G 0010/93 (Umfang der Prüfung bei ex-parte Beschwerde) 30-11-1994
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Einbeziehung von neuen Gründen im ex-parte Verfahren
Reformatio in peius
Zusammenfassung des Verfahrens
I. Mit ihrer Entscheidung vom 6. Dezember 1993, T 933/92, ABl. EPA 1994, 740 legte die Beschwerdekammer 3.4.1 von Amts wegen gemäß Artikel 112 (1) a) EPÜ der Großen Beschwerdekammer folgende Rechtsfragen vor:
1. Hat eine Beschwerdekammer in einem Beschwerdeverfahren gegen eine Entscheidung einer Prüfungsabteilung, in der eine Verletzung von einem oder mehreren explizit genannten Erfordernissen des EPÜ als Zurückweisungsgrund einer europäischen Patentanmeldung genannt ist, bei der Prüfung der Beschwerde gemäß Artikel 110 EPÜ entweder die Verpflichtung oder die Befugnis zu überprüfen, ob die Patentanmeldung auch denjenigen anderen Erfordernissen des EPÜ genügt, die die Prüfungsabteilung im Prüfungsverfahren als erfüllt ansah und die daher in ihrer Entscheidung nicht die Zurückweisungsgründe für die Patentanmeldung stützten?
2. Falls einer Beschwerdekammer keine derartige Verpflichtung aber eine derartige Befugnis zuerkannt wird, unter welchen Bedingungen sollte sie von dieser Befugnis Gebrauch machen?
II. Diese Fragen stellten sich im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens gegen die Entscheidung einer Prüfungsabteilung, mit der die Europäische Patentanmeldung mit der Begründung zurückgewiesen worden ist, daß die während des Prüfungsverfahrens vorgelegte neue Fassung der Patentansprüche gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstoße.
III. In der Vorlageentscheidung wird zum Verfahren vor der Prüfungsabteilung auf folgende Umstände hingewiesen:
Die vorliegende Patentanmeldung wurde ursprünglich als PCT-Anmeldung eingereicht und gemäß Kapitel II PCT der internationalen vorläufigen Prüfung unterworfen. Nach dem Eintritt in die nationale (regionale) Phase vor dem EPA legte die Anmelderin eine geänderte Fassung der Anmeldungsunterlagen vor und beantragte die Patenterteilung auf der Grundlage dieser Änderungen.
Im Rahmen der Prüfung der Patentanmeldung gemäß Artikel 96 EPÜ erhob die Prüfungsabteilung in einem Bescheid gegen die Änderung der ursprünglichen Anmeldungsunterlagen Einwände aufgrund von Artikel 123 (2) EPÜ. Ferner stellte sie in diesem Bescheid fest:
"Zur Behebung des obigen Einwandes erscheint es nötig, auf den dem Abschlußbericht der vorläufigen Prüfung zugrunde liegenden Anspruch 1 zurückzukommen.
Gegen diesen Anspruch bestehen auch keine Einwände unter Artikel 52 (1) EPÜ (Neuheit und erfinderische Tätigkeit)."
IV. Da die Anmelderin ihren Antrag aufrechterhielt, wies die Prüfungsabteilung die Anmeldung zurück. Die Entscheidung ging auf die Patentierbarkeit der ursprünglichen Fassung der Ansprüche nicht mehr ein.
V. Gegen die Zurückweisungsentscheidung der Prüfungsabteilung hat die Anmelderin mit der Begründung Beschwerde eingelegt, daß die Zurückweisung aufgrund von Artikel 123 (2) EPÜ sachlich nicht gerechtfertigt sei.
VI. Im Rahmen der Prüfung der Beschwerde gemäß Artikel 110 EPÜ gelangte die Beschwerdekammer zu einer vorläufigen Auffassung, die zwar mit der Entscheidung der Prüfungsabteilung im Hinblick auf die Verletzung des Artikel 123 (2) EPÜ übereinstimmte, aber im Hinblick auf das Vorliegen einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne des Artikel 56 EPÜ zu einem gegenteiligen Ergebnis kam als die Prüfungsabteilung in ihrem oben genannten Bescheid. Es erging noch keine Mitteilung an die Beschwerdeführerin.
VII. In der Vorlageentscheidung hielt die Kammer 3.4.1 im Rahmen der Prüfung einer Beschwerde gegen eine Entscheidung einer Prüfungsabteilung gemäß Artikel 110 EPÜ den Umfang der Pflichten und Befugnisse einer Beschwerdekammer bei der Prüfung einer Patentanmeldung im Hinblick auf solche Erfordernisse des EPÜ für nicht ganz geklärt, die die Prüfungsabteilung im Prüfungsverfahren als erfüllt ansah und die daher in ihrer Entscheidung nicht die Zurückweisungsgründe für die Patentanmeldung stützten.
VIII. Der Beschwerdeführerin im Verfahren T 933/92 wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
Nach ihrer Auffassung seien vor allem jene Prinzipien zu berücksichtigen, die in Artikel 113 und 114 EPÜ festgelegt sind. Der Anmelder beantrage bei der Beschwerdekammer sinngemäß, eine Zurückweisungsentscheidung einer Prüfungsabteilung aufzuheben und das Patent in einer bestimmten Fassung zu erteilen oder die Anmeldung - unter bestimmten Auflagen - an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen. Die Beschwerdekammer habe sich bei der Entscheidung über eine Patentanmeldung streng an jene Fassung zu halten, die dem Antrag des Anmelders zugrundeliege (Art. 113 EPÜ). Wenn also die Prüfungsabteilung einem Anmelder ein Patent "gemäß seinem Hilfsantrag bereits erteilt hat" und sich die Anmelderbeschwerde nur gegen die Zurückweisung des Hauptantrags richtet, könne die Beschwerdekammer mangels eines entsprechenden Antrages auch nicht mehr von sich aus "das nach dem Hilfsantrag erteilte Patent" widerrufen, und zwar auch nicht aus einem weiteren, zuvor von der Prüfungsabteilung nicht oder nicht genügend beachteten Grund.
Bei der Ermittlung von Sachverhalten sei aber die Beschwerdekammer nicht auf das Vorbringen und die Anträge des Anmelders beschränkt. Die Beschwerdekammer könne bei der Entscheidung über eine Beschwerde gegen die Zurückweisung einer Anmeldung die von ihr selbst ermittelten, die Patentierbarkeit erschütternden Sachverhalte auch in ihre Entscheidung über die Patenterteilung einbeziehen, also von sich aus auch einen weiteren Zurückweisungsgrund berücksichtigen. Sie könne daher nicht nur, sondern solle sogar als Tatsacheninstanz die der Beschwerde des Anmelders zugrundeliegende Fassung der Patentansprüche auch auf die weiteren Erteilungsvoraussetzungen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht prüfen, müsse dann aber bezüglich des weiteren Grundes dem Anmelder ausreichendes rechtliches Gehör gewähren (Art. 113 (1) EPÜ). In kritischen Fällen, insbesondere auch auf Antrag des Anmelders, erscheine eine Zurückverweisung an die Prüfungsabteilung angebracht, um einen Instanzverlust des Anmelders wegen des weiteren Grundes oder des neuen Standes der Technik zu vermeiden.
Entscheidungsgründe
1. Die Vorlageentscheidung stellt die Frage, ob sich die Beschwerdekammer bei der Überprüfung einer Entscheidung der Prüfungsabteilung, mit der die Anmeldung zurückgewiesen wurde, auf Gründe stützen kann, die Erfordernisse betreffen, die die Prüfungsabteilung als erfüllt angesehen hat.
2. In der Vorlageentscheidung wurde der Umfang der Pflichten und Befugnisse der Beschwerdekammer im ex parte Verfahren zu dieser Fragestellung als nicht ganz geklärt bezeichnet. Die Große Beschwerdekammer hat aus dem Hauptzweck des mehrseitigen Beschwerdeverfahrens, der unterlegenen Partei die Möglichkeit zu geben, die Entscheidung der Einspruchsabteilung anzufechten, abgeleitet, daß die Berücksichtigung neuer Einspruchsgründe im Beschwerdeverfahren begrenzt ist (G 9 und 10/91, ABl. EPA 1993, 408, 419, Gründe Nr. 18). Zur Begründung wird in diesen Entscheidungen auf den streitigen Charakter des Einspruchsbeschwerdeverfahrens und seine systematische Stellung als der Patenterteilung nachgeschaltetes Verfahren verwiesen. Demgemäß ist das verwaltungsgerichtliche Verfahren zur Überprüfung einer administrativen Entscheidung der ersten Instanz seiner Natur nach weniger auf Ermittlungen ausgerichtet als ein Verwaltungsverfahren. Die Einspruchsabteilung oder die Beschwerdekammer ist nicht verpflichtet, über die in der Erklärung gemäß Regel 55 c) EPÜ angegebenen Einspruchsgründe hinaus alle im EPÜ genannten Einspruchsgründe zu prüfen. Im Beschwerdeverfahren dürfen neue Einspruchsgründe nur mit dem Einverständnis des Patentinhabers geprüft werden (Entscheidungsformel Nr. 3 zu G 10/91, ABl. EPA 1993, 421).
3. Diese Grundsätze lassen sich auf das ex parte Verfahren nicht übertragen. Die in Artikel 100 a) bis c) EPÜ definierten Einspruchsgründe sind in ihrer Funktion mit den umfassend umschriebenen Zurückweisungsgründen nach Artikel 97 (1) EPÜ nicht vergleichbar. Im Gegensatz zum Einspruchsbeschwerdeverfahren bezieht sich die verwaltungsgerichtliche Überprüfung im ex parte Verfahren auf das Stadium vor der Patenterteilung und läßt einen streitigen Charakter vermissen. Es betrifft die Prüfung der Voraussetzungen für die Erteilung eines Patents in einem Verfahren, in dem nur eine Partei - der Anmelder - beteiligt ist. Die zuständigen Instanzen haben sicherzustellen, daß die Patentierungsvoraussetzungen vorliegen. Deshalb sind die Beschwerdekammern im ex parte Verfahren weder auf die Überprüfung der Gründe der angefochtenen Entscheidung noch auf die dieser Entscheidung zugrundeliegenden Tatsachen und Beweismittel beschränkt und können neue Gründe in das Verfahren einbeziehen. Dies gilt sowohl für Patentierungserfordernisse, die die Prüfungsabteilung im Prüfungsverfahren nicht in Betracht gezogen hat, als auch für solche, die sie in einem Bescheid oder in einer Zurückweisungsentscheidung als erfüllt bezeichnet hat.
4. Die Befugnis zur Einbeziehung neuer Gründe im ex parte Verfahren bedeutet aber nicht, daß die Beschwerdekammern die Prüfung der Anmeldung auf Patentierungserfordernisse in vollem Umfang durchführen. Dies ist Aufgabe der Prüfungsabteilung. Das Verfahren vor den Beschwerdekammern ist auch im ex parte Verfahren primär auf die Überprüfung der angefochtenen Entscheidung abgestellt. Besteht aber ein Anlaß zur Annahme, daß ein Patentierungserfordernis nicht erfüllt sein könnte, so bezieht die Beschwerdekammer dieses in das Beschwerdeverfahren ein oder stellt durch Verweisung an die Prüfungsabteilung sicher, daß sich die fortgesetzte Prüfung darauf erstreckt.
5. Ob die Beschwerdekammer in der Sache selbst entscheidet oder die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die Prüfungsabteilung verweist (Art. 111(1) Satz 2 EPÜ), hat sie nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Dabei sind die maßgebenden Umstände des Einzelfalles in Betracht zu ziehen und insbesondere abzuwägen, ob noch weitere Ermittlungen anzustellen sind, ob ein Verfahrensmangel vorliegt, der eine Sachentscheidung ausschließt, ob sich der Sachverhalt gegenüber dem angefochtenen Beschluß erheblich geändert hat, welche Stellung der Anmelder zum "Instanzverlust" einnimmt, ob durch eine Entscheidung der Kammer das Verfahren erheblich beschleunigt werden kann und ob sonstige Gründe für oder gegen die Zurückverweisung sprechen. Welche Bedeutung den einzelnen Erwägungen zukommt, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab.
6. Die Vorlageentscheidung weist auf die Vorlage T 60/91, ABl. EPA 1993, 551 hin, die zu der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer G 9/92 (zur Veröffentlichung bestimmt) geführt hat und sich mit der Zulässigkeit der Änderung der angefochtenen Entscheidung zum Nachteil des Beschwerdeführers im Einspruchsbeschwerdeverfahren befaßt. Hierzu ist festzustellen, daß die Prüfungsabteilung bei der Zurückweisung der Anmeldung über den totalen Rechtsverlust entscheidet. Eine Änderung dieser Entscheidung zum Nachteil des Anmelders ist - vom Ergebnis her gesehen - im ex parte Beschwerdeverfahren ausgeschlossen. Wird die angefochtene Entscheidung aus anderen Gründen bestätigt, bleibt es bei der Zurückweisung der Anmeldung. Deshalb läßt sich auch keine Parallele zu der erwähnten Entscheidung ziehen, weil sie einen Teilrechtsverlust - die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang durch die Einspruchsabteilung - betrifft.
7. Die Argumente der Beschwerdeführerin im Verfahren T 933/92 gehen von einem ganz anderen Ansatz aus. Sie beziehen sich darauf, daß sich die Prüfungsabteilung zu zwei unterschiedlichen Fassungen der Anmeldungsunterlagen geäußert und eine davon als patentierbar bezeichnet hat (siehe oben III). Die Beschwerdeführerin werde durch eine Bestätigung der Zurückweisungsentscheidung unzulässig benachteiligt, wenn die Prüfungsabteilung bereits eine bestimmten Fassung positiv beurteilt habe. Neue Gründe dürften zwar in Anwendung des Grundsatzes der Amtswegigkeit in das Verfahren eingeführt werden, es müßten jedoch die Rechte aus dem bisherigen Verfahren vor der Prüfungsabteilung gewahrt werden. Die Beschwerdeführerin vertritt die Auffassung, daß die Beschwerde stets zur Zurückverweisung an die Prüfungsabteilung führen müsse, wenn diese in einem Bescheid eine bestimmte Fassung der Anmeldung als patentierbar bezeichnet habe. Die Beschwerde richte sich nur gegen die Zurückweisung des Hauptantrages. Die Beschwerdekammer könne mangels eines Antrags auch nicht mehr von sich aus das "gemäß dem Hilfsantrag erteilte Patent widerrufen."
Nach Auffassung der Beschwerdeführerin kommt also der Mitteilung der Prüfungsabteilung, eine bestimmte Fassung der Anmeldung sei patentierbar, die Wirkung einer (Teil-)Patentierung zu. Dem kann nicht gefolgt werden. Die Prüfungsabteilung ist an die im Rahmen der Prüfung nach Artikel 96 (2) EPÜ geäußerte - positive oder negative - Ansicht nicht gebunden. Das Prüfungsverfahren kann sogar noch nach Abgabe der Zustimmungserklärung nach Regel 51 (4) EPÜ - "aus welchen Gründen auch immer" - erneut eröffnet werden (vgl. G 10/92, ABl. EPA 1994, 633, Gründe Nr. 7). Die Prüfungsabteilung hat mit der Entscheidung über die Zurückweisung der Anmeldung über den Antrag auf Erteilung eines Patents mit den zuletzt vorgelegten Ansprüchen entschieden (siehe oben III). Kommt die Beschwerdekammer zu der Auffassung, daß die Anmeldung nicht patentierbar ist, so kann sie die Entscheidung bestätigen. Eine Verpflichtung zur Zurückverweisung an die erste Instanz besteht nicht.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Rechtsfrage ist wie folgt zu beantworten:
In einem Verfahren über die Beschwerde gegen eine Entscheidung einer Prüfungsabteilung, mit der eine europäische Patentanmeldung zurückgewiesen worden ist, hat die Beschwerdekammer die Befugnis zu überprüfen, ob die Anmeldung und die Erfindung, die sie zum Gegenstand hat, den Erfordernissen des EPÜ genügen. Dies gilt auch für Erfordernisse, die die Prüfungsabteilung im Prüfungsverfahren nicht in Betracht gezogen oder als erfüllt angesehen hat. Besteht Anlaß zur Annahme, daß ein solches Patentierungserfordernis nicht erfüllt sein könnte, so bezieht die Beschwerdekammer diesen Grund in das Verfahren ein.