T 0081/85 17-03-1989
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Aminosäurederivate, Verfahren zur ihrer Herstellung und ihre Verwendung zur Behandlugn von Bluthochdruck
Neuheit - Ausschluss direkt genannter Verbindungen
Disclaimer
novelty - exclusion of explicitly disclosed compounds
disclaimer
I. Die am 13. September 1980 mit den deutschen Prioritäten vom 19. September 1979 und vom 21. November 1979 unter Benennung von AT, BE, CH, DE, FR, GB, IT, LI, NL und SE als Vertragsstaaten eingereichte europäische Patentanmeldung 80 105 514.6, welche die Veröffentlichungsnummer 29 488 trägt, wurde von der Prüfungsabteilung durch die Entscheidung vom 18. Oktober 1984 zurückgewiesen.
Der Entscheidung lagen die am 23. März 1984 eingegangenen, mit Satz I, Satz II und Satz III überschriebenen Patentansprüche zugrunde. Von diesen umfaßten der Satz I elf Patentansprüche betreffend die Vertragsstaaten BE, NL und SE, der Satz II ebenfalls elf Patentansprüche betreffend die Vertragsstaaten CH, DE, FR, GB und IT und der Satz III zehn Patentansprüche betreffend den Vertragsstaat AT.
Der auf 1,2,3,4-Tetrahydroisochinolinderivate gerichtete Patentanspruch 1 gemäß Satz I hatte folgenden Wortlaut:
"Verbindungen der Formel I
(FORMEL I)
in welcher
Y1 Wasserstoff, Alkanoyl mit 1-6 C-Atomen, Cyclo- alkanoyl mit 5-7 C-Atomen, Benzoyl, Nicotinoyl oder einen Rest der Formel II
(FORMEL II)
und
Y2 Methyl, Amino, Alkanoylamino mit 1-6 C-Atomen, Cycloalkanoylamino mit 5-7 C-Atomen, Benzoylamino oder Nicotinoylamino bedeuten, wobei, falls
Y2 = Methyl ist, Y1 nicht Wasserstoff oder Acetyl bedeuten kann, sowie deren Salze."
Bei sonst gleichem Text lautete der mit der Wendung "... falls ..." eingeleitete Disclaimer im Patentanspruch 2 von Satz I:
"... falls Y2 Methyl ist, Y1 nicht Wasserstoff, Alkanoyl mit 2 bis 4 C-Atomen oder Benzoyl bedeuten kann, ..."; im Patentanspruch 1 von Satz II:
"... falls Y2 = Methyl ist, Y1 nicht Wasserstoff, Acetyl oder Benzoyl bedeuten kann, ..." und im Patentanspruch 2 von Satz II:
"... falls Y2 Methyl ist, Y1 nicht Wasserstoff, Alkanoyl mit 2 bis 5 C-Atomen oder Benzoyl bedeuten kann, ...".
Die Patentansprüche nach Satz III waren in Anlehnung an die Patentansprüche von Satz I auf Herstellungsverfahren gerichtet.
II. In dem Zurückweisungsbeschluß hatte die Prüfungsabteilung ausgeführt, daß die auf Einzelsubstanzen und deren Herstellung gerichteten Ansprüche 3 bis 7 (Satz I, II) sowie die Ansprüche 5 bis 9 (Satz III) aus formellen Gründen nicht zugelassen werden könnten (Art. 123 (2) EPÜ) und daß die Ansprüche 1 (Satz I, II, III) ebenso wie die darauf rückbezogenen Ansprüche 8 bis 11 (Satz I, II) sowie die Ansprüche 3, 4 und 10 (Satz III) mangels Neuheit im Sinne von Art. 54 (3) EPÜ nicht patentfähig seien. Die letzteren Ansprüche seien nicht ausreichend gegenüber den älteren, aus den europäischen Anmeldungen
EP-A-12 845 (Dok. 1) und
EP-A-18 104 (Dok. 2)
erwachsenen Rechten abgegrenzt.
Dok. 2 enthielte - so die Prüfungsabteilung - außer der in Beispiel 55 direkt genannten 3-Mercapto-2-methyl- propionyl-1,2,3,4-tetrahydroisochinolin-3-carbonsäure und der zugehörigen durch Beispiel 50 implizierten Ausgangsverbindung (3-Acetylthio-2-methylpropionyl- derivat) noch weitere konkrete Angaben. Durch diese werde "dem Fachmann eine Gruppe von Verbindungen der anmeldungsgemäßen Formel I, in welcher
Y1 Wasserstoff, Alkanoyl mit 2 bis 4 C-Atomen oder Benzoyl und
Y2 Methyl bedeuten sowie deren pharmazeutisch akzeptierbare Salze als ein bevorzugter, von Beispielen gestützter engerer Bereich des älteren europäischen Rechts nahegelegt" (Zurückweisungsbeschluß Ziff. 2.3.2).
Auch das Herstellungsverfahren für diese Verbindungen und deren pharmakologische Eigenschaften (Wirksamkeit gegen Bluthochdruck) seien beschrieben. Dok. 1 offenbare eine Klasse von Verbindungen der dortigen Formel IV und deren Salzen sowie die Herstellung dieser Produkte. In Formel IV
(FORMEL IV)
stehe R1 für Methyl, R3 sei ua Wasserstoff und R2 bedeute ua Alkyl, worunter C1-C4-Alkylreste zu verstehen seien. Im Anspruch 1 (Satz II) müsse deshalb bei der Definition für Y1 der breitere Begriff "C2-C5-Alkanoyl" und nicht nur "Acetyl" ausgenommen werden (Zurückweisungsbeschluß Ziff. 2.4.3).
Die bisher vorgenommene Abgrenzung reiche jedenfalls nicht aus, um die Neuheit des Streitgegenstandes sicherzustellen.
Letztlich könne das nachgesuchte Patent nur auf der Basis der derzeitigen Ansprüche 2 der drei Sätze als Hauptanspruch erteilt werden. Für deren Gegenstand könne auch die erfinderische Tätigkeit anerkannt werden (Zurückweisungsbeschluß Ziff. 2.2).
III. Gegen die Entscheidung hat die Beschwerdeführerin unter Entrichtung der vorgeschriebenen Gebühr mit dem am 2. November 1984 eingegangenen Schriftsatz Beschwerde erhoben und diese mit ihrem Schreiben vom 20. Februar 1985 rechtzeitig begründet. Gleichzeitig hat sie neue Patentansprüche eingereicht.
In ihrer schriftlichen Begründung argumentiert die Beschwerdeführerin etwa wie folgt:
Durch die Aufnahme der Chiralitätszentren in die auf Einzelsubstanzen gerichteten, neuen Ansprüche sei nunmehr die auf Art. 123 (2) EPÜ gestützte Beanstandung ausgeräumt.
Bei der Prüfung auf Neuheit seien die aus den Dok. 1 und Dok. 2 nach Art. 54 (3) EPÜ erwachsenen älteren europäischen Rechte, soweit die benannten Vertragsstaaten identisch seien, voll berücksichtigt worden. Dies gelte nicht nur für die Ansprüche 2 der Sätze I bis III. Auch bei der Abfassung der Ansprüche 1 und der davon abhängigen Ansprüche der Sätze I, II und III seien die aus den Entgegenhaltungen als bekannt anzusehenden Verbindungen mittels Disclaimer ausgeschlossen worden.
Dok. 2 enthalte außer der Verbindung des Beispiels 55 und dem implizit über Beispiel 50 offenbarten Ausgangsmaterial zur Herstellung jener Verbindung nichts, was zusätzlich als neuheitsschädlicher Stand der Technik in Betracht komme. Ähnlich seien aus Dok. 1 nur zwei direkt genannte Verbindungen, nämlich die 3-Methyl-2-mercaptopropionyl- 1,2,3,4-tetrahydroisochinolin-3-carbonsäure und deren benzoylierte Vorstufe, zu berücksichtigen.
Aus Vorzugs- und variablen Einzel-bedeutungen von Substituenten könne kein weiterreichendes, fiktive Verbindungen umfassendes neuheitsschädliches Material konstruiert werden. Die Beschwerdeführerin beruft sich auf mehrere Entscheidungen, so die T 181/82 "Spiroverbindungen". Danach bestehe keine Notwendigkeit, besagte Disclaimer breiter auszulegen; auch die angebliche "Überlappung mit bereits monopolisierten Rechten" liege nicht vor. Art. 54 (1) EPÜ sei einheitlich anzuwenden gleichgültig, ob es sich - wie hier - um die Abgrenzung gegenüber älteren Rechten handle, ob es um die Prüfung von Auswahlerfindungen gehe oder darum, ob eine bestimmte Verbindung dem Stand der Technik zuzurechnen sei oder nicht.
IV. Am 27. Juli 1988 hatte die Beschwerdeführerin sodann drei komplette, aus Hauptantrag und zwei Hilfsanträgen bestehende Anspruchssätze eingereicht. Bei den diesen Anträgen zugeordneten Ansprüchen war die bisherige Unterteilung nach Vertragsstaaten beibehalten worden. Die Patentansprüche 1, 2, 8, 9 und 10 für die Vertragsstaaten BE, NL, SE und für die Vertragsstaaten CH, DE, FR, GB und IT und die Patentansprüche 1 bis 4 für den Vertragsstaat AT gemäß dem Hauptantrag waren (von einer geringfügigen Abweichung im Anspruch 1 des AT-Satzes abgesehen) mit den der Zurückweisung zugrundeliegenden Patentansprüchen gleicher Numerierung des Satzes I, II und III identisch. Die übrigen Ansprüche waren umformuliert.
V. In der Mitteilung vom 3. November 1988 hat die Kammer auf verschiedene Mängel in der Fassung dieser Ansprüche hingewiesen (Art. 110 Abs. 2 EPÜ).
Auf den Hauptantrag eingehend wird festgestellt, daß die Ansprüche 1, 2 und 8 betreffend die in diesen Vertragsstaaten BE, NL, SE bzw. die Vertragsstaaten CH, DE, FR, GB und IT sowie die Ansprüche 1, 2 und 8 betreffend den Vertragsstaat AT nicht der Vorschrift des Art. 123 (2) EPÜ und mehrere Ansprüche überdies auch nicht der des Art. 84 EPÜ entsprächen.
In den Ansprüchen l und 2 gemäß dem Hauptantrag und den Hilfsanträgen seien zudem die Disclaimer zu breit und ungenau gefaßt. Entgegen den Vorstellungen der Prüfungsabteilung und auch der Beschwerdefuhrerin könnten die als neuheitsschädlich erachteten Verbindungen aus den beiden älteren, europäischen Anmeldungen nur in der konkreten Form, in der sie dort offenbart seien, per Disclaimer vom Schutzbereich der betreffenden Ansprüche ausgenommen werden.
Die von der Prüfungsabteilung fur patentfähig erachteten Ansprüche 2 (gemäß Satz I, II und III) seien aus den dargelegten Gründen ebenfalls nicht gewährbar.
Die Beschwerdeführerin hat daraufhin mit ihrer Eingabe vom 11. November 1988 ein überarbeitetes und auf drei Anspruchssätze reduziertes Patentbegehren (Anlage a, b, c) eingereicht.
Der Anspruch l des BE-, SE-, NL-Satzes lautet:
"Verbindungen der Formel I
(FORMEL I)
in welcher
Y1 Wasserstoff, Alkanoyl mit 1 bis 6 C-Atomen, Benzoyl, Nicotinoyl oder ein Rest der Formel II
(FORMEL II)
und
Y2 Methyl, Amino, Alkanoylamino mit 1 bis 6 C-Atomen, Benzoylamino oder Nicotinoylamino bedeuten, sowie deren Stereoisomeren, ausgenommen
a) (3S)-2-(3-Mercapto-2-methylpropionyl-1,2,3,4- tetrahydroisochinolin-3-carbonsäure und
b) (3S)-2-(3-Acetylmercapto-2-methylpropionyl-1,2,3,4- tetrahydroisochinolin-3-carbonsäure."
Dem schließen sich fünf auf Einzelsubstanzen, drei auf Herstellungsverfahren gerichtete Ansprüche und ein Verwendungsanspruch an (Anlage a).
Der Anspruch 1 des CH, DE, FR, GB, IT, LI-Satzes (Anlage b) unterscheidet sich von dem soeben wiedergegebenen Anspruch 1 lediglich durch die Breite des Disclaimers; letzterer ist wie folgt formuliert: "... ausgenommen
a) (3S)-2-(3-Mercapto-2-methylpropionyl)-1,2,3,4- tetrahydroisochinolin-3-carbonsäure,
b) (3S)-2-(3-Acetylmercapto-2-methylpropionyl)-1,2,3,4- tetrahydroisochinolin-3-carbonsäure,
c) 2-(3-Mercapto-2-methylpropionyl)-1,2,3,4- tetrahydroisochinolin-3-carbonsäure,
d) (3S)-2-[(2S)-3-Mercapto-2-methylpropionyl]-1,2,3,4- tetrahydroisochinolin-3-carbonsäure und
e) (3S)-2-(3-Benzoylmercapto-2-methylpropionyl)-1,2,3,4- tetrahydroisochinolin-3-carbonsäure."
Die weitere Anspruchsfolge der Anlage b entspricht der vorher angegebenen.
Der den Vertragsstaat AT betreffende dritte Anspruchssatz umfaßt 8 Ansprüche (Anlage c), welche auf Herstellungsverfahren gerichtet sind. Der Disclaimer in Anspruch 1 entspricht dem in Anspruch 1 gemäß Anlage a.
VII. Die Beschwerdeführerin beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das nachgesuchte Patent aufgrund der mit Eingabe vom 11. November 1988 eingereichten Patentansprüche zu erteilen.
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 sowie Regel 64 EPÜ; sie ist daher zulässig.
2. Die Streitanmeldung betrifft 1,2,3,4- Tetrahydroisochinolin-3-carbonsäurederivate (kurz: T- derivate), Verfahren zu ihrer Herstellung und ihre Verwendung zur Behandlung von Bluthochdruck.
3. Bedenken formeller Art gegen die Fassung der geltenden, den drei (mit Anlage a, b und c bezeichneten) Anspruchssätzen vom 11. November 1988 zugrundeliegenden Patentansprüche bestehen nicht mehr.
3.1. Aus den auf Verbindungen der Formel I gerichteten Ansprüchen wurden die wegen des nicht offenbarten oberen Grenzwertes zuvor beanstandeten Definitionen "Cycloalkanoyl mit 5-7 C-Atomen" für den Substituenten Y1 und "Cycloalkanoylamino mit 5-7 C-Atomen" für den Substituenten Y2 gänzlich gestrichen; der Streitgegenstand wurde insoweit eingeschränkt. Analog verhält es sich mit den Salze und die Salzherstellung betreffenden Passagen, die ebenfalls aus allen Ansprüchen weggelassen wurden. Der nicht offenbarte Begriff "C1-C4"-Alkylester, mit dem die Verbindungen der Formel III näher definiert werden sollten, wurde durch "Niederalkylester" ersetzt, was wieder dem ursprünglichen Stand entspricht.
3.2. Neu in die Patentansprüche 1 aller drei Anspruchssätze aufgenommen wurde das Merkmal "deren Stereoisomere". Diese Einfügung, die sich aus den Angaben der Seiten 6 und 7 der Anmeldeunterlagen herleitet, trägt der Tatsache Rechnung, daß die Verbindungen der Formel I zwei Chiralitätszentren aufweisen (je eines im heterocyclischen Ring und in der Seitenkette). Damit erstreckt sich der Anspruch auch auf die optisch aktiven Formen der Formel I. Die chiralen Zentren sind nunmehr entsprechend den Empfehlungen der IUPAC-Kommission für Nomenklaturfragen in der organischen Chemie einheitlich mit den Symbolen "R" und "S" statt bisher "D" und "L" bezeichnet; dem D-Cystein kommt dabei aufgrund seiner Ausnahmestellung die S-Konfiguration zu. In sachlicher Hinsicht ändert sich durch diese Umbenennung nichts (vgl. Eingabe vom 11. November 1988).
3.3. Die Disclaimer in den Ansprüchen 1 nehmen stereospezifische Einzelverbindungen punktförmig vom Schutzbereich der Ansprüche aus; sie beinhalten insoweit ebenfalls keine Erweiterung.
3.4. Die durch die Chiralitätsangaben ergänzten, abhängigen Stoffansprüche 2-6 (für die Vertragsstaaten BE, NL, SE und die Vertragsstaaten CH, DE, FR, GB, IT, nunmehr ergänzt um LI) und Verfahrensansprüche 5-8 (für den Vertragsstaat AT) gehen auf die ursprünglichen Beispiele 3-5, 7 und 9 zurück. Das in Beispiel 7 beschriebene Nicotinoylderivat wird nach einem anderen als dem im Hauptanspruch des AT- Satzes beschriebenen Verfahren hergestellt, weswegen der darauf Bezug nehmende frühere Anspruch 8 aus der AT- Anspruchsfolge Satz III zu streichen war. Die verbleibenden, abhängigen Herstellungsansprüche entsprechen inhaltlich denen aus den Anmeldeunterlagen (vgl. dort Ansprüche 3 und 4). Die an letzter Stelle plazierten Verwendungsansprüche sind als zweckgebundene Stoffansprüche formuliert.
3.5. Die unter Absatz 3.2 erörterte Einfügung erscheint aus Gründen einer klaren Anspruchsfassung erforderlich; denn erst mit der Hereinnahme des allgemeinen Merkmals "Stereoisomere" in die Ansprüche 1 ist die Rückbeziehung der abhängigen Stoff-, Verfahrens- und Verwendungsansprüche auf die Ansprüche 1 sinnvoll und der Ausschluß der bestimmten stereospezifischen Einzelverbindungen (Disclaimer) aus den "Basisansprüchen" nicht mehr problematisch (Art. 84 EPÜ).
3.6. Die vorgenommenen Änderungen sind allesamt derart, daß ihr Gegenstand nicht über den Inhalt der europäischen Patentanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Die Patentansprüche der drei Anspruchssätze genügen demnach der Vorschrift des Art. 123 (2) EPÜ und - wie gleichfalls dargelegt - auch der des Art. 84 EPÜ.
4. Die Streitanmeldung war in der Hauptsache unter Hinweis auf Art. 54 (3) EPÜ wegen mangelnder Neuheit ihres Gegenstandes zurückgewiesen worden.
Sinn und Zweck dieser mit "whole contents approach" umschriebenen Vorschrift ist es, alles von der Erteilung eines Patents auszunehmen, was ein älterer Anmelder bereits offenbart hat, gleichgültig ob es beansprucht wurde oder nicht. Dementsprechend ist nach Art. 54 (3) EPÜ - über die Diktion des Art. 54 (2) EPÜ hinaus - der Inhalt nachveröffentlichter europäischer Patentanmeldungen mit älterem Zeitrang dem Stand der Technik zuzurechnen und als bekanntes technisches Wissen in die Prüfung auf Neuheit einzubeziehen. Dies gilt einschränkend nur insoweit, als ein für die spätere europäische Patentanmeldung benannter Vertragsstaat auch für die frühere Anmeldung benannt worden ist (Art. 54 (4) EPÜ). Der ältere Zeitrang der entgegengehaltenen Anmeldung kann auch auf der Inanspruchnahme der Priorität einer Voranmeldung beruhen (Art. 89 EPÜ). Voranmeldung und ursprüngliche Fassung der Nachanmeldung müssen die erfindungswesentlichen Elemente enthalten.
4.1. Sowohl Dok. 1 wie auch Dok. 2 entsprechen diesen Erfordernissen. Sie sind dem Stand der Technik zuzurechnen und treffen in der Tat den Streitgegenstand zT neuheitsschädlich.
4.2. Der Anmeldetag von Dok. 1, der 20. November 1979, liegt einen Tag vor der in Anspruch genommenen, allein noch maßgeblichen zweiten Priorität der Streitanmeldung (21. November 1979; nach erfolgter Teilung der Anmeldung ist die an erster Stelle genannte Priorität nicht mehr relevant). In weiterer Übereinstimmung mit Art. 54 (3) EPÜ ist erstere Anmeldung nach diesem Tag, nämlich am 9. Juli 1980, veröffentlicht worden; CH, DE, FR, GB sind als Vertragsstaaten benannt. Die Prioritätsunterlagen vom 21. November 1979 und die darauf zurückgehende Streitanmeldung betreffen die gleiche Erfindung. Die folgenden, hier interessierenden Verbindungen sind in Dok. 1 eindeutig beschrieben:
(c)* 2-(3-Mercapto-2-methylpropionyl)-T (Ansprüche 1 und 2);
(a) (3S)-2-(3-Mercapto-2-methylpropionyl)-T (S. 13, Z. 8 - 10);
(e) (3S)-2-(3-Benzoylmercapto-2-methylpropionyl)-T (S. 16, Z. 7 - 9);
(d) (3S)-2-((2S)-3-Mercapto-2-methylpropionyl)-T (S. 2, Z. 18 - 19, Tab. 1, im Anspruch 3 ist die Bezeichnung unvollständig).
* die Großbuchstaben entsprechen der Buchstabenfolge a bis d im Anspruch.
4.3. In Dok. 2 sind als Vertragsstaaten AT, BE, CH, DE, FR, GB, IT, LU, NL, SE benannt. Von den geltend gemachten Prioritäten spielen nur noch die an erster (26. März 1979) und dritter (24. Oktober 1979) Stelle genannten eine Rolle. Beide Daten liegen vor dem Prioritätszeitpunkt der Streitanmeldung (21. November 1979); veröffentlicht wurde Dok. 2 erst nach diesem Tag, nämlich am 29. Oktober 1980. In Beispiel 55 der Entgegenhaltung ist die oben definierte Verbindung (a) ebenfalls mit ihrer vollen chemischen Bezeichnung genannt.
4.4. Die Verbindung
(b) (3S)-2-(3-Acetylmercapto-2-methylpropionyl)-T dagegen hat als implizit offenbart zu gelten; sie stellt ein Vorprodukt zur Herstellung der Verbindung (a) dar und ergibt sich zwangsläufig, wenn man die an einem analogen Beispiel erläuterte Herstellung zurückverfolgt (Dok. 2 Beispiele 3 und 50; Priodokumente vom 26. März 1979: Beispiele 20 und 3; Priodokumente vom 24. Oktober 1979: Beispiele 55, 50 und 3; die an zweiter Stelle genannten Priodokumente betreffen andersstrukturierte Verbindungen).
4.5. Die Beschwerdeführerin hat folgerichtig die als bekannt ermittelten Verbindungen vom Schutzbegehren ausgenommen (T 43/82 vom 16. April 1984 -im ABl EPA nicht veröffentlicht). Sie hat ferner den Besonderheiten Rechnung getragen, die aus der Benennung verschiedener Vertragsstaaten resultieren und hinsichtlich der Disclaimer unterschiedliche Anspruchssätze eingereicht (Regel 87 EPÜ; Ausschluß der Verbindungen (a) und (b) in Anspruchssatz a und c für AT bzw. für BE, NL, SE; Ausschluß der Verbindungen (a) bis (d) im Anspruchssatz b für CH, DE, FR, GB, IT, LI); die gemeinsame Benennung der Schweiz und Liechtenstein stößt auf keine Bedenken (ABl. EPA 1980, 36 - 37).
Damit ist der Gegenstand der Streitanmeldung gegenüber dem der älteren Anmeldungen abgegrenzt, die unter Art. 54 (3) EPÜ geforderte Neuheit der Ansprüche gemäß Anlage a, b und c gewährleistet. Dies gilt in gleichem Maße für die auf die jeweiligen Ansprüche 1 rückbezogenen Stoff-, Verfahrens- und Verwendungsansprüche.
Durch die Aufnahme der Disclaimer werden Klarheit und Kürze der Ansprüche nicht infrage gestellt (T 04/80 - ABl. EPA 1982, 149).
4.6. Die Beurteilung der Neuheit der per Disclaimer vom Schutzbereich der Ansprüche 1 ausgeklammerten chemischen Stoffe erfolgte nach den Grundsätzen, wie sie vor allem in den eingangs zitierten Entscheidungen ihren Niederschlag gefunden haben (vgl. Ziff. III; T 12/81 - ABl. EPA 1982, 296; T 181/82 - ABl. EPA 1984, 401). Davon abzuweichen oder gar einen gegenüber Art. 54 (2) EPÜ differenzierten Bewertungsmaßstab anzulegen, besteht keine Veranlassung. Das bedeutet aber, daß im vorliegenden Fall außer den individualisierten Ausführungsformen und solchen, die sich als Ergebnis von hinreichend offenbarten Verfahrensmerkmalen zwangsläufig einstellen, kein weiteres neuheitsschädliches Material zu berücksichtigen war und daß jene Vorstellungen der Prüfungsabteilung nicht Platz greifen können, die darauf hinauslaufen, in diese Betrachtung auch "nahegelegte" Stoffkollektive oder - bei Mehrfachbedeutungen - weitgehend willkürlich zusammengestellte Substituentenkombinationen mit einzubeziehen (Zurückweisungsbeschluß Ziff. II 2.3.1, 2.3.2, 2.4.2).
In sich widersprüchlich an der Argumentation der Prüfungsabteilung ist auch, daß einerseits bei der Zitierung von Einzelverbindungen in den abhängigen Ansprüchen - zu Recht - auf einer vollständigen Nennung der Bezeichnung unter Einbeziehung der chiralen Symbole bestanden wird, daß aber andererseits bei der Auswertung der Dok. 1 und Dok. 2 ohne einsichtigen Grund von diesem Prinzip abgewichen und für den Ausschluß von "allgemeinen Formeln" der eben diskutierten Verallgemeinerungen aus den vorliegenden Ansprüchen plädiert wird.
Nach alledem hätte der angefochtene Beschluß keinen Bestand haben können.
5. Da die Prüfung der Streitanmeldung noch nicht abgeschlossen ist, hält es die Kammer für angezeigt, von ihrer in Art. 111 (1) EPÜ eingeräumten Möglichkeit Gebrauch zu machen und die Sache zur weiteren Veranlassung an die erste Instanz zurückzuverweisen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Es wird daher entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an die Vorinstanz zurückverwiesen mit der Auflage, das Prüfungsverfahren unter Zugrundelegung der geltenden Ansprüche fortzusetzen.