T 0012/90 23-08-1990
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E-Isomere von N-alpha-(2-Cyan-2-alkoximino-acetyl) amino.säurederivaten und -peptiden
Novelty - overlap - generic chemical formulae -
removal of overlapping range
Selection
Neuheit
Überschneidung chemischer allgemeiner Formeln
Auswahl nein
Beseitigung des Überlappungsbereichs
I. Die europäische Patentanmeldung 86 107 471.4 wurde am 2. Juni 1986 unter Beanspruchung der Prioritäten von zwei Voranmeldungen in der Bundesrepublik Deutschland vom 13. Juni 1985 und 25. Januar 1986 eingereicht und als EP-A-206 004 am 30. Dezember 1986 veröffentlicht. Mit Entscheidung vom 7. September 1989 wurde sie von der Prüfungsabteilung des Europäischen Patentamts zurückgewiesen.
Dieser Entscheidung lagen 8 Patentansprüche zugrunde, deren erster E-Isomere von Nalpha-(2-Cyan-2-alkoximino-acetyl)-aminosäurederivaten und -peptiden der allgemeinen Formel (i)
(FORMULA)
betrifft, in der die Reste R, R1, R2, R3 und X eine Vielzahl von Bedeutungen aufweisen können.
R bedeutet unter anderem:
Alkyl mit 1-8 C-Atomen, Alkenyl oder Alkinyl mit 2 bis 4 C-Atomen, Phenylalkyl mit 1 bis 4 C-Atomen im Alkylteil, wobei der Phenylteil ein-bis dreifach substituiert sein kann, unter anderem durch Halogen und Alkoxy mit 1 bis 4 C-Atomen oder Phenyl, das in derselben Weise substituiert sein kann wie der Phenylteil des Phenylalkylrests.
R1 und R2 bedeuten unter anderem Wasserstoff und C1-bis C4-Alkyl; R3 bedeutet unter anderem Wasserstoff oder C1-bis C6-Alkyl.
Der Rest X bedeutet entweder ORI oder -NRIIRIII wobei der Rest RI u. a.C1- bis C4-Alkyl und der Rest RII Wasserstoff oder C1- bis C4-Alkyl und RIII u. a. Wasserstoff oder C1-bis C4-Alkyl sein kann.
Von dieser Verbindungsgruppe sind durch eine Ausnahmebestimmung (disclaimer) zwei Einzelverbindungen ausgenommen worden, nämlich die Verbindung N-(Methoxycarbonylmethyl)-(2-cyano-2-methoximino)-acetamid und N-(Carbamoylmethyl)-(2-cyano-2-methoximino)-acetamid.
II. Die Zurückweisung wurde mit mangelnder Neuheit gegenüber der gemäß Artikel 54 (3) und (4) für alle benannten Vertragsstaaten zum Stande der Technik gehörenden Druckschrift
(1) EP-A-201 999 begründet, für die u. a. die Priorität einer Voranmeldung in Großbritannien vom 16. April 1985 in Anspruch genommen worden ist. In dieser Druckschrift seien nicht nur die beiden vom obigen Anspruch 1 ausgenommenen Einzelverbindungen offenbart, sondern darüber hinaus würden sich auch die allgemeinen Offenbarungen der Entgegenhaltung und der Anmeldung überschneiden. Diese Überschneidung nehme dem beanspruchten Gegenstand die Neuheit. Aus ähnlichen Erwägungen sei auch die Neuheit der Ansprüche 2, 3, 9 und 10 nicht gegeben.
III. Gegen diese Entscheidung hat die Beschwerdeführerin unter gleichzeitiger Zahlung der vorgeschriebenen Gebühr am 3. Oktober 1989 Beschwerde erhoben und diese am 18. November 1989 begründet. Mit der Beschwerdebegründung wurden neue Patentansprüche 1 bis 10 sowie Alternativanspruchsseiten A und B überreicht. Diese Patentansprüche unterschieden sich von den der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden nur durch die Korrektur eines offensichtlichen Schreibfehlers im Anspruch 1. Gemäß den Alternativanspruchsseiten A ist die Bedeutung "Alkyl mit 1-6 Kohlenstoffatomen" für RI und für RIII die Bedeutung "Wasserstoff" gestrichen worden. Die Ausnahmebestimmung lautet nunmehr:
"ausgenommen Verbindungen, in denen RIII für Alkyl steht, wenn R1 und RII für Wasserstoff stehen."
Gemäß den Alternativanspruchsseiten B ist gegenüber den der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Patentansprüchen ebenfalls für RI die Bedeutung "Alkyl mit 1 bis 4 C-Atomen gestrichen worden. RIII kann nicht mehr Wasserstoff oder Alkyl mit 1-4 C-Atomen bedeuten. Diese Anspruchsfassung enthält keinen Disclaimer mehr. In den übrigen Ansprüchen wurden jeweils entsprechende Änderungen durchgeführt.
IV. Am 23. August 1990 hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden, in der seitens der Kammer Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit des Anspruchs 10 mit Art. 123 (2) EPÜ geäußert wurden.
Gegen Ende der mündlichen Verhandlung hat die Beschwerdeführerin drei Anspruchssätze (Hauptantrag sowie Hilfsantrag A und B) vorgelegt, in denen Anspruch 10 geändert war.
V. Die Beschwerdeführerin hat vorgetragen, daß die Entgegenhaltung (1) gemäß Artikel 54 (3) in Verbindung mit Artikel 89 EPÜ nur insoweit zum Stande der Technik zur Beurteilung der Neuheit gehöre, als ihr Inhalt eindeutig durch den Inhalt der Voranmeldung vom 16. April 1985 gedeckt werde. Die Entgegenhaltung offenbare in allgemeiner Form eine Gruppe von Verbindungen, aus der die anmeldungsgemäßen eine neue Auswahl darstellen, da deren spezielle Substituentenkombinationen aus mehreren, eine Vielzahl von Alternativen umfassenden Listen der Entgegenhaltung zusammengestellt werden müßten. Das Ergebnis einer solchen willkürlichen Kombination gehöre nicht zum Stande der Technik, wie sich insbesondere aus den Entscheidungen "Diastereomere" (T 12/81, ABl. EPA 1982, 296), "Spiroverbindungen" (T 181/82, ABl. EPA 1984, 401), "Xanthine" (T 7/86, ABl. EPA 1988, 381), "Enantiomere" (T 296/87, ABl. EPA 1990, 195) und "Isochinolinderivate/Hoechst" (T 81/85 vom 17. März 1989, Punkt 4.6) ergebe. Ferner sei der Entgegenhaltung nicht die Lehre zu entnehmen, nur solche Carbamoylalkyl- oder Alkoxycarbonylalkylreste in Betracht zu ziehen, bei denen der Carbamoyl- oder Alkoxycarbonylrest am selben Kohlenstoffatom wie der 2-Cyan-2-alkoximinoacetylaminorest gebunden ist. Auch sei zwar die Möglichkeit der Existenz von E- und Z-Isomeren erwähnt, zumindest E-Isomere seien aber nicht spezifisch offenbart. Es ergebe sich aus einem Vergleich der Schmelzpunkte, daß zumindest der unter die anmeldungsgemäße allgemeine Formel fallende, in (1) als Verbindung 23 bezeichnete Stoff, der in seiner Summenformel der Verbindung 49 der Anmeldung entspreche, kein E-Isomeres sei. Selbst wenn man die Frage der Stereoisomerie außer Betracht lasse, so seien also im Prioritätsdokument vom 16. April 1985 nur zwei Verbindungen namentlich genannt, die von der allgemeinen Formel der Anmeldung erfaßt würden. Diese beiden Verbindungen seien jedoch durch Disclaimer aus den der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Patentansprüchen ausgenommen worden.
Eine weitergehende unter die geltenden Ansprüche fallende allgemeine Offenbarung sei, wie dargelegt, in der relevanten Voranmeldung zu (1) nicht enthalten.
VI. Die Beschwerdeführerin beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und ein Patent auf der Grundlage der in der mündlichen Verhandlung überreichten Patentansprüche gemäß Hauptantrag oder den Hilfsanträgen A oder B zu erteilen.
Am Ende der mündlichen Verhandlung wurde die Entscheidung der Kammer verkündet.
1. Die Beschwerde entspricht den Erfordernissen der Artikel 106 bis 108 EPÜ sowie der Regel 64; sie ist daher zulässig.
2. Hauptantrag:
2.1. Gegen die Fassung der Patentansprüche nach diesem Antrag bestehen keine Bedenken im Hinblick auf Artikel 123 (2) EPÜ. Die Ansprüche 1 bis 8 stützen sich auf die ursprünglichen Ansprüche 2 bis 9. Die Ansprüche 9 und 10 sind knappere Fassungen von Listen ursprünglich offenbarter Einzelverbindungen und somit ihrem Inhalt nach keine generischen Ansprüche. Sie stützen sich auf die ursprünglichen Beispiele 2, 11, 33, 45 (Anspruch 9a); 15 und 52 (Anspruch 9b); 5, 26, 27, 29, 58, 69, 70, 71 (Anspruch 10a); 20, 25, 30 (Anspruch 10b); 68 (Anspruch 10c); und 6, 42, 65, 92, 94, 95, 100 und 101 (Anspruch 10d). Die Ausnahmebestimmungen in den Ansprüchen 1 bis 3 sind zwar nicht aus den ursprünglichen Unterlagen herleitbar, dienen aber dazu, die aus (1) bekannten Verbindungen 23 und 24 vom Schutzbegehren auszunehmen.
2.2. Es ist somit zu untersuchen, ob der Gegenstand des Anspruchs 1 gegenüber der prioritätsälteren europäischen Patentanmeldung 86 301 986.5, die am 20. November 1986 als EP-A-201 999 (1) veröffentlicht worden ist, neu ist. In dieser Anmeldung sind alle Vertragsstaaten des EPÜ benannt, die auch in der zurückgewiesenen Anmeldung benannt worden sind. Weiterhin sind darin die Prioritäten von drei Voranmeldungen in Großbritannien in Anspruch genommen worden, die am 16. April, 28. August und 19. Dezember 1985 eingereicht worden sind. In der zurückgewiesenen Anmeldung wird die Priorität einer Voranmeldung in der Bundesrepublik Deutschland vom 13. Juni 1985 in Anspruch genommen. Diese Voranmeldung stimmt mit der europäischen Nachanmeldung hinsichtlich der hier relevanten Substituentenbedeutungen überein. Somit kommt (1) für die Beurteilung der Neuheit gemäß Artikel 54 (3) und (4) EPÜ nur insoweit in Betracht, als die Priorität vom 16. April 1985 zu Recht beansprucht wird.
2.3. Wie die Beschwerdeführerin selbst einräumt, wird in dieser Voranmeldung eine Verbindungsgruppe mit der folgenden allgemeinen Formel definiert:
(FORMULA)
In dieser Formel bedeuten (S. 1, Z. 7 bis 17, bzw. Voranmeldung vom 16. April 1985, Seite 1, Zeilen 7 bis 10) der Rest R Wasserstoff, Alkyl, Alkenyl oder Alkinyl, der Rest R1 unter anderem Alkoxycarbonylalkyl und Alkylcarbamoylalkyl und der Rest R2 unter anderem Wasserstoff.
Weiter sind auf S. 2 bis 4 bevorzugte Substituentenbedeutungen genannt, von denen in der Voranmeldung vom 16. April 1985 auf S. 2, Zeilen 10 bis 26, z. B. für R Alkyl mit 1 bis 10 C-Atomen, gegebenenfalls substituiert durch Alkoxy oder Halogen, ferner Alkenyl oder Alkinyl mit 3 bis 10 C-Atomen, letztere gegebenenfalls weiter substituiert durch Alkyl oder Halogen sowie Benzyl, das gegebenenfalls durch Halogen oder Alkoxy substituiert ist, für R1 u. a. Alkyl mit 1 bis 10 C-Atomen, gegebenenfalls substituiert durch u. a. Alkoxycarbonyl oder (Alkyl)carbamoyl und für R2 u. a. Wasserstoff erwähnt werden. Dokument (1) enthält außerdem eine Tabelle mit 106 Einzelverbindungen (S. 10 bis 19), von denen die ersten 26, bei denen fast ausschließlich R einen Methylrest und R2 Wasserstoff bedeutet, auch in der Voranmeldung vom 16. April 1985 (S. 3 bis 4) enthalten sind.
Die Verbindungen 23 und 24 entsprechen der obigen allgemeinen Formel mit R jeweils Methyl, R2 jeweils Wasserstoff und R1 CH2CONH2 (Nr. 23) bzw. CH2COOCH3 (Nr. 24). Auf Seite 24 (S. 5 der Voranmeldung) wird ausgeführt, daß in den Verbindungen, die Gegenstand dieser Anmeldung sind, das Oxim in den stereoisomeren Formen E (Cyangruppe in cis-Stellung zum Rest-OR) und Z (Cyangruppe und Rest -OR in trans-Stellung) existieren können und daß die Erfindung diese Stereoisomeren umfaßt.
2.4. Diese gemäß Art. 54 (3) und (4) EPÜ zum Stande der Technik gehörende Stoffgruppe ist mit der beanspruchten hinsichtlich derjenigen Verbindungen der allgemeinen Formel I identisch, für die R Alkyl mit 1 bis 8 C-Atomen (einschließlich im Phenylteil ggf. substituiertem Phenylalkyl), Alkenyl oder Alkinyl mit 3 bis 4 C-Atomen, R1 Wasserstoff und die Gruppe -CR2R3-COX einen Carbamoyl-C1-bis C10-alkylrest, einen Carbamoyl- oder (C1-C6-Alkyl)carbamoyl-C1-bis C10-alkylrest oder einen (C1-C6-Alkoxy)carbonyl-C1-bis C10-alkylrest und R2 Wasserstoff bedeuten, d. h., daß in der vorliegenden Anmeldung formelmäßig auch ein bereits bekannter Teilbereich erneut beansprucht wird.
2.5. Diese unter beide allgemeinen Definitionen fallende Stoffgruppe ist als solche weder in der zurückgewiesenen Anmeldung noch in der Entgegenhaltung wörtlich angesprochen; sie ergibt sich vielmehr erst bei sachgerechter Auswertung der jeweiligen allgemeinen Formeln und deren Vergleich.
Dies bedeutet jedoch nicht, daß die in (1) beschriebene allgemeine Formel bezüglich des Überschneidungsbereichs mit der vorliegenden Anmeldung ohne Offenbarungsgehalt ist, denn der Fachmann kann diesen ja, wie ausgeführt, als Teilbereich der aus (1) bekannten allgemeinen Formel entnehmen. Zudem entnimmt der fachmännische Leser der hier relevanten britischen Voranmeldung insbesondere bei Berücksichtigung der Tabelle, welche die als Fungizide getesteten Verbindungen umfaßt (siehe S. 31), daß die Stoffgruppe bevorzugt ist, in der R Methyl und R2 Wasserstoff bedeutet und R1 in Grenzen variabel ist. Durch die Erwähnung der Verbindungen 23 und 24 in der Tabelle gewinnt für ihn zudem die in den generischen Formeln auf Seite 1 und 2 für R1 angegebene Variationsmöglichkeit "alkoxycarbonylalkyl" und "(alkyl)carbamoylalkyl" Bedeutung, so daß die daraus resultierende Untergruppe nach Überzeugung der Kammer eher als bevorzugt, jedenfalls aber als offenbart gelten muß. Dies gilt angesichts der Ausführungen auf S. 5 der Voranmeldung auch für die entsprechenden E-Isomeren.
Demnach ist die allgemeine Umschreibung des in (1) beschriebenen Stoffkollektivs nicht so umfassend, daß sie dem Fachmann keinen näheren Hinweis auf die hier interessierende Stoffgruppe gibt.
2.6. Die Beschwerdeführerin macht in diesem Zusammenhang hingegen Auswahl geltend. Auswahl und damit ein neuer Gegenstand liege stets vor, wenn ein Bereich beliebig großen Umfangs aus einem bekannten Bereich gewählt werde. Dieses Prinzip solle aus Gründen einer einfachen und praktischen Handhabbarkeit auch dann angewendet werden, wenn durch den ausgewählten Bereich ein großer Teil des bekannten Bereichs abgedeckt werde. Die Kammer teilt diese Auffassung nicht, da sie mit dem Normzweck des Artikels 54 (1) EPÜ, den Stand der Technik von erneuter Patentierung auszuschließen, unvereinbar ist (siehe auch "Diastereomere", T 12/81, ABl. EPA 1982, 296, Punkt 5 der Entscheidungsgründe und "Copolymere", T 124/87, ABl. EPA 1989, 491, Punkt 3.2 der Entscheidungsgründe). Eine Neuheit begründende Auswahl aus einem bekannten Kollektiv setzt vielmehr voraus, daß sie dem Bekannten ein neues Element hinzufügt und somit eine andere Lehre zum technischen Handeln beinhaltet. Bloßes Kopieren von bereits Bekanntem führt nicht zu einer neuen technischen Lehre und bereichert die Technik nicht.
Ein solches gegenüber der Entgegenhaltung neues Element sieht die Beschwerdeführerin in dem Umstand, daß anmeldungsgemäß als Reste R2 nur solche Alkoxycarbonylalkyl- oder Carbamoylalkylreste vorgesehen sind, deren Alkylrest so verzweigt ist, daß immer der Alkoxycarbonyl-bzw. Carbamoylrest an dasjenige Kohlenstoffatom gebunden ist, das auch den 2-Cyan-2-alkoximinoacetylaminorest trägt. Der Anmeldungsgegenstand ist jedoch nicht auf diese Lehre beschränkt, da er auch Carbamoylmethylreste umfaßt, bei denen der Alkylrest nur ein einziges Kohlenstoffatom enthält und somit gar nicht verzweigt sein kann. Gerade dieser Substitutionstyp ist jedoch klar der allgemeinen Formel der Entgegenhaltung zu entnehmen und auch durch Beispiele gestützt. Auch die Lehre, nur die E-Isomeren der aus (1) bekannten Verbindungsgruppe in Betracht zu ziehen, ist in der relevanten Voranmeldung bereits enthalten (siehe S. 5). Der Anmeldungsgegenstand unterscheidet sich somit nicht durch ein neues Element vom Stande der Technik.
2.7. Zudem ist dem Begriff "Auswahl" das Herausgreifen eines engen Ausschnitts aus einem relativ großen Bereich immanent (siehe auch "Diastereomere", a. a. O, Punkt 11 der Entscheidungsgründe).
So ist in der Entscheidung "Thiochlorformiate" (T 198/84, ABl. EPA 1985, 209, Ziffer 5) das Vorliegen einer neuen Lehre unter anderem anerkannt worden, weil der ausgewählte Zahlenbereich eng war und einen weiten Abstand vom "Kernbereich" (den Beispielen) aufwies. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor, denn einerseits geht es hier nicht um die Auswahl aus einem Zahlenbereich, andererseits wird der in Betracht kommende Überschneidungsbereich durch eine allgemeine (generische) Formel dargestellt und umfaßt somit eine Vielzahl von Verbindungen.
Nach Überzeugung der Kammer reicht es für die Feststellung der Neuheit in einem solchen Falle nicht aus, daß der "ausgewählte" Teilbereich durch andere Grenzen definiert ist, ohne daß es sich dabei um eine vom Stand der Technik unterscheidbare andere technische Lehre handelt.
2.8. In der von der Beschwerdeführerin ferner angezogenen Entscheidung "Xanthine" ging es um die Neuheit einer formelmäßig definierten einzelnen Verbindung gegenüber einer durch eine allgemeine Formel umschriebene Stoffgruppe. Dieser Fall ist mit dem vorliegenden, in dem über die Neuheit einer durch eine allgemeine Formel beschriebenen Stoffgruppe gegenüber einer diese teilweise umfassenden anderen, durch eine andere allgemeine Formel beschriebenen Stoffgruppe zu entscheiden ist, nicht vergleichbar, denn das Konzept der "Individualisierung" paßt begrifflich nur zur strukturellen Definition einer Einzelverbindung, nicht aber eines Kollektivs; ein solches durch eine allgemeine Formel festgelegtes Kollektiv offenbart nach der Rechtsprechung der Kammer nicht die davon umfaßten Einzelindividuen.
2.9. Auch in der Entscheidung "Enantiomere" (T 296/87), in der vordergründig die Neuheit einer Einzelverbindung, nämlich eines bestimmten Enantiomeren, gegenüber dem bekannten Racemat zu beurteilen war, hat die Kammer erkennen lassen, daß es zur richtigen Abgrenzung einer generisch definierten Stoffgruppe gegenüber einer gleichfalls durch eine allgemeine Formel umschriebenen bekannten Stoffgruppe nicht ausreichte, nur die dort konkret genannten Einzelverbindungen auszuschließen, vielmehr war "die ganze von der Offenbarung (allgemeinen Formel) .... umfaßte Stoffgruppe" durch Disclaimer auszunehmen (Punkt 3.2, 3.3 und 7.4 der Entscheidungsgründe). Daraus folgt, daß die Kammer zwischen der Frage, ob eine spezifische Einzelverbindung aus einem bekannten Stoffkollektiv zum Stande der Technik gehört und der Frage, ob eine vom Stande der Technik umfaßte generische Offenbarung für eine spätere gleichartige Offenbarung neuheitsschädlich ist, schon früher unterschieden hat (siehe auch die Entscheidung "Copolymere", ABl. EPA 1989, 491, Ziffer 3.5).
2.10. Die Entscheidungen "Diastereomere" (T 12/81) und "Spiroverbindungen" (T 181/82) betreffen die Frage der zwangsläufigen Offenbarung eines Verfahrensprodukts durch die Angabe von Ausgangsmaterial und Reaktionsbedingungen, die im vorliegenden Falle keine Rolle spielt. Zwar findet sich in der Entscheidung T 12/81 (Punkt 13 der Entscheidungsgründe) die Anmerkung, daß einer individuellen Einzelverbindung, die gemäß dem Stande der Technik durch die Umsetzung von zwei Ausgangsverbindungen erhältlich ist, die jeweils aus einer mehrere Alternativen umfassenden Liste ausgewählt werden müssen, Neuheit zukommen könne. Diese Feststellung bezieht sich aber ebenso wie die Bezugnahme hierauf in der bereits erwähnten Entscheidung "Xanthine" auf die Frage der Neuheit einer Einzelverbindung. Daher ist diese Entscheidung nicht geeignet, den Vortrag der Beschwerdeführerin zu stützen, das "2-Listen-Prinzip" sei auch auf allgemeine Formeln mit mindestens zwei variablen Resten, die Listen generischer Begriffe darstellten, derart anzuwenden, daß jedes Weglassen wenigstens einer Bedeutung aus den Listen für wenigstens zwei variable Reste zu einer neuen Stoffgruppe führe.
2.11. In Punkt 4.6 der Gründe für die Entscheidung "Isochinoline" (T 81/85) wird festgestellt, daß außer den konkreten Beispielen "weiteres neuheitsschädliches Material nicht zu berücksichtigen" war. Dies ist eine anhand der dieser Entscheidung zugrundeliegenden konkreten Umstände getroffene Tatsachenentscheidung, der nicht entnommen werden kann, daß grundsätzlich nur explizit oder implizit "individualisierte" Einzelverbindungen als neuheitsschädliche Offenbarung in Betracht kommen. Eine solche Betrachtungsweise wäre auch unvereinbar mit dem Grundgedanken der Entscheidung T 12/81, gemäß dem der Offenbarungsgehalt eines Dokuments gerade nicht auf das konkret Ausgeführte, d. h. die Beispiele, beschränkt ist (Punkt 5 der Entscheidungsgründe), sondern jede darin ausführbar beschriebene technische Lehre umfaßt. In der Entscheidung T 81/85 wurde es weiterhin abgelehnt, "weitgehend willkürlich zusammengestellte Subsituentenkombinationen" als neuheitsschädliche Offenbarung zu berücksichtigen. Abgesehen davon, daß die Frage, ob eine bestimmte Substituentenkombination angesichts des Gesamtinhalts einer Druckschrift tatsächlich nur das Ergebnis einer willkürlichen Zusammenstellung ist oder vielmehr als eindeutig (gegebenenfalls implizit) offenbart gelten muß, nur aufgrund der jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu beantworten ist, spielt dieser Gesichtspunkt im vorliegenden Falle keine Rolle, denn der hier zu betrachtende Überschneidungsbereich ist nicht das Ergebnis einer willkürlichen Kombination.
2.12. Aus diesen Gründen ist die Kammer zu der Überzeugung gelangt, daß dem hier zu betrachtenden, dem Stande der Technik und dem Anmeldungsgegenstand gemeinsamen Teilbereich und damit dem Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag keine Neuheit kommt. Dem Hauptantrag kann daher nicht stattgegeben werden.
3. Hilfsantrag A:
3.1. Anders verhält es sich mit dem Gegenstand des Hilfsantrags A, denn gemäß Anspruch 1 dieses Antrags bedeutet in der allgemeinen Formel I der Rest RI nicht mehr Alkyl und der Rest RIII nicht mehr Wasserstoff. Weiterhin bedeutet RIII nur dann noch Alkyl, wenn R1 und RII nicht Wasserstoff bedeuten. Somit sind Verbindungen der in (1) angegebenen allgemeinen Formel, für die die Reste R2 Wasserstoff und R1 C1- bis C10-Alkyl-COO-Alkyl, C1-C10-Alkyl-CONH2 und C1-C10-Alkyl-CONH-Alkyl bedeuten nicht mehr Gegenstand des Schutzbegehrens.
Durch den geltenden Patentanspruch 1 wird zwar die Überschneidung mit dem aus (1) bekannten Gegenstand nicht exakt beseitigt, sondern eine weitergehende Beschränkung vorgenommen, da insbesondere der Rest R anmeldungsgemäß z. B. gegebenenfalls substituierte Phenylreste umfaßt, die mit dem Gegenstand der älteren Anmeldung nicht kollidieren.
Gleichwohl wurde diese weitergehende Beschränkung durch die Entgegenhaltung (1) ausgelöst, ist somit nicht willkürlich. Sie genießt zudem den Vorzug erheblich besserer Übersichtlichkeit (vgl. auch Punkt 3.3 der Entscheidung "Enantiomere") und dient daher nur der klaren und knappen Fassung des Anspruchs (Art. 84 EPÜ). Sie verändert auch den verbleibenden Gegenstand gegenüber der ursprünglichen Offenbarung nicht derart, daß sich daraus eine andere technische Lehre (aliud) ergäbe.
3.2. Im Hinblick auf die Neuheit dieses Gegenstands ist zunächst zu prüfen, ob von der Offenbarung in der prioritätsbegründenden Voranmeldung von (1) auch Dialkylaminocarbonylalkylreste als Bedeutung von R1 umfaßt werden, d. h. ob der auf Seite 2, Zeile 2 verwendete Ausdruck "(alkyl)carbamoyl" im Sinne von "gegebenenfalls durch einen Alkylrest substituierter Carbamoylrest" oder im Sinne von "durch Alkylreste substituierter Carbamoylrest" zu verstehen ist. Die Kammer vertritt hierzu die Auffassung, daß diese unpräzise Nomenklatur mangels näherer Erläuterung nach dem üblichen chemischen Sprachgebrauch als Sammelbegriff für Carbamoyl und Monoalkylcarbamoyl zu verstehen ist und folglich Dialkylcarbamoylreste von dieser Bezeichnung nicht umfaßt werden.
Ferner kann aus (1), Anspruch 5 entnommen werden, daß der Rest R2 der allgemeinen Formel (siehe oben unter Ziffer 2.3), der dem Rest R1 gemäß der vorliegenden Anmeldung entspricht, auch C1-C4-Alkyl bedeuten kann.
Diese Bedeutung wird von der Ausnahmebestimmung in Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag A nicht umfaßt. Dieser Umstand beeinträchtigt die Neuheit des Gegenstandes dieses Anspruchs jedoch nicht, da aus dem Inhalt der Voranmeldung vom 16. Februar 1985, deren Priorität in (1) beansprucht wird, nicht entnommen werden kann, daß der Rest R2 in der dort angegebenen allgemeinen Formel auch Alkyl bedeuten kann. Auf S. 1, Zeilen 12-17 dieser Voranmeldung ist zwar angegeben, daß dann, wenn R, R1 oder R2 eine Alkyl-oder Alkoxygruppe oder einen Rest, der solche Gruppen enthält, bedeuten, die Alkyl- oder Alkoxygruppen vorzugsweise 1 bis 10, insbesondere 1-6 Kohlenstoffatome aufweisen sollen. Die Erwähnung von R2 in diesem Zusammenhang läßt sich jedoch zwangslos darauf beziehen, daß dieser Rest u. a. ein durch Alkyl oder Alkoxy substituierter Alkenylrest sein kann (S. 2, Z. 23-24) und läßt daher nicht den Schluß zu, daß das Fehlen der Bedeutung "Alkyl" für R2 in der allgemeinen Formel auf einem offensichtlichen Irrtum beruht, den der fachmännische Leser ohne weiteres korrigiert hätte.
Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag A umfaßt daher keinen Gegenstand mehr, der zum entgegenhaltenen Stande der Technik gehört. Dies gilt auch für die Ansprüche 2 und 3, die entsprechende Ausnahmebestimmungen enthalten und die hierauf rückbezogenen Ansprüche 4 bis 8.
3.3. Die Ansprüche 9 und 10 entsprechen den Ansprüchen 9 und 10 gemäß Hauptantrag. Sie fassen eine Anzahl von Einzelverbindungen zusammen, die, wie unter Punkt 2.1 ausgeführt, alle in den ursprünglichen Unterlagen konkret genannt sind. Es handelt sich hierbei also nur der Form nach um generische Ansprüche. Ihrem Inhalt und Offenbarungsgehalt nach sind diese Ansprüche auf individuelle Einzelverbindungen gerichtet. Keine dieser Einzelverbindungen, die unter die generische Offenbarung in (1) bzw. der relevanten Voranmeldung fallen, sind dort als Einzelverbindungen vorbeschrieben. Sie gelten daher ebenfalls als neu.
3.4. Der Gegenstand der Ansprüche 1 bis 10 gemäß Hilfsantrag A weist daher den Mangel an Neuheit, der zur Zurückweisung der Anmeldung geführt hat, nicht mehr auf. Es erübrigt sich daher, im Rahmen der Neuheitsprüfung auf den Gegenstand des Hilfsantrags B, der demgegenüber noch weiter eingeschränkt ist, näher einzugehen.
4. Die beantragte Patenterteilung kann jedoch noch nicht angeordnet werden, da die Prüfungsabteilung die Erfüllung der übrigen Erfordernisse des EPÜ, insbesondere das Vorliegen erfinderischer Tätigkeit, noch nicht abschließend beurteilt hat. Die Kammer hält es aufgrund der vorgelegten Vergleichsversuche gegenüber dem in Betracht kommenden Stand der Technik zwar für glaubhaft, daß für einen Teil des beanspruchten Gegenstands überraschende Eigenschaften vorliegen, so daß für diesen Teil die erfinderische Tätigkeit anerkannt werden könnte. Sie hätte jedoch derzeit Bedenken, diese Vergleichsversuche als für den gesamten beanspruchten, sehr breiten Bereich repräsentativ zu betrachten, insbesondere soweit heterocylische Reste R, R3 und RIII beansprucht werden, und damit die geltend gemachte, gegenüber dem relevanten Stande der Technik angeblich bessere herbizide Wirkung für diesen ganzen Bereich als glaubhaft anzusehen.
5. Die Kammer hätte auch erhebliche Bedenken gegen die Ausführbarkeit der beschriebenen Erfindung (Art. 83 EPÜ), da in den Patentansprüchen Alkenyl- und Alkinylreste mit nur zwei Kohlenstoffatomen als Substituenten an Stickstoff- und Sauerstoffatomen erwähnt werden. Bei solchen Verbindungen muß es sich um Enamine, Enole, Inamine und Inole handeln. Es gehört zum Grundwissen des Fachmanns, daß selbst einfache Vertreter dieser Verbindungsklassen schwer, teilweise überhaupt nicht, herstellbar sind.
Auch hinsichtlich dieser Frage hält die Kammer daher eine Fortsetzung des Prüfungsverfahrens für geboten.
6. Um der Beschwerdeführerin für diese Prüfung der noch offenen Fragen das im EPÜ vorgesehenen zweiinstanzliche Verfahren zu gewährleisten, macht die Kammer von der in Art. 111 (1) EPÜ vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch, die Angelegenheit zur Fortsetzung des Prüfungsverfahrens auf der Grundlage der Ansprüche gemäß Hilfsantrag A an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Der Hauptantrag wird zurückgewiesen.
3. Die Sache wird an die Vorinstanz zurückverwiesen mit der Auflage, die Prüfung auf der Grundlage des Hilfsantrags A fortzusetzen.