T 0231/85 (Triazolylderivate) 08-12-1986
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1. Das Bekanntsein eines Stoffes steht der Neuheit einer bis dahin unbekannten Verwendung dieses Stoffes (hier: Verwendung als Fungizid) auch dann nicht entgegen, wenn die neue Verwendung keiner anderen technischen Realisierung bedarf (hier: z. B. Besprühen von Nutzpflanzen) als eine bekannte Verwendung desselben Stoffes (hier: Verwendung als Wachstumsregulator).
2. Eine Nichtberücksichtigung von Eingaben wegen einer von den Beteiligten nicht zu vertretenden inneramtlichen Verzögerung stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne der Regel 67 EPÜ dar, der die Rückzahlung der Beschwerdegebühr aus Gründen der Billigkeit gebietet.
Neuheit - neue Verwendung eines bekannten Stoffes
Erfinderische Tätigkeit - unspezifizierter Effekt
Verfahrensmangel (wesentlicher) ja
Nichtberücksichtigung eines Antrages wegen inneramtlicher Verzögerung
I. Die am 10. März 1981 mit deutscher Priorität vom 24. März 1980 eingereichte europäische Patentanmeldung 81 101 742.5 (Publikationsnummer 37 468) wurde von der Prüfungsabteilung 001 durch Entscheidung vom 2. Juli 1985 zurückgewiesen.
Die Zurückweisung erfolgte auf der Grundlage von vier Patentansprüchen, die in gekürzter Form, wie folgt lauten:
"1. Verfahren zur Bekämpfung von Pilzen, dadurch gekennzeichnet, daß man ein Triazolylderivat der allgemeinen Formel ..., in der ..., oder deren Salze oder Metallkomplexverbindungen auf diese einwirken läßt.
2. Verfahren zur vorbeugenden Bekämpfung von Pilzen, dadurch gekennzeichnet, daß man ein Triazolylderivat gemäß Anspruch 1 auf der Pilzbefall bedrohte Gegenstände einwirken läßt.
3. Verfahren nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, daß man ... (konkrete Verbindung A) ... als Triazolylderivat verwendet.
4. Verfahren nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, daß man ... (konkrete Verbindung B) ... als Triazolylderivat verwendet."
II. Die Zurückweisung erfolgt im Hinblick auf Art. 54 (3) EPÜ wegen mangelnder Neuheit gegenüber der nicht vorveröffentlichten älteren europäischen Patentanmeldung (1) EP-A-19 762.
In (1) werde ein Verfahren zur Regulierung des Pflanzenwachstums mittels der gleichen Verbindungen beschrieben, die nach der Erfindung in einem Verfahren zur Bekämpfung von Pilzen verwendet werden sollen. Falls bei zwei Patentansprüchen - wie hier - ein Unterschied nur hinsichtlich der Zweckangabe bestehe, wobei diese Angabe die gleichen technischen Merkmale impliziere, so seien die Gegenstände solcher Ansprüche als gleich zu betrachten (Seite 4, Absatz 1, der angefochtenen Entscheidung).
III. Am 22. Mai 1985 hatte die Anmelderin noch zwei Hilfsanträge gestellt: Der erste richtete sich auf die Erteilung zweier Verfahrensansprüche, entsprechend der Ansprüche 3 und 4 gemäß Hauptantrag; der zweite auf Erteilung eines Patents für die Verwendung eines Triazolylderivats zur Herstellung eines Fungizids, gekennzeichnet durch die Verwendung von Verbindungen gemäß Anspruch 1 des Hauptantrages (Anspruch 1) bzw. von Verbindungen A und B, wie in den Ansprüchen 3 und 4 gemäß Hauptantrag definiert (Anspruch 2 bzw. 3). Diese Hilfsanträge wurden in der Entscheidung vom 2.07.1985 nicht beschieden, da sie wie dem Protokoll einer telefonischen Rücksprache am 8.07.1986 zu entnehmen ist, erst nach deren Ergehen zur Kenntnis der Prüfungsabteilung gelangt waren.
Dem genannten Protokoll ist auch zu entnehmen, daß die Prüfungsabteilung den 1. Hilfsantrag für gewährbar hielt, aber deswegen nicht zur Abhilfe nach Art. 109 EPÜ bereit war, weil die Anmelderin auch weiterhin an ihrem Hauptantrag festhielt.
IV. Gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung hat die Anmelderin am 13. Juli 1985 unter gleichzeitiger Bezahlung der vorgeschriebenen Gebühr Beschwerde erhoben, die sie auch gleichzeitig begründet hat. Die Begründung bezieht sich auf die Entscheidung Gr 01/83 vom 5.12.1984 der Großen Beschwerdekammer, (ABL. EPA 1985, 60) und folgert daraus im wesentlichen, daß bei Bejahung der Neuheit einer zweiten, trotz Bekanntseins einer ersten pharmazeutischen Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches auch eine zweite landwirtschaftliche Verwendung als neu anzuerkennen sei. Der Haupt- und die beiden Hilfsanträge sind zunächst unverändert weiterverfolgt worden.
V. Am 7. Mai 1986 hat die Beschwerdeführerin (Anmelderin) ferner einen dritten Hilfsantrag vorgelegt, dessen Anspruch 1 auf die Verwendung der in Anspruch 1 des Hauptantrages definierten Triazolylderivate zur Bekämpfung von Pilzen gerichtet war; Anspruch 2 des Hilfsantrages 3 richtete sich - in alternativer Form - auf die entsprechende Verwendung der konkreten Verbindungen A und B gemäß den Ansprüchen 3 und 4 des Hauptantrages.
VI. Auf Anregung der Kammer, den Hilfsantrag als den am weitesten gehenden Antrag zum Hauptantrag zu machen, hat die Beschwerdeführerin schließlich als neuen Hauptantrag - unter Berücksichtigung aller bisherigen Anspruchssätzen in Form von Hilfsanträgen - die beiden folgenden (gekürzt wiedergegebenen) Ansprüche eingereicht:
"1. Verwendung eines Triazolylderivats der allgemeinen Formel ... (wie im vorherigen Hauptantrag) ... oder dessen Salz oder Metallkomplexverbindung zur Bekämpfung und zur vorbeugenden Bekämpfung von Pilzen.
2. Verwendung von ... (Verbindung A oder B) ... gemäß Anspruch 1."
Sie beantragt Erteilung eines Patents auf Grund dieser Ansprüche.
(..)
3. Die angefochtene Entscheidung stützt sich auf (1) als einzigen relevanten Stand der Technik. Dort sind die gemäß Anspruch 1 der vorliegenden Anmeldung zur Verwendung als Fungizide vorgeschlagenen Triazolylderivate als solche sowie ihre Anwendung als Mittel zur Beeinflussung des Pflanzenwachstums beschrieben. Die Behandlung erfolgt ebenso wie beim Anmeldungsgegenstand z. B. durch Besprühen oder Bestäuben von Nutzpflanzen oder durch Beizen von deren Samen (vgl. (1), Seite 16, und vorliegende Anmeldung, Seite 13, letzter Absatz).
4. Demgegenüber hielt die Vorinstanz das seinerzeit beanspruchte Verfahren zur Bekämpfung von Pilzen mittels der betreffenden Triazolylderivate, das inhaltlich deren nunmehr beanspruchter Verwendung im wesentlichen entsprach, für nicht mehr neu. Sie gelangte zu dieser Auffassung offenbar - obwohl dies in der angefochtenen Entscheidung nicht in voller Klarheit gesagt wird - auf Grund der Überlegung, daß beim Stand der Technik nach (1) ebenso wie anmeldungsgemäß Pflanzen - vornehmlich Nutzpflanzen, wie Getreide - mit den Triazolylverbindungen in gleicher Weise behandelt werden, wobei unabhängig von der angestrebten Wirkung immer die gleiche tatsächliche Wirkung erzielt werden muß; denn wenn man eine Pflanze mit einem Mittel behandelt, das sowohl wachstumsregelnd als auch fungizid wirkt, so wird eine nach (1) zum Zwecke der Wachstumsregelung behandelte Pflanze ebenso - gegebenenfalls unerkannt - gegen Pilzbefall geschützt, wie de facto das Wachstum einer Pflanze beeinflußt wird, die - wenn auch nur zum Schutz gegen Pilze - mit dem gleichen Mittel behandelt wird. Die Pflanze und der Pilz "wissen" eben nicht, was der Mensch mit ihnen vor hat.
5. Wenn - wie im ursprünglich eingereichten Anspruch 1 - fungizide Mittel als solche beansprucht werden sollten, dann fehlte es ihnen gegenüber (1) tatsächlich an der Neuheit; denn solche fungizide Mittel unterscheiden sich in der allgemeinen Form, in der sie beansprucht waren, mit ihren technischen (körperlichen) Merkmalen in nichts von den durch (1) offenbarten wachstumsregelnden Miteln. Das Gleiche gilt jedoch nicht für die derzeit beanspruchte Verwendung. Dies wird bei Betrachtung der Erfindung nach Aufgabe und Lösung deutlich:
6. Legt man (1) als Stand der Technik zugrunde, so kann die Aufgabe der Erfindung darin gesehen werden, für die Triazolylverbindungen nach (1) zusätzlich zu der dort genannten noch eine weitere Verwendbarkeit aufzufinden. Diese Aufgabe wird anspruchsgemäß durch den Vorschlag ihrer Verwendung als Fungizide gelöst - übrigens entgegen Seite 4, Zeilen 12 bis 13, der angefochtenen Entscheidung nicht nur zum Schutze von Pflanzen, sondern auch anderer Substrate; siehe Seite 14, Zeile 29, bis Seite 15, Zeile 8. Auch wenn man von diesen anderen Substraten einmal absieht, so unterscheidet sich die anmeldungsgemäße technische Lehre - Verwendung zur Bekämpfung von Pilzen oder entsprechende vorbeugende Behandlung von Nutzpflanzen gegen Pilzbefall - von derjenigen nach (1) - Behandlung von Pflanzen, deren Wachstum beeinflußt werden soll. Wohl trifft es zu, daß beim Befolgen der bekannten Lehre nach (1) ungewollt und unerkannt auch eine Schutzwirkung gegen Pilze eintreten mußte; diese Schutzwirkung bewußt und gezielt zu erreichen, d. h. gerade solche Pflanzen (oder auch andere Gegenstände; siehe oben) zu behandeln, die von schädlichen Pilzen befallen sind oder befallen zu werden drohen, wurde jedoch erstmals gemäß der Anmeldung gelehrt. Demnach steht das Bekanntsein eines Stoffes der Neuheit einer bis dahin unbekannten Verwendung dieses Stoffes auch dann nicht entgegen, wenn die neue Verwendung keiner anderen technischen Realisierung bedarf als eine bereits bekannte Verwendung desselben Stoffes. Die beanspruchte Verwendung ist daher neu.
7. Auch der der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegende Verfahrensanspruch 1, erst recht natürlich die stofflich eingeschränkten Verfahrensansprüche gemäß Hilfsantrag 1 vom 22. Mai 1985 genügten nach Auffassung der Kammer dem Patentierungserfordernis der Neuheit gegenüber (1).
8. ... (Erfinderiscshe Tätigkeit)
9. Eine Patenterteilung kann auch deswegen noch nicht erfolgen, weil keine an die geltenden Ansprüche angepaßte Beschreibung vorliegt. Die Anmeldung wird daher an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen.
10. Eine Rückzahlung der Beschwerdegebühr wurde von der Beschwerdeführerin nicht beantragt, doch hat die Kammer diese Frage von sich aus geprüft und ist dabei zu dem folgenden Ergebnis gelant:
Die am 2.07.1985 ergangene Entscheidung läßt zwei Hilfsanträge unberücksichtigt, die dem Amt seit dem 22.05.1985 vorlagen. Daß diese Hilfsanträge nicht rechtzeitig zu ihrer Kenntnis gelangt waren, hat zwar die Prüfungsabteilung selbst nicht zu vertreten, muß sich aber das EPA zurechnen lassen; denn dieses muß so organisiert sein, daß Eingänge zügig der entscheidenden Stelle vorgelegt werden. Mit einer inneramtlichen Laufzeit von rund sechs Wochen muß kein Beteiligter rechnen; vielmehr müssen sich die Beteiligten in einer zur baldigen Entscheidung anstehenden Sache darauf verlassen können, daß entscheidungserhebliche Vorbringen der entscheidenden Instanz innerhalb weniger Tage nach Eingang zugeleitet sind. Es ist untragbar, wenn - wie hier - beinahe sechs Wochen verstreichen, ehe die Prüfungsabteilung von eingegangenen Anträgen der Anmelderin Kenntnis erhält. Eine Nichtberücksichtigung wegen einer von den Beteiligten nicht zu vertretenden inneramtlichen Verzögerung stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne der R. 67 EPÜ dar, der die Rückzahlung der Beschwerdegebühr gebietet. Im vorliegenden Fall entspricht die Rückzahlung auch der Billigkeit, weil nicht nur der am 30.10.1986 neu eingereichte, sondern auch mindestens einer der dem Amt am Tag der angefochtenen Entscheidung vorliegenden Anspruchssätze den Zurückweisungsgrund mangelnder Neuheit vermieden. Im übrigen hätte die Prüfungsabteilung der angefochtenen Entscheidung nach Art. 109 EPÜ abzuhelfen und das Prüfungsverfahren fortsetzen sowie die Rückzahlung der Beschwerdegebühr anordnen müssen, sobald sie vom Vorliegen einer zulässigen und jedenfalls im Umfange des damaligen Hilfsantrages 1 auch nach ihrer eigenen Auffassung begründeten Beschwerde sowie von dem vorliegenden Verfahrensmangel Kenntnis erhielt.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird zur Fortseztung des Prüfungsverfahrens auf Grund der Ansprüche vom 30.10.1986 an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen.
3. Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird angeordnet.