereicht wurde, entbindet eine Partei nämlich nicht von ihrer Pflicht, den Antrag zu substantiieren.
Der konkrete Umfang und die Detailliertheit der Erläuterungen, die zur Substantiierung eines Antrags mit geänderten Patentansprüchen notwendig sind, lassen sich allerdings nicht absolut bestimmen, sondern hängen von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab. Hierbei kann z.B. von Bedeutung sein, wie detailliert der Einwand, der ausgeräumt werden soll, in der angefochtenen Entscheidung von der Kammer oder vom Einsprechenden begründet wurde (T 1659/20, Gründe 2.1). Darüber hinaus kann der erforderliche Grad der Ausführlichkeit davon abhängen, wie sich die Darlegungen zu einem Einwand im Verlauf des Verfahrens entwickeln. Je spezifischer zu einem Einwand vorgetragen wird, je genauer muss auch dargelegt werden, warum der Einwand durch die vorgenommenen Änderungen ausgeräumt wird.
2.3.3 Substantiierung im schriftlichen Verfahren
Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdegegnerin im schriftlichen Verfahren lediglich vorgetragen, dass in die unabhängigen Patentansprüche 1 und 8 im Hilfsantrag 1 jeweils Merkmale der bisherigen Patentansprüche 2 und 3 eingefügt wurden, im Hilfsantrag 2 jeweils Merkmale des bisherigen Patentanspruchs 10 und in Hilfsantrag 3 jeweils die Merkmale der bisherigen Patentansprüche 10 und 11. Angaben zur Grundlage in der ursprünglichen Anmeldung wurden nicht gemacht.
Diese Angaben der Beschwerdegegnerin zur Grundlage der Änderungen genügen nicht dem Substantiierungserfordernis des Artikel 12 (3) VOBK 2020. Die bloße Benennung der erteilten Patentansprüche als Grundlage für die vorgenommenen Änderungen ohne nähere Erläuterung genügt nicht, wenn abhängige Ansprüche - wie hier - nur teilweise, d.h. nicht mit sämtlichen Merkmalen, übernommen werden und ein entsprechend verkürzter abhängiger Anspruch ohne nähere Erklärung im Antrag bestehen bleibt. Gleiches gilt, im Falle der Kombination eines unabhängigen erteilten Anspruchs mit einem anderen erteilten Anspruch, der nicht auf diesen rückbezogen ist (vgl. Hilfsantrag 1 für die Kombinationen mit dem erteilten Patentanspruch 8, Hilfsanträge 2 und 3 für Kombinationen mit dem erteilten Patentanspruch 10 bzw. 11).
Die Beschwerdegegnerin hat in ihrem schriftlichen Vortrag auch nicht angegeben, welche Einwände die Änderungen überwinden sollen, obwohl die Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerde Einwände auf die Einspruchsgründe nach Artikel 100 a), b) und c) gestützt hat. Zudem hat die Beschwerdeführerin ihren Einwand unter Artikel 100 c) EPÜ gegen mehrere Anspruchsmerkmale gerichtet und den Einwand der fehlenden Neuheit und erfinderischen Tätigkeit auf mehrere Dokumente gestützt. Die Beschwerdegegnerin hat zudem auch nicht vorgetragen, warum die Änderungen geeignet sein sollen, die jeweiligen Einwände zu überwinden.
2.3.4 Substantiierung in der mündlichen Verhandlung - Zulassung
Der Substantiierungsmangel konnte auch nicht durch die neuen Ausführungen der Beschwerdegegnerin in der mündlichen Verhandlung geheilt werden.
Diese Ausführungen erfolgten erst nach der Ladung zur mündlichen Verhandlung und der Zustellung einer Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 und wären daher gemäß Artikel 13 (2) VOBK 2020 nur zu berücksichtigen, wenn die Beschwerdegegnerin stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt hätte, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen. Solche außergewöhnlichen Umstände sind indes nicht ersichtlich. Auch der von der Beschwerdegegnerin im Zusammenhang mit der Zulassung von Hilfsantrag 1a mitgeteilte Hinweis, dass der zuständige Bearbeiter des vorliegenden Beschwerdeverfahrens seit längerem erkrankt sei, vermag solche Umstände nicht zu begründen, denn eine Substantiierung hätte nach Artikel 12 (3) VOBK 2020 bereits unmittelbar mit der Einreichung der Hilfsanträge in der Beschwerdeerwiderung erfolgen müssen.
Ungeachtet dessen waren die weiteren Ausführungen in der mündlichen Verhandlung aber auch nicht geeignet, eine hinreichende Substantiierung zu gewährleisten. Die Beschwerdegegnerin hat in der Verhandlung dargelegt, dass die Änderungen in Hilfsantrag 1 den Einwand der unzulässigen Zwischenverallgemeinerung ausräumen sollten und dass deshalb nur die Merkmale aus den erteilten Ansprüchen 2 und 3 aufgenommen worden seien, die für die Überwindung des Einwands der unzulässigen Erweiterung relevant gewesen seien. Die Beschreibung biete dafür die Stütze. Aus diesem vagen Vortrag ist indes nicht erkennbar, auf welche Grundlage in der ursprünglichen Beschreibung die vereinzelte Übernahme von Merkmalen sich gründen soll und aus welchem Grund die übrigen Merkmale weggelassen werden konnten.
2.3.5 Ermessensausübung - Artikel 12 (5) VOBK 2020
Aufgrund der unzureichenden Substantiierung liegt die Zulassung der Hilfsanträge 1 bis 3 gemäß Artikel 12 (3) und (5) VOBK 2020 im Ermessen der Kammer. Dieses Ermessen ist unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falles auszuüben.
Sinn und Zweck von Artikel 12 (3) RPBA 2020 ist es, sicherzustellen, dass die relevanten Schriftsätze so früh wie möglich im Verfahren vorliegen, damit die Kammer und die anderen Beteiligten frühzeitig mit der Bearbeitung des Falles auf der Grundlage des vollständigen Vorbringens der Parteien beginnen können (Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage 2022, V.A.4.3.5 a)), ohne über die Absichten der anderen Parteien spekulieren zu müssen. Inwieweit eine fehlende oder unvollständige Substantiierung diesem Ziel zuwiderläuft, ist ein Faktor, der bei der Ausübung des Ermessens nach Artikel 12 (5) RPBA 2020 berücksichtigt werden kann (T 1659/20, Gründe 2.1). Dazu gehört auch die Frage, ob die Änderungen und die den geänderten Anträgen zugrunde liegenden Überlegungen selbsterklärend sind. Die Beschwerdegegnerin hat daher zutreffend (unter Bezugnahme auf Entscheidung T 319/18) darauf hingewiesen, dass zu prüfen ist, ob die Grundlage der geänderten Patentansprüche und die den geänderten Patentansprüchen zugrunde liegenden Überlegungen zur Überwindung der erhobenen Einwände selbsterklärend sind.
Im vorliegenden Verfahren waren die von der Beschwerdegegnerin vorgenommenen Änderungen indes nicht selbsterklärend. Es ist weder ohne weiteres erkennbar, wo die Grundlage der Änderungen in der ursprünglichen Anmeldung liegt noch welche Einwände adressiert werden und warum diese überwunden werden sollen. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass die von der Beschwerdegegnerin vorgenommenen Änderungen in den Patentansprüchen komplex sind und dass die Beschwerdeführerin diverse Einwände erhoben und hierzu spezifisch vorgetragen hat. Es würde der Fairness des Verfahrens zuwiderlaufen, wenn es einem Patentinhaber möglich wäre, derart komplexe Änderungen vorzunehmen, ohne der Einsprechenden zu erläutern, welche Grundlage und welchen Zweck diese haben. Zudem ergibt sich bereits aus den Darlegungen der Beschwerdeführerin in ihrem Schriftsatz vom 21. Juni 2022 auf den Seiten 6 ff, dass die Änderungen nicht selbsterklärend sind, denn dort hat die Beschwerdeführerin ausdrücklich zu den Hilfsanträgen Stellung genommen und erläutert, warum diese nicht geeignet sind, die geltend gemachten Einwände zu überwinden. Im Rahmen der Ermessensausübung hat die Kammer zudem berücksichtigt, dass die Beschwerdegegnerin auf diesen Vortrag der Beschwerdeführerin im schriftlichen Verfahren in keiner Weise reagiert hat. Dies entspricht nicht einer sorgfältigen Verfahrensführung, denn die Pflicht zur Substantiierung besteht während des gesamten Verfahrens und wird, wie bereits dargelegt, auch durch Art und Umfang des Vorbringens der übrigen Beteiligten zu den bestehenden Einwänden und Anträgen beeinflusst.
Der Umstand, dass es ausweislich der Beschwerdegegnerin darum gehe, den Widerruf eines "guten Patents" zu verhindern, ist demgegenüber kein Grund, der geeignet wäre, die Ermessensentscheidung zu beeinflussen, zumal völlig unklar ist, anhand welcher Umstände ein solches Attribut für ein Patent zu beurteilen wäre. Wenn es darum geht, "den Widerruf eines guten Patents" zu verhindern, so darf ein Patentinhaber nicht darauf vertrauen, dass allein dieser Umstand die Kammer dazu bewegt, ihr Ermessen dahingehend auszuüben, einen unzureichend substantiierten Antrag zuzulassen. Vielmehr obliegt es zunächst dem Patentinhaber selbst, den ihm obliegenden Sorgfaltspflichten nachzukommen, um die Aufrechterhaltung seines Patents im Rahmen eines fairen Verfahrens zu gewährleisten. Dazu gehört es, die gegnerische Partei und die Kammer in angemessener Weise und rechtzeitig über die mit den geänderten Ansprüchen verbundenen Grundlagen und Absichten zu informieren. Sofern dies - wie von der Beschwerdegegnerin ohne nähere Belege und ohne konkrete Benennung der betroffenen Zeiträume vorgetragen - nicht möglich ist, weil der zuständige Bearbeiter erkrankt ist, muss in angemessener Zeit dafür Sorge getragen werden, dass der Fall von einem Vertreter bearbeitet wird. Vorliegend wurde indes erst kurz vor der Verhandlung und damit erst etwa eineinhalb Jahre nach Eingang des Schriftsatzes der Beschwerdeführerin vom 21. Juni 2022, ein neuer Vertreter bestellt. Ein derart langes Abwarten ist nicht angemessen, sondern widerspricht einer sorgfältigen Verfahrensführung.
Die Kammer vermag nicht zu erkennen, und es wurde von der Beschwerdegegnerin auch nicht nachvollziehbar dargelegt, inwieweit die von ihr zitierte Entscheidung T 700/15 der rechtlichen Bewertung der Kammer entgegenstehen soll.
2.4 Hilfsantrag 1a - Zulassung in das Beschwerdeverfahren
2.4.1 In der mündlichen Verhandlung hat die Beschwerdegegnerin einen neuen Hilfsantrag 1a mit hinzugefügten Anspruchsmerkmalen eingereicht, der in der Rangfolge nach den Hilfsanträgen 1 bis 3 berücksichtigt werden sollte. Die Kammer hat ihr Ermessen unter Artikel 13 (2) VOBK 2020 dahingehend ausgeübt, den Hilfsantrag nicht zu berücksichtigen.
2.4.2 Die Zulassung dieses Hilfsantrags richtet sich nach Artikel 13 (2) VOBK 2020, da der geänderte Antrag erst nach der Ladung zur mündlichen Verhandlung und nach Zustellung der Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 eingereicht wurde. Artikel 13 (2) VOBK 2020 sieht vor, dass Änderungen des Beschwerdevorbringens in diesem Verfahrensstadium unberücksichtigt bleiben, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen. Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdegegnerin keine solchen außergewöhnlichen Umstände aufzeigen können.
2.4.3 Der von der Beschwerdegegnerin geltend gemachte Umstand, dass es darum gehe, den Widerruf eines "guten Patents" zu verhindern rechtfertigt es, wie oben bereits dargelegt, nicht, geltende Verfahrensregeln, die den Ablauf eines fairen Verfahrens gewährleisten sollen, zu ignorieren. Im Übrigen würde auch eine etwaige prima-facie Gewährbarkeit nicht ausreichen, um außergewöhnliche Umstände im Sinne von Artikel 13 (2) VOBK 2020 zu belegen.
Auch die Erkrankung des zunächst zuständigen Bearbeiters des Beschwerdeverfahrens auf Seiten der Patentinhaberin stellt keinen außergewöhnlichen Umstand dar, weil die Einreichung eines Hilfsantrags zur Überwindung der von der Beschwerdeführerin mit der Beschwerdebegründung geltend gemachten Einwände, wie oben bereits dargelegt, gemäß Artikel 12 (3) VOBK 2020 bereits mit der Beschwerdeerwiderung hätte erfolgen können und müssen. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern, dass dies auch dann gilt, wenn der Einspruch im Einspruchsverfahren zurückgewiesen wurde. Der Patentinhaber muss auch in einer solchen Konstellation sein gesamtes Beschwerdevorbringen bereits in der Beschwerdeerwiderung präsentieren und darf nicht die vorläufige Meinung der Kammer in der Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 abwarten, wenn darin - wie hier - lediglich das bereits im Verfahren befindliche Vorbringen gewürdigt wird (vgl. Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage 2022, V.A.4.5.6 c) und h)). Es ist zwar zutreffend, dass dies - wie die Beschwerdegegnerin angemerkt hat - dazu führen kann, dass Patentinhaber bereits in einem frühen Stadium eine Vielzahl von Anträgen einreichen. Das rechtfertigt aber nicht, die dem Artikel 12 (3) VOBK 2020 zugrundeliegenden Wertungen der Verfahrensordnung zu ignorieren. Insoweit ist vielmehr zu berücksichtigen, dass die in Artikel 12 (3) VOBK 2020 normierten Vorgaben allen Beteiligten eine frühzeitige und umfassende Vorbereitung des Falles ermöglichen und damit die Verfahrensökonomie fördern sollen.
3. Ergebnis
Da der Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents entgegensteht und keiner der Hilfsanträge ins Beschwerdeverfahren zugelassen wurde, war der Beschwerde der Beschwerdeführerin stattzugeben.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.