T 0254/93 (Verhütung von Hautatrophie) 14-05-1997
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Verhütung von glukocorticoid-induzierter Hautatrophie
1. Wird eine zweite medizinische Indikation in bezug auf die Verwendung eines Bestandteils zur Herstellung eines bekannten Stoffgemischs beansprucht und ist die Wirkung der Verwendung des bekannten Stoffgemischs für den bekannten Zweck offensichtlich, so kann eine technische Aufgabe weder in der Erzielung der Wirkung noch in der Herstellung des Stoffgemischs gesehen werden. Die einzige verbleibende Frage könnte in der Erklärung des der Behandlung nach dem bekannten Verfahren zugrunde liegenden Phänomens bestehen (s. Nr. 4.4 der Entscheidungsgründe).
2. Die bloße Erklärung einer Wirkung, die bei Verwendung eines Stoffs in einem bekannten Stoffgemisch erzielt wird, selbst wenn nicht bekannt war, daß die Wirkung diesem Stoff in dem bekannten Stoffgemisch zuzuschreiben ist, kann einem bekannten Verfahren keine Neuheit verleihen, wenn dem Fachmann bereits bewußt war, daß die gewünschte Wirkung eintreten würde (s. Nr. 4.8 der Entscheidungsgründe).
Neuheit (verneint)
Neue Verwendung als technisches Merkmal bzw. als technische Wirkung im Sinne von G 2/88 (verneint) - Wirkungen miteinander verknüpft und aus der Vorbenutzung offensichtlich
I. Die europäische Patentanmeldung Nr. 87 309 681.2 (Veröffentlichungsnr. 0 266 992) wurde durch Entscheidung der Prüfungsabteilung aus folgenden Gründen zurückgewiesen:
i) mangelnde Neuheit nach Artikel 54 (1) EPÜ;
ii) Verstoß gegen Artikel 52 (2) a) EPÜ, da es sich um eine Entdeckung und nicht um eine Erfindung handelt,
und
iii) mangelnde erfinderische Tätigkeit nach Artikel 56 EPÜ.
Die Prüfungsabteilung war der Ansicht, daß der Gegenstand des Anspruchs 1 betreffend die
"Verwendung eines Retinoids zur Herstellung eines topisch anzuwendenden Arzneimittels zur Verhütung von kortikosteroid-induzierter Hautatr ophie"
nicht neu sei, da verschiedene Vorveröffentlichungen, z. B. Druckschrift
(3) EP-A-0 196 121
Stoffgemische beschrieben, die ein Retinoid und ein Kortikosteroid enthielten. Obwohl der angezogene Stand der Technik nichts über die Wirkung aussage, nämlich daß Hautatrophien in Gegenwart der Retinoidkomponente nicht auftreten, stehe diese Wirkung nicht im Zusammenhang mit einer bereits bestehenden Krankheit und beziehe sich daher nicht auf eine neue Verwendung der Retinoidkomponente im Sinne der Entscheidungen G 5/83 und G 2/88. Der wichtigste therapeutische Wirkstoff sei das Kortikosteroid, das als Nebenwirkung die Hautatrophie verursache, und daher sei die Verwendung der Retinoidkomponente untrennbar mit der primären Verwendung des Kortikosteroids als dermatologischer Wirkstoff verknüpft.
Die Prüfungsabteilung vertrat ferner die Auffassung, daß der Gegenstand des Anspruchs 1 bestenfalls als überraschendes Ergebnis einer Beobachtung oder möglicherweise einer von den Erfindern durchgeführten Untersuchung betrachtet werden könne.
Selbst wenn der Gegenstand des Anspruchs 1 als neu und als Erfindung im Sinne des Artikels 52 (2) EPÜ anzusehen wäre, sei der Gegenstand des Anspruchs 1 - so der Schluß der Prüfungsabteilung - angesichts des Standes der Technik für den Fachmann naheliegend. Der Stand der Technik, z. B. Druckschrift (3), beschreibe die Ausschaltung bestimmter Nebenwirkungen von Kortikosteroiden und beziehe sich daher auf dieselbe Aufgabe, die bereits mit denselben Mitteln gelöst worden sei.
II. Die Beschwerdeführerin legte gegen die Entscheidung der Prüfungabteilung Beschwerde ein. Am 14. Mai 1997 fand eine mündliche Verhandlung statt. In dieser Verhandlung reichte die Beschwerdeführerin einen neugeschriebenen Satz von Ansprüchen 1 bis 11 ein, die den der Entscheidung der Prüfungsabteilung zugrunde liegenden Ansprüchen 1 bis 11 entsprachen. Die Beschwerdeführerin legte ferner eine Frage zur Vorlage an die Große Beschwerdekammer vor.
III. Die Argumente der Beschwerdeführerin sowohl im schriftlichen Verfahren als auch in der mündlichen Verhandlung lassen sich wie folgt zusammenfassen:
i) Im vorliegenden Fall gebe es keinen Grund, eine Unterscheidung zu treffen zwischen einem Krankheitsbild, dem ein pathologischer Zustand zugrunde liege, und einem Krankheitsbild, das die Folge einer Nebenwirkung einer Medikamentenbehandlung sei. Darüber hinaus gebe es im Stand der Technik keinen Beleg dafür, daß sich die hier beanspruchte Verwendung eines Retinoids auf einen Sekundärerfolg stütze, der nicht im Zusammenhang stehe mit einem Krankheitsbild. Aus der Druckschrift
(8) Martindale - The Extra Pharmacopoeia, 28. Auflage (1982), S. 448, Spalte 3, vorletzte zehn Zeilen - sei bekannt,
daß Hautatrophie ein allgemein bekanntes und vollständig dokumentiertes Krankheitsbild ist, das nach längerer Verwendung von Kortikosteroiden auftritt. Daß dieser Zustand auf eine Nebenwirkung der Verwendung von Kortikosteroiden zurückzuführen ist, könne aber keineswegs von der Tatsache ablenken, daß es sich um einen krankhaften Zustand handelt, der unbedingt behandelt werden sollte.
Da in der Entscheidung G 2/88 wesentlich allgemeinere Grundgedanken vertreten würden als in der Entscheidung G 5/83 und diese sowohl für nichtmedizinische als auch für medizinische Verwendungen relevant seien, habe die Prüfungsabteilung auch zu Unrecht die Relevanz des in G 2/88 erörterten Inhärenzgrundsatzes bestritten und infolgedessen zu Unrecht argumentiert, daß Hautatrophie als sekundärer unüblicher Parameter betrachtet werden könne, mit dem die mangelnde Neuheit überdeckt werden solle. Da sich die technische Wirkung ausschließlich auf die Verwendung des Retinoidbestandteils beziehe, sei es für die Frage der Neuheit unerheblich, ob das Retinoid vor, während oder nach der Kortikosteroidbehandlung angewandt werde.
ii) Da die vorliegende Erfindung in der praktischen Ausführung der Entdeckung bestand, daß Retinoide Hautatrophien verhindern, also in der Verwendung von Retinoiden bei der Herstellung eines Medikaments zur Verwendung für die genannte Verhütung, gebe es keinen Grund, die Anmeldung nach Artikel 52 (2) a) EPÜ zurückzuweisen. Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern schließe die bloße Tatsache, daß solche Erfindungen auf Entdeckungen basieren, ihre Patentierbarkeit nicht prima facie aus.
iii) Hinsichtlich des Standes der Technik vertrat die Beschwerdeführerin den Grundsatz, daß in keiner der angezogenen Druckschriften Retinoid-Kortikosteroid-Kombinationspräparate beschri eben seien, die sich auf das Problem der durch die topische Anwendung von Kortikosteroiden verursachten Hautatrophie bezögen, und daß dem Fachmann am Prioritätstag der Anmeldung keine Methoden zur Milderung einer solchen Nebenwirkung bekannt gewesen seien. Jede der genannten Vorveröffentlichungen beziehe sich nur auf Dermatosen wie Ekzeme und Psoriasis. Ebenso lasse sich aus dem Stand der Technik in bezug auf die Behandlung entweder allein mit Retinoiden oder allein mit Kortikosteroiden nur entnehmen, daß diese Stoffe bei der Behandlung von Dermatosen hilfreich seien. Der Mediziner könne ohne weiteres zwischen Dermatosen einerseits und Hautatrophie andererseits unterscheiden.
Angesichts der Tatsache, daß der beanspruchte Gegenstand die Behandlung von Dermatosen mit einer Kortikosteroid- und einer Retinoidkomponente umfaßte, gelangte die Beschwerdeführerin zu der Schlußfolgerung, daß eine der angezogenen Druckschriften, z. B. Druckschrift (3), die sich auf eine solche Behandlung beziehen, als nächstliegender Stand der Technik betrachtet werden könne. Jedoch enthalte dieser Stand der Technik keinerlei Aussage über das Krankheitsbild der Hautatrophie. Es gebe auch keinen Beweis dafür, daß der Arzt erkenne, daß keine Hautatrophie vorliege. Am Prioritätstag der Anmeldung würde der Fachmann natürlich damit rechnen, daß jede Kortikosteroidtherapie als Nebenwirkung eine Hautatrophie verursache. Fehle ein solcher Hinweis auf eine Hautatrophie, könnte der Fachmann logischerweise nur annehmen, daß dieses Problem noch besteht. Für die Bewertung der erfinderischen Tätigkeit sei es daher rein spekulativ, davon auszugehen, welche Überlegungen der Fachmann darüber hinaus anstellen könnte.
iv) Auf eine Frage der Beschwerdekammer, was durch die Erfindung tatsächlich erzielt würde, da doch die Verwendung einer Retinoid- und einer Kortikosteroidkomponente vorbekannt sei, brachte die Beschwerdeführerin als Grundgedanken vor, daß die der Erfindung zugrunde liegende Aufgabe angesichts der Druckschrift (3) im Erkennen dessen, was bei der gleichzeitigen Verwendung eines Retinoids und eines Kortikosteroids nicht eintrete, und in der Umsetzung dieser Erkenntnis in die Praxis gesehen werden könnte. In diesem Zusammenhang betonte die Beschwerdeführerin wiederholt, daß weder Druckschrift (3) noch der sonstige angezogene Stand der Technik die jetzt beanspruchte Lösung hätten andeuten können, wonach eine solche negative Wirkung wie Hautatrophie durch die topische Anwendung eines Retinoids verringert werden könnte. Dies sei zum ersten Mal durch die vergleichenden Daten in Tabelle II der Anmeldung bewiesen worden.
v) Es sei ein wesentlicher Verfahrensmangel, daß die Prüfungsabteilung meinte, sie könne die Erfindung und die Ansprüche neu definieren, und daß sie die Ansprüche in einer Weise verstanden wissen wollte, die im Widerspruch zu den eingereichten Ansprüchen, dem Wortlaut der Beschreibung und der Argumentation der Beschwerdeführerin stehe. Darüber hinaus habe die Prüfungsabteilung am Ende der mündlichen Verhandlung nach der Verkündung der Entscheidung zum ersten Mal auf die im Zusammenhang mit der sogenannten primären und sekundären Wirkung vorgebrachten Argumente Bezug genommen. Auch die Tatsache, daß die Beschwerdeführerin keine Gelegenheit gehabt habe, zu diesen ablehnenden Äußerungen Stellung zu nehmen, stelle einen wesentlichen Verfahrensmangel dar.
IV. Die Beschwerdeführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent auf Basis der in der mündlichen Verhandlung erneut eingereichten Ansprüche 1 bis 11 zu erteilen.
Des weiteren beantragte sie die Rückzahlung der Beschwerdegebühr.
Hilfsweise beantragte sie, daß die Große Beschwerdekammer mit der während der mündlichen Verhandlung vorgelegten folgenden Rechtsfrage befaßt wird:
"Gilt der in G 2/88 aufgestellte Grundsatz, wonach es bei Ansprüchen, die auf die zweite und weitere nichtmedizinische Verwendungen gerichtet sind, nach Artikel 54 (2) EPÜ darum gehe zu entscheiden, was der Öffentlichkeit "zugänglich gemacht" worden sei, und nicht darum, was in dem zugänglich Gemachten "inhärent" enthalten gewesen sein mag, in gleicher Weise für Ansprüche, die auf die zweite und weitere medizinische Verwendungen gerichtet sind?"
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Anspruch 1 basiert auf der Beschreibung, Seite 3, Zeilen 20 bis 23; Anspruch 2 entspricht Anspruch 11 in der ursprünglich eingereichten Fassung. Den Ansprüchen 3 bis 11 liegen die Ansprüche 2 bis 10 in der ursprünglich eingereichten Fassung zugrunde.
Die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ sind folglich erfüllt.
3. Die Anmeldung bezieht sich auf die Verwendung eines Retinoids in obligatorischer Kombination mit der gleichzeitigen, gesonderten oder anschließenden Verwendung von Kortikosteroiden zur Verhütung von Hautatrophien.
Keine der während des Verfahrens angezogenen Druckschriften, insbesondere keines der zahlreichen Dokumente, die sich auf die kombinierte Verwendung eines Kortikosteroids und eines Retinoids beziehen, sagt dem Leser, daß das Symptom der durch die topische Anwendung von Kortikosteroiden verursachten Hautatrophie durch die topische Anwendung eines Retinoids verhindert oder gemildert werden könnte.
In bezug auf die Frage der Neuheit des beanspruchten Gegenstands stützte sich die Beschwerdeführerin nicht nur auf die Entscheidung G 5/83 (ABl. EPA 1985, 64), die die Neuheit einer sogenannten zweiten medizinischen Indikation betrifft, sondern legte besonderen Nachdruck auf das, was sich aus der Entscheidung G 2/88 (ABl. EPA 1990, 93) ableiten läßt (s. auch Entscheidung G 6/88, ABl. EPA 1990, 114).
Unter Nummer 10.3 der Entscheidungsgründe der Entscheidung G 2/88 (entspricht Nr. 9 der Entscheidungsgründe der Entscheidung G 6/88) gelangte die Große Beschwerdekammer zu der Schlußfolgerung, daß eine neue Verwendung eines bekannten Stoffes eine neu entdeckte technische Wirkung wiedergeben kann. Die Erzielung dieser technischen Wirkung ist als funktionelles technisches Merkmal des Anspruchs zu betrachten. Ist dieses technische Merkmal der Öffentlichkeit zuvor nicht durch eines der in Artikel 54 (2) EPÜ genannten Mittel zugänglich gemacht worden, dann ist die beanspruchte Erfindung neu, auch wenn diese technische Wirkung bei der Ausführung dessen, was zuvor der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden war, möglicherweise inhärent aufgetreten ist.
Im vorliegenden Fall kann die Kammer ohne weiteres bejahen, daß die Verhütung von Hautatrophien als ein pharmazeutisches Merkmal anzusehen ist und entsprechend den Schlußfolgerungen der Großen Beschwerdekammer (G 2/88, Nr. 10.3 der Entscheidungsgründe) die diesem Merkmal zugrunde liegende Wirkung der Öffentlichkeit in keinem der angezogenen Dokumente zugänglich gemacht worden ist. Trotzdem stellt sich im vorliegenden Fall die Frage, ob diese Wirkung eine technische Wirkung im Sinne der Entscheidungen G 2/88 und G 6/88 darstellt; nur wenn dies bejaht wird, kann dem beanspruchten Gegenstand nach Artikel 54 (1) EPÜ Neuheit gegenüber dem Stand der Technik zuerkannt werden.
4. In G 2/88 wird der Grundgedanke vertreten, daß die Offenbarung einer bisher unbekannten Eigenschaft eines Stoffes, die eine neue technische Wirkung zur Verfügung stellt, ein wertvoller, erfinderischer Beitrag zum Stand der Technik sein kann. Offensichtlich ist dies der Grund, weshalb die Große Beschwerdekammer die Schlußfolgerung bejahte, daß die auf eine solche Eigenschaft bezogene Verwendung als neuheitsbegründendes technisches Merkmal betrachtet werden kann.
4.1 Die Große Beschwerdekammer ging jedoch von der Annahme aus, daß die zum ersten Mal offenbarte technische Wirkung eine neue Verwendung des bekannten Stoffes impliziere (Nr. 10.3 der Entscheidungsgründe). In den Fällen, die die Große Beschwerdekammer vor Augen hatte, lag tatsächlich eine solche neue Verwendung vor:
(1) In dem Fall, der zur Befassung der Großen Beschwerdekammer führte (T 59/87, ABl. EPA 1988, 347) wurde die Verwendung eines reibungsverringernden Zusatzes in einem Schmiermittel beansprucht. Im Stand der Technik war die Verwendung des Stoffes als Zusatz zur Verhinderung von Rostbildung bekannt
(2) In dem zweiten in G 2/88 erwähnten relevanten Fall (Nr. 9.1 der Entscheidungsgründe; T 231/85, ABl. EPA 1989, 74) war die Anmeldung auf die Verwendung eines Stoffes als Fungizid gerichtet, während der Stand der Technik denselben Stoff als Mittel zur Beeinflussung des Pflanzenwachstums beschrieb.
Da kein neuer Stoff und keine neuen Mittel für seine Anwendung beansprucht wurden, mag die neue technische Wirkung möglicherweise inhärent aufgetreten sein, als das Erzeugnis des beanspruchten Verfahrens für den bekannten Zweck verwendet wurde. Dies wurde nicht als neuheitsschädlich betrachtet, da eine solche verborgene Wirkung der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht worden war, als das Erzeugnis für die bekannte Verwendung eingesetzt wurde. Darüber hinaus gab es in beiden Fällen zwei verschiedene Anwendungen für das Erzeugnis, die deutlich voneinander abgegrenzt werden konnten. Dies ist im Fall der Agrochemikalie offensichtlich, da die Umstände, unter denen ein Fungizid verwendet wird, sich von denen, unter denen ein Mittel zur Wachstumsförderung verwendet wird, deutlich unterscheiden. Ebenso mag man im Fall des Schmiermittels vorbringen, daß das im Anspruch genannte Erzeugnis und das bekannte Erzeugnis ganz unterschiedlichen Zwecken dienen. Während die bekannte Verwendung auf die Verhinderung von Rostbildung gerichtet war, bezog sich die dem beanspruchten Gegenstand zugrunde liegende technische Aufgabe auf die Verringerung der Reibung zwischen sich bewegenden Flächen in Motoren. Schmiermittel können für zahlreiche Zwecke verwendet werden, und beide Eigenschaften können in ganz unterschiedlichen Situationen wichtig sein.
In diesen Fällen führte die neu entdeckte Wirkung zu einer neuen technischen Anwendung, die nicht notwendigerweise mit der bekannten zusammenhing und deutlich davon unterschieden werden konnte.
4.2 Es ist zu prüfen, ob im vorliegenden Fall die gleiche Situation zutrifft. Wie bereits festgestellt, bezieht sich die vorliegende Anmeldung auf die gleichzeitige, gesonderte oder nachfolgende Verwendung eines Glukokorticoids und eines Retinoids, insbesondere auf ein kombiniertes Kortikosteroid-Retinoid-Präparat. Das letztgenannte Kombinationsmedikament wird in derselben Weise für die Behandlung von Dermatosen eingesetzt (Beschreibung S. 3, Zeile 16) wie verschiedene andere, lang vor dem Prioritätstag auf dem Markt befindliche identische Produkte.
Folglich ist der Stand der Technik in bezug auf die Behandlung von Patienten mit einem Kortikosteroid und einem Retinoid als nächstliegender Stand der Technik anzusehen. Der Stand der Technik in bezug auf die Behandlung von Patienten entweder allein mit Retinoiden oder allein mit Kortikosteroiden hat mit der beanspruchten Erfindung weniger zu tun.
Nach der Beschreibung (S. 2, Zeilen 26 bis 28) ist Hautatrophie die häufigste Reaktion auf Glukokortikosteroid-Analoga. Diese Nebenwirkung wird als häufig und schwerwiegend beschrieben (s. o., Zeilen 34/35). Die Beschwerdeführerin selbst hat zusätzlich auf Druckschrift (8) verwiesen und eingeräumt, daß Hautatrophie ein bekanntes und vollständig dokumentiertes Krankheitsbild ist, das nach längerer Verwendung von Kortikosteroiden zu beobachten ist. Die Verhütung von Hautatrophie ist daher bei der Verwendung von Glukokortikosteroiden zur Behandlung von Dermatosen ein wichtiger Aspekt und muß es auch sein, damit die Hauptwirkung des Glukokortikosteroids für den Patienten nicht hinfällig wird. Folglich ist die Verhütung von Hautatrophie untrennbar an die Verwendung der bekannten Arzneimittel gebunden. Daher läßt sich die Situation nicht mit den unter Nummer 4.1 genannten Situationen vergleichen. Obwohl sie einen spezifischen Aspekt der bekannten Verwendung betrifft, unterscheidet sich die in Anspruch 1 genannte Verwendung (Verhütung von Hautatrophie) letzten Endes nicht von der bekannten Verwendung (Behandlung von Dermatosen).
4.3 Während der mündlichen Verhandlung in der Beschwerdephase erklärte sich die Beschwerdeführerin damit einverstanden, Druckschrift (3) als nächstliegenden Stand der Technik zu berücksichtigen. Darin wird ein Präparat in Form einer Salbe beschrieben, die unter anderem aus Kortikosteroiden, Salicylaten und Antibiotika besteht und fakultativ Vitamin A als einen Wirkstoff zur Behandlung der Hautkrankheit Psoriasis enthält (s. S. 2, Spalte 1, Zeilen 1 bis 5, Beispiel 1 sowie Ansprüche 1 und 3). In Spalte 1, Zeilen 20 bis 33 ist ausgeführt, daß diese Zubereitung den Nachteil von Nebenwirkungen ausschaltet, die nach der lokalen Anwendung von Kortikosteroiden auftreten können, wie Hautnekrosen, Steroidaldermatitis und in einigen Fällen Nebenwirkungen an der Nebenniere. Das Arzneimittel ist besonders nützlich zur Ausschaltung der Wirkung von Steroiden auf das endokrine System und hat gefäßverengende Wirkungen auf die periphere Blutzirkulation und fördert daher die Genesung.
Das Präparat gemäß Beispiel 1 enthält Vitamin A.
Die Beschwerdeführerin machte geltend, daß Anspruch 1 der Druckschrift (3) nur zwei wesentliche Wirkstoffe zur Verhütung der in diesem Dokument beschriebenen Nebenwirkungen enthielt und Vitamin A in Anspruch 3 nur als fakultativ beizugebender Wirkstoff beschrieben war.
Wie bekannt, ist die Offenbarung oder Lehre eines älteren Patents nicht auf den Inhalt der Ansprüche beschränkt; auch ist die Kammer davon überzeugt, daß ein Fachmann aus praktischen Gründen nicht nur das breit definierte Stoffgemisch gemäß Anspruch 1 verwenden würde, sondern auch vorzugsweise der Lehre gemäß dem ausgeführten Beispiel, das die Beigabe von Vitamin A vorsieht, folgen würde.
4.4 Weder die Druckschrift (3) noch eines der anderen Dokumente betreffend die Therapie mit Kortikosteroiden zusammen mit einem Retinoid nennen Hautatrophie als Folge der Behandlung. Die Beschwerdeführerin war nicht in der Lage, das Gegenteil zu beweisen und räumte diese Tatsache in der mündlichen Verhandlung sogar ein. Infolgedessen läßt sich z. B. aus der Druckschrift (3) für die Verhütung von kortikosteroid-induzierter Hautatrophie keine Aufgabenstellung herleiten.
Folglich stellt sich nur die Frage, wie das der Behandlung von Patienten mit einem in Druckschrift (3) beschriebenen Präparat zugrunde liegende Phänomen zu erklären ist.
4.5 Im vorliegenden Fall liegt die Antwort auf diese Frage in der Erkenntnis, daß in einer pharmazeutischen Zusammensetzung wie der des Beispiels 1 der Druckschrift (3) das Retinoid für die Verhütung der Hautatrophie, mit der bei der ausschließlichen Verwendung von Kortikosteroiden in der Regel zu rechnen ist, verantwortlich ist.
4.6 Vor dem Prioritätstag der strittigen Anmeldung hätte ein Arzt, der Psoriasis-Patienten mit dem aus Druckschrift (3) bekannten Präparat behandelt hat, nach Überzeugung der Kammer gewiß auch andere Patienten weiter mit diesem Präparat behandelt und mit keinen anderen als den bereits bekannten schweren Nebenwirkungen gerechnet. Hingegen würde der Arzt in Kenntnis der vorliegenden Anmeldung Psoriasis-Patienten auch weiterhin mit dem bekannten Präparat behandeln und erwarten, daß keine anderen als die bereits bekannten schweren Nebenwirkungen auftreten, allerdings in dem Wissen, daß die Retinoidkomponente Hautatrophie verhütet.
4.7 Wie bereits vorstehend dargestellt, wird in der Beschreibung der Anmeldung erwähnt (s. S. 2, Zeilen 34 und 35 in der ursprünglich eingereichten Fassung: "Wegen der Häufigkeit und der Schwere der Hautatrophie ..."), daß kortikosteroid-induzierte Hautatrophie von so starken Symptomen begleitet wird, daß sie vom Arzt nicht übersehen werden kann. Es wäre daher möglich, dem letzten Argument der Beschwerdeführerin zu folgen, daß nur daüber spekuliert werden könne, was im Kopf des Arztes vorgehe, aber im vorliegenden Fall ist es nicht spekulativ zu folgern, was der Arzt visuell erkennt.
4.8 Die Kammer vertritt die Auffassung, daß die bloße Erklärung einer Wirkung, die bei Verwendung eines Stoffes in einem bekannten Stoffgemisch erzielt wird, selbst wenn sie sich auf eine pharmazeutische Wirkung bezieht, die für diesen Stoff in dem bekannten Gemisch nicht bekannt war, einem bekannten Verfahren keine Neuheit verleihen kann, wenn dem Fachmann bereits bewußt war, daß bei Verwendung des bekannten Verfahrens die gewünschte Wirkung eintreten würde.
Im vorliegenden Fall stellt das pharmazeutische Merkmal der Verhütung von Hautatrophie keine technische Wirkung im Sinne der Entscheidungen G 2/88 und G 6/88 dar.
4.9 Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, daß es dem Gegenstand des Anspruchs 1 an Neuheit mangelt.
Da jeder Antrag nur als ganzes geprüft werden kann und keine weiteren Anträge in bezug auf einen Hilfsanspruchssatz vorliegen, müssen die Ansprüche 2 bis 11 mit Anspruch 1 fallen.
4.10 Der Hilfsantrag, der Großen Beschwerdekammer eine Rechtsfrage vorzulegen (s. Nrn. II und IV des Sachverhalts und der Anträge), braucht nicht geprüft zu werden, da hier kein Widerspruch zu der Entscheidung G 2/88 besteht. Aufgrund des nichttechnischen Aspekts besteht ein klarer Unterschied zwischen dem hier gegebenen Sachverhalt und dem der Entscheidung G 2/88 (s. o., insbesondere Nrn. 4, 4.1 und 4.2).
4.11 Aus den vorgenannten Gründen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Folglich bedürfen die Anträge der Beschwerdeführerin zu Regel 67 EPÜ keiner Prüfung im einzelnen, da eine der notwendigen Voraussetzungen für die Rückzahlung der Beschwerdegebühr darin besteht, daß der Beschwerde durch die Beschwerdekammer stattgegeben wird (daher hat die Kammer im vorliegenden Fall nicht die Befugnis, die Rückzahlung der Beschwerdegebühr anzuordnen).
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
2. Die Anträge auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr und Befassung der Großen Beschwerdekammer werden zurückgewiesen.