T 1362/20 01-08-2023
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Elektrozahnbürste
Spät eingereichter Einwand - Umstände der Beschwerdesache rechtfertigen Zulassung (ja)
Patentansprüche - Klarheit (nein)
I. Die Einspruchsabteilung entschied, das Patent in geändertem Umfang basierend auf dem Hilfsantrag (19:41) aufrechtzuerhalten.
II. Gegen diese Entscheidung reichten die Patentinhaberin und die Einsprechende Beschwerde ein.
III. Am 1. August 2023 fand eine mündliche Verhandlung per Videokonferenz vor der Kammer statt.
IV. Am Ende der mündlichen Verhandlung zog die Patentinhaberin ihre Beschwerde zurück. Sie wird daher im Folgenden als Beschwerdegegnerin bezeichnet und die Anträge der Parteien lauteten daher wie folgt:
Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
Die Beschwerdegegnerin (Pateninhaberin) beantragte die Beschwerde zurückzuweisen und ein Patent auf der Basis des Hilfsantrags (19:41) oder des Hilfsantrags 12, beide eingereicht mit Schreiben vom 8. Januar 2021 aufrecht zu erhalten.
V. Die unabhängigen Ansprüche haben folgenden Wortlaut:
a) Hilfsantrag (19:41)
(Merkmalsgliederung hinzugefügt)
1.1
"Elektrozahnbürste
1.2
mit einem Grundkörper (10), der einen Griff (16) ausformt und einen Elektromotor (58) sowie ein Getriebe (48) aufnimmt,
1.3
mit einem an den Grundkörper (10) anschliessenden Aufsteckbürstengrundkörper (102) einer Aufsteckbürste (14)
1.4
mit einem Hals (34) und einem am Hals (34), gegenüberliegend dem Griff (16) des Grundkörpers (10) angeordneten Kopf (38),
1.5
der mit einem bewegbaren Reinigungselement (40) bestückt ist,
1.6
wobei das Getriebe (48) die vom Elektromotor (58) an seiner Antriebsachse (60) bereitgestellte, im Wesentlichen kontinuierliche Drehbewegung in eine reversierende Bewegung einer zum Antrieb des bewegbaren Reinigungselementes (40) der Elektrozahnbürste vorgesehenen Abtriebsachse (30) überträgt und wandelt,
1.7
wobei der Aufsteckbürstengrundkörper (102) der Aufsteckbürste (14) fest und nicht verschwenkbar bezüglich des Grundkörpers (10) der Elektrozahnbürste aufgesteckt ist
1.8
und wobei das bewegbare Reinigungselement (40) mit einer Achsverlängerung (128) drehfest verbunden ist,
1.9
wobei die Achsverlängerung (128) wiederum schwenkbar im Aufsteckbürstengrundkörper (102) gelagert ist
1.10
und mit der Abtriebsachse (30) verbunden ist, damit das bewegbare Reinigungselement (40) eine reversierende Schwenkbewegung ausführt,
1.10a
wobei aufgrund von zumindest einer Abflachung (84) der Abtriebsachse (30), die mit zumindest einer entsprechenden Aufnahmeseite der Achsverlängerung (128) zusammenwirkt, ein Drehmoment von der Abtriebsachse (30) auf die Achsverlängerung (128) übertragen wird, wobei die zumindest eine Abflachung (84) im Endbereich der Abtriebsachse (30) vorgesehen ist.
1.11
und wobei die Schwenkbewegung das bewegbare Reinigungselement (40) um eine Achse, die wenigstens nahezu parallel zur Längsachse des Halses (34) verläuft, bewegt,
1.12
wobei der Kopf (38) der Aufsteckbürste (14) zusätzlich ein stationäres Reinigungselement (40s) aufweist, das fest bezüglich des Halses (34) angeordnet ist,
1.12a
wobei an dem bewegbaren Reinigungselement (40) und an den stationären Reinigungselement (40s) jeweils Borsten (42) angeordnet sind
1.13
wobei die Antriebsachse (60) des Elektromotors (58) im angespiesenen Zustand bei unbelastetem Betrieb der Elektrozahnbürste (12) mit einer Drehzahl zwischen 2000 U/min und 12000 U/min rotiert,
1.13a
und wobei das Getriebe (48) einen mit der Antriebsachse (60) wirkverbundenen Nocken (72) und einen entsprechenden Abnehmer (74, 132), der mit der Abtriebsachse (30) drehfest verbunden ist, aufweist,
1.13b
wobei dass ein Verhältnis des Abstandes zwischen der Längsmittelachse der Abtriebsachse (30) und der Längsmittelachse der Antriebsachse (60) im Bereich des Abnehmers (74, 132) zum Abstand zwischen der Längsmittelachse einer den Nocken (72) antreibenden Achse (60, 78) und der Längsmittelachse des Nockens (72) mindestens 10:1 beträgt."
b) Hilfsantrag 12:
In Anspruch 1 des Hilfsantrags 12 wurde, ausgehend vom Hilfsantrag (19:41), zwischen den Merkmalen 1.10 und 1.10a das Merkmal 1.10b eingefügt, wonach
1.10b
"die Achsverlängerung (128) beim Aufstecken der Aufsteckbürste (14) auf den Grundkörper (10) mit der Abtriebsachse (30) verbunden wird."
VI. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) argumentierte im Wesentlichen wie folgt:
Der mit der Beschwerdebegründung erstmals erhobene Klarheitseinwand gegen das Merkmal 1.13b sei gemäß Artikel 12(4) und (6) VOBK 2020 nicht in das Verfahren zuzulassen.
Das Merkmal 1.13b sei klar, weil für den Fachmann die Lage der Längsmittelachse des Nockens (72) eindeutig sei. Damit sei auch der Abstand einer den Nocken antreibenden Achse von der Längsmittelachse des Nockens (72) eindeutig bestimmbar.
VII. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) argumentierte im Wesentlichen wie folgt:
Der Klarheitseinwand richte sich gegen das Merkmal (1.13b), das am Nachmittag der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung erstmals aus der Beschreibung in den Anspruch aufgenommen worden sei. Dieser Umstand rechtfertige, dass der mit der Beschwerdebegründung erstmals erhobene Einwand zugelassen werde.
Das Merkmal 1.13b sei nicht klar, weil der Abstand einer den Nocken antreibenden Achse von der Längsmittelachse des Nockens (72) nicht eindeutig bestimmbar sei.
1. Klarheit - Artikel 84 EPÜ
1.1 Zulassung des Einwands
Mit der Beschwerdebegründung erhob die Beschwerdeführerin erstmals den Einwand, dass das Merkmal 1.13b die Klarheitsanforderungen des Artikels 84 EPÜ nicht erfülle.
Die Beschwerdegegnerin beantragte, diesen Einwand gemäß Artikel 12(4) und (6) VOBK 2020 nicht zuzulassen, da er eine Änderung des Vorbringens darstelle und bereits im Einspruchsverfahren hätte vorgebracht werden können und sollen. Bereits die während der mündlichen Verhandlung im Einspruchsverfahren eingereichten Hilfsanträge 1a, 1b und 2a enthielten das Merkmal 1.13b. Die Beschwerdeführerin habe also bereits im Einspruchsverfahren Gelegenheit gehabt, den Einwand zu erheben. Stattdessen habe sie sogar eingeräumt, dass der Hilfsantrag 2a die Anforderungen von Artikel 84 EPÜ erfülle (Niederschrift der mündlichen Verhandlung, Punkt 6.4).
Während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung verteidigte die Patentinhaberin keinen der im schriftlichen Verfahren eingereichten Hilfsanträge. Nachdem der Hauptantrag - wie in der vorläufigen Meinung der Einspruchsabteilung schon dargestellt - wegen einer unzulässigen Zwischenverallgemeinerung gefallen war, reichte die Patentinhaberin neue Hilfsanträge ein. Die Hilfsanträge 1a, 1b und 2a sowie der Hilfsantrag (19:41) wurden erst am Nachmittag der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereicht und umfassten jeweils Merkmale, die aus der Beschreibung entnommen wurden. Die Beschwerdeführerin hatte jeweils etwa eine halbe Stunde Zeit, sich mit den neu eingereichten Anträgen zu befassen.
Die Kammer ist der Auffassung, dass es in diesem Zeitrahmen zwar möglich gewesen wäre, einen vorliegenden Klarheitsmangel zu erkennen. Die Beschwerdeführerin hätte also den Einwand vorbringen können. Allerdings konnte dies im Hinblick auf den engen Zeitrahmen nicht von ihr verlangt werden, so dass der Einwand auch im Sinne von Artikel 12(6), 2. Satz VOBK 2020 nicht hätte vorbebracht werden sollen. Da die Änderungen der Beschreibung entnommen wurden und im Einspruchsverfahren zu einem sehr späten Zeitpunkt noch in das Verfahren zugelassen wurden, entspricht es dem Gebot der Fairness, neue Einwände gegen die geänderten Ansprüche noch zuzulassen, wenn diese Einwände bei erster Gelegenheit im Beschwerdeverfahren erhoben werden.
Dies gilt umso mehr, da im vorliegenden Fall der erstmals mit der Beschwerdebegründung erhobene Einwand mangelnder Klarheit des Merkmals 1.13b hoch relevant ist (siehe dazu unten).
Die Kammer übt ihr Ermessen nach Artikel 12(6) VOBK 2020 daher dahingehend aus, diesen Einwand in das Verfahren zuzulassen.
1.2 Mangelnde Klarheit des Merkmals 1.13b
Das Merkmal 1.13b definiert das Verhältnis zweier Abstände, und zwar
- des Abstands der Antriebsachse (60) von der Abtriebsachse (30) gegenüber
- dem Abstand einer den Nocken antreibenden Achse von der Längsmittelachse des Nockens (72).
Letzterer ist gemäß Merkmal 1.13b mindestens um den Faktor 10 kleiner als ersterer.
Das Streitpatent gibt nicht an, wie die Lage der Längsmittelachse des Nockens im Allgemeinen bestimmt werden kann. Es gibt zwar Beispiele von regelmäßig geformten Nocken (Absatz [0057]), bei denen die Lage der Längsmittelachse durch den Fachmann eindeutig bestimmt werden kann. Der Anspruch umfasst jedoch auch Nocken, die unregelmäßig geformt sind. Dem Fachmann sind z.B. auch "birnenförmige" Nocken bekannt. Je nach gewünschtem Bewegungsablauf sind beliebige Formen von Nocken denkbar und auch durch den Anspruchsumfang abgedeckt. Für solche Nocken gibt es verschiedene Möglichkeiten, eine Längsmittelachse zu definieren. Sie könnte z.B. durch den Schwerpunkt der Querschnittsfläche verlaufen oder durch den Mittelpunkt des Umkreises um die Querschnittsfläche. Die verschiedenen Methoden liefern grundsätzlich unterschiedliche Lagen der Längsmittelachse und damit unterschiedliche Werte des in Merkmal 1.13b spezifizierten Verhältnisses.
Dies führt dazu, dass das in Merkmal 1.13b angegebene Verhältnis mit Hilfe der Angaben des Streitpatents nicht eindeutig bestimmt werden kann. Es lässt sich daher auch nicht eindeutig bestimmen, ob eine existierende Elektrozahnbürste unter den Anspruchsumfang fällt oder nicht.
Die Beschwerdegegnerin argumentierte, die Beschreibung des Patents zeige, wie die Exzentrizität des Nockens zu verstehen sei, und der Fachmann wisse, wie die Längsachse des Nockens zu bestimmen sei. Sie verwies dazu auf Absatz [0057], der einen Nocken mit kreisrundem bis leicht elliptischem Querschnitt beschreibt. Es sei zudem aus dem Gesamtzusammenhang des Patents klar, dass für den Nocken nur regelmäßige Formen vorgesehen seien. Unregelmäßige Querschnitte oder gar birnenförmige Querschnitte erkenne der Fachmann als nicht sinnvoll. Sie seien daher auch nicht in den Anspruchsumfang hineinzulesen.
Die Kammer kann jedoch keinen Grund erkennen, warum unregelmäßige oder unsymmetrische Querschnitte des Nockens im Kontext des Anspruchs nicht sinnvoll sein sollten. Solche Querschnitte erfüllen ihre technische Aufgabe den Mitnehmer zu verschwenken genauso wie regelmäßig geformte Nocken. Der Anspruchsumfang ist deshalb nicht implizit auf regelmäßig geformte Nocken beschränkt, bei denen die Längsachse eindeutig bestimmbar ist.
Der Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags (19:41) ist daher nicht klar im Sinne von Artikel 84 EPÜ.
1.3 Hilfsantrag 12
Auch Anspruch 1 des Hilfsantrags 12 beinhaltet das Merkmal 1.13b. Er erfüllt daher aus den selben Gründen nicht die Anforderungen von Artikel 84 EPÜ.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Das Patent wird widerrufen.