T 0182/88 (Gesonderter Anspruchssatz) 03-11-1988
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Gesonderte Ansprüche für Österreich
Änderungsvorschlag nach Zustellung der Mitteilung gemäß R 51(4), alte Fassung
Grundsätze für die Ermessensausübung nach Regel 86 (3) EPÜ
I. In der am 8. Juli 1983 eingereichten europäischen Patentanmeldung Nr. 83 303 996.9 waren acht Vertragsstaaten, darunter Österreich, benannt. Am 1. Oktober 1985 erging eine Mitteilung der Prüfungsabteilung. Der Beschwerdeführer reichte in seiner Erwiderung vom 17. Januar 1986 Änderungen der Beschreibung und der Ansprüche ein, um den Einwänden in der Mitteilung Rechnung zu tragen; abschließend erklärte er, er erwarte nunmehr die Ankündigung der Mitteilung gemäß Regel 51 (4) EPU.
II. Diese Ankündigung erfolgte am 4. März 1986; die Mitteilung gemäß Regel 51 (4) EPU selbst erging am 11. Juni 1986. Mit Schreiben vom 21. August 1986 reichte der Beschwerdeführer eine Ubersetzung der Ansprüche der beabsichtigten Fassung ein und gab an, die Erteilungs- und die Druckkostengebühr seien entrichtet worden.
III. Mit Schreiben vom 1. September 1986 erklärte der Beschwerdeführer, er nehme sein Einverständnis mit der beabsichtigten Fassung zurück, weil speziell auf Österreich zugeschnittene Verfahrensansprüche fehlten. Diese Ansprüche lege er nun bei, und er bitte die Prüfungsabteilung, die Änderung der Fassung für Österreich in diesem Stadium entgegenkommenderweise noch zuzulassen.
IV. Am 27. Februar 1987 wurde dem Beschwerdeführer mitgeteilt, die vorgeschlagene Änderung sei gemäß Regel 86 (3) EPU nicht zulässig, weil die Mitteilung gemäß Regel 51 (4) EPU bereits ergangen sei; außerdem sei kein triftiger Grund genannt worden, der eine solche Änderung in diesem Stadium rechtfertige.
In seiner Erwiderung vom 16. April 1987 brachte der Beschwerdeführer unter anderem vor, die vorgeschlagene Änderung sei nicht sachlicher Natur, und zu prüfen sei lediglich, ob sie mit Artikel 123 (2) EPU vereinbar sei; das Amt sollte hier doch in erster Linie auf seinen Ruf der Anmelderfreundlichkeit bedacht sein, denn das EPU enthalte nichts, was einer Stattgabe des Antrags entgegenstehe.
Nach einem weiteren Schriftwechsel, der insbesondere die Wirkung der Entscheidung T 166/86, "gesonderter Anspruchssatz", ABl. EPA 1987, 372, betraf, erging am 16. Februar 1988 eine Entscheidung der Prüfungsabteilung, in der sie feststellte, daß der vorliegende Fall anders gelagert sei als der der Entscheidung T 166/86 zugrunde liegende und daß die in dieser Entscheidung gezogene Schlußfolgerung daher nicht auf den vorliegenden Fall übertragbar sei. In Anbetracht der Rücknahme des Einverständnisses mit der mitgeteilten Fassung wurde die europäische Patentanmeldung in ihrer Gesamtheit zurückgewiesen.
V. Am 25. Februar 1988 wurde Beschwerde eingelegt und eine Beschwerdebegründung eingereicht; die Beschwerdegebühr wurde ordnungsgemäß entrichtet. Der Beschwerdeführer verlangte unter anderem die Anwendung des in der Entscheidung T 166/86 dargelegten Grundsatzes.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Nach Regel 86 (3) EPU können nach der Erwiderung auf den ersten Bescheid der Prüfungsabteilung (in diesem Fall mit Schreiben vom 17. Januar 1986) Änderungen einer europäischen Patentanmeldung nur mit Zustimmung der Prüfungsabteilung vorgenommen werden; die Zulassung von Änderungen ist somit in das Ermessen der Prüfungsabteilung gestellt. Auch nachdem die Mitteilung nach Regel 51 (4) EPU zugestellt worden ist und bevor der Erteilungsbeschluß wirksam wird, liegen Änderungen immer noch im Ermessen der Prüfungsabteilung.
3. Uberläßt es das EPU einem Organ des EPA, eine Frage in einem bei ihm anhängigen Verfahren nach seinem Ermessen zu entscheiden, so muß dieses Ermessen nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen unter Berücksichtigung der für die Frage relevanten Faktoren ausgeübt werden. Diese Faktoren bestimmen sich wiederum nach dem Zweck der Ausübung des Ermessens in seinem jeweiligen Zusammenhang und im Zusammenhang mit dem EPU als Ganzem. Wird eine Änderung vorgeschlagen, beispielsweise ein gesonderter Anspruchssatz für einen bestimmten Vertragsstaat vorgelegt, so kann der Entscheidung T 166/86, insbesondere Nummer 7 der Entscheidungsgründe, entnommen werden, welche Faktoren für die Frage der Zulässigkeit einer solchen Änderung in einem späten Prüfungsstadium (insbesondere nach Zustellung der Mitteilung nach Regel 51 (4) EPU) hauptsächlich relevant sind. Selbstverständlich muß das Ermessen immer im Einzelfall und unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des jeweiligen Falls ausgeübt werden.
Insbesondere hat die Beschwerdekammer unter Nummer 7 der Entscheidung T 166/86 darauf verwiesen, die Prüfungsabteilung habe "das Interesse des Amtes an einer zügigen Erledigung der Verfahren gegen das Interesse des Anmelders, ein rechtsbeständiges Patent in allen Vertragsstaaten zu erhalten, abzuwägen".
Immer wenn es um die Beantragung von Änderungen nach Regel 86 (3) EPU geht, muß die Prüfungsabteilung im Einzelfall diese Faktoren gegeneinander abwägen und alle sonstigen relevanten Gesichtspunkte berücksichtigen, bevor sie über den Antrag entscheidet.
4. Räumt das EPU einem Organ des EPA in bezug auf ein bei ihm anhängiges erstinstanzliches Verfahren Ermessen ein, so wird dieses Ermessen in der Regel am besten von dem erstinstanzlichen Organ ausgeübt, weil es das Verfahren leitet und alle für die Ausübung seines Ermessens erheblichen Faktoren kennen dürfte. Hat darüber hinaus ein erstinstanzliches Organ sein Ermessen ausgeübt und wird gegen eine solche Ermessensentscheidung Beschwerde eingelegt, so greifen die Beschwerdekammern in der Regel nur ungern in diese Entscheidung ein, es sei denn, daß die darin enthaltene Begründung eindeutig auf falschen Grundsätzen beruht.
5. Im vorliegenden Fall beruht die Entscheidung der Prüfungsabteilung, die beantragte Änderung abzulehnen, auf einer Begründung, in der ausschließlich zwischen dem Tatbestand des vorliegenden Falls und dem in der Entscheidung T 166/86 konkret untersuchten unterschieden wird. Die Entscheidung schließt mit der Feststellung: "Aus diesen Gründen findet die in der Entscheidung T 166/86 gezogene Schlußfolgerung auf den vorliegenden Fall keine Anwendung."
Nach Auffassung der Kammer stellt eine solche Begründung keine ausreichende Grundlage dar, um über die Ausübung des Ermessens nach Regel 86 (3) zu entscheiden. Wie unter Nummer 3 ausgeführt, ist unter Nummer 7 der Entscheidung T 166/86 dargelegt worden, welche Faktoren für eine solche Ermessensausübung hauptsächlich relevant sind; diese Faktoren scheinen aber von der Prüfungsabteilung bei ihrer Entscheidung im vorliegenden Fall in keiner Weise berücksichtigt worden zu sein.
6. Die Kammer hat den Eindruck, daß die Prüfungsabteilung ihre Aufgabe im vorliegenden Fall vielleicht mißverstanden hat. Ihre Aufgabe beschränkt sich nämlich nicht auf die Prüfung, ob der ihr vorliegende Fall genauso gelagert ist wie ein früherer, in dem eine Beschwerdekammer zugunsten des Anmelders entschieden hat. Sie besteht vielmehr darin, über den Antrag des Anmelders, wie unter Nummer 3 ausgeführt, unter Berücksichtigung der relevanten Faktoren zu entscheiden.
Unter diesen Umständen ist die Kammer der Auffassung, daß sie in diesem besonderen Fall in die Entscheidung der Prüfungsabteilung eingreifen und diese aufheben sollte; anschließend sollte die Kammer die aufgeworfene Ermessensfrage (nach den ihr in Artikel 111 (1) EPU verliehenen Befugnissen) selbst entscheiden.
7. Wenn der neue Satz mit Verfahrensansprüchen für Österreich im vorliegenden Fall zugelassen werden soll, so muß, wie in der angefochtenen Entscheidung ausgeführt, zunächst geprüft werden, ob diese Ansprüche nach Artikel 123 (2) EPU zulässig sind, da in der ursprünglich eingereichten Anmeldung keine Verfahrensansprüche enthalten waren. Eine solche weitere Prüfung nimmt nur einige Minuten und nicht Stunden in Anspruch und hätte mit Sicherheit nicht so lange wie das Abfassen der Entscheidung gedauert. Wird das "Interesse des Amtes an einer zügigen Erledigung der Verfahren" (das sich mit dem Interesse der Öffentlichkeit deckt) gegen das Interesse des Beschwerdeführers an einem angemessenen Schutz seiner Erfindung in Österreich abgewogen, so überwiegt nach Ansicht der Kammer hier bei weitem das Interesse des Beschwerdeführers.
In der angefochtenen Entscheidung weist aber nichts darauf hin, daß eine solche Abwägung vorgenommen worden ist.
Wie in der Entscheidung zutreffend ausgeführt, muß im vorliegenden Fall im Gegensatz zur Entscheidung T 166/86 vor der Erteilung einzig und allein die Zulässigkeit des neuen Anspruchssatzes nach Artikel 123 (2) EPU geprüft werden, aber dieser Faktor ist im Vergleich zu den obengenannten Uberlegungen nur von sehr untergeordneter Bedeutung.
Aus der Akte geht hervor, daß das Versäumnis des Beschwerdeführers, einen gesonderten Anspruchssatz für Österreich zu einem früheren Zeitpunkt einzureichen, auf einem menschlichen Versagen des Beschwerdeführers bzw. der in seinem Auftrag handelnden Personen beruht. Es steht jedoch fest, daß der Fehler entdeckt und der gesonderte Anspruchssatz eingereicht wurde, bevor auf die Anmeldung ein Patent erteilt wurde. Daher war es weder für die Beantragung noch für die Zulassung der Änderung zu spät. Ferner würde kein Mitglied der Öffentlichkeit durch eine Zulassung der Änderung unbillig benachteiligt, denn im EPU ist eindeutig vorgesehen, daß eine Anmeldung bis zur Erteilung noch geändert werden kann.
Vom Beschwerdeführer wurde geltend gemacht, bei der Entscheidung über den Änderungsantrag solle das EPA auf seinen Ruf der Anmelderfreundlichkeit bedacht sein. Nach Auffassung der Kammer darf dieser Faktor bei der Ermessensausübung durch das EPA eindeutig keine Rolle spielen. Ermessen muß immer unparteiisch ausgeübt werden, indem die für die betreffende Frage rechtserheblichen Faktoren berücksichtigt und die nicht rechtserheblichen Faktoren außer acht gelassen werden. Eine entgegenkommende Haltung des EPA gegenüber den Anmeldern darf nicht mit der pflichtgemäßen Ermessensausübung verwechselt werden.
8. Bei jeder Ermessensausübung - gleichgültig, ob zugunsten oder zuungunsten einer Partei - sind die Gründe dafür anzugeben. Im vorliegenden Fall sind die Gründe, die die Kammer zur Ausübung ihres Ermessens zugunsten des Beschwerdeführers veranlassen, unter Nummer 7 dargelegt worden; sie stimmen mit den in der Entscheidung T 166/86 erörterten und angewandten Grundsätzen überein.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Der Beschwerde wird stattgegeben; die Entscheidung der Prüfungsabteilung vom 16. Februar 1988 wird aufgehoben.
2. Die Sache wird zur Fortsetzung der Prüfung der Anmeldung unter Berücksichtigung des gesonderten Anspruchssatzes für Österreich an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen.