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T 1271/18 24-11-2020
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GIESSVERFAHREN, INSBESONDERE STRANGGIESSVERFAHREN
Einspruchsgründe - mangelhafte Offenbarung (ja)
Spät eingereichte Tatsachen - eingereicht mit der Beschwerdebegründung
Spät eingereichte Tatsachen - zugelassen (ja)
Sachverhalt und Anträge
I. Das europäische Patent EP-B1-2 753 439 (im Folgenden: das Patent) betrifft ein Stranggießverfahren.
Gegen das erteilte Patent hatte die Einsprechende Einspruch eingelegt und ihn auf die Gründe des Artikels 100 b) und des Artikels 100 a) in Kombination mit den Artikeln 54 und 56 EPÜ gestützt.
II. Die Einspruchsabteilung hat entschieden, das Patent auf Grundlage des Einspruchsgrunds nach Artikel 100 b) EPÜ zu widerrufen.
III. Gegen diese Entscheidung hat die Patentinhaberin (im Folgenden: die Beschwerdeführerin) Beschwerde eingelegt.
IV. In der als Anlage zur Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung vom 27. November 2019 gemäß Artikel 15(1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK 2007) teilte die Kammer den Beteiligten ihre vorläufige Einschätzung des der Beschwerde zugrundeliegenden Sachverhalts mit.
V. Eine mündliche Verhandlung fand am 24. November 2020 unter Zustimmung beider Verfahrensbeteiligter in Form einer Videokonferenz statt.
VI. Am Schluss der mündlichen Verhandlung bestand folgende Antragslage:
Die Beschwerdeführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent auf Grundlage der Ansprüche wie erteilt, hilfsweise auf der Grundlage der Ansprüche eines der Hilfsanträge 1 oder 2, eingereicht mit der Beschwerdebegründung,
aufrechtzuerhalten.
Die Einsprechende (im Folgenden: die Beschwerdegegnerin) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen.
VII. Wortlaut des unabhängigen Anspruchs 1
Anspruch 1 wie erteilt gemäß Hauptantrag betrifft ein (Merkmalsanalyse gemäß Anlage B der angefochtenen Entscheidung)
1 "Gießverfahren zur Herstellung eines aus flüssigem
Metall gegossenen Materialblocks oder Materialabschnitts,
2 bei welchem die im Innern des Materialblocks oder
Materialabschnitts herrschende Temperaturverteilung mittels eines auf einer dynamischen Temperatur-Regelung (Dynamic Solidification Control) beruhenden Temperaturberechnungsmodells berechnet wird,
3 wobei in einem Berechnungsschritt die Gesamtenthalpie
des durch den Materialblock oder Materialabschnitt gebildeten Systems ermittelt
4 sowie als eine Eingangsgröße in dem
Temperaturberechnungsmodell verarbeitet wird und
5 eine oder mehrere Ausgangsgröße des Temperatur-
berechnungsmodells im Regelungs- und/oder Steuerungsprozess des Gießprozesses verwendet wird/werden,
dadurch gekennzeichnet,
6 dass die Gesamtenthalpie aus der Summe der freien
molaren Enthalpien (Gibbs'schen Energien) aller im Materialblock oder Materialabschnitt aktuell vorhandenen Phasen und/oder Phasenanteile berechnet wird."
Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 beruht auf dem Wortlaut des erteilten Anspruchs 1, der um folgende weitere Merkmale ergänzt wurde.
"wobei im Rahmen des Temperaturberechnungsmodells für
ein System mit Anteilen an Austenit-, Ferrit- und Flüssigphase die Gibbs-Energie nach folgender Gleichung
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
des Systems bedeuten."
Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 2 beruht auf dem Wortlaut des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 1, der um folgende weitere Merkmale ergänzt wurde.
"und wobei ein Stranggussstrang gegossen und mittels des Temperaturberechnungsmodells als eine Ausgangsgröße die Lage der Sumpfspitze in dem den Stranggussstrang ausbildenden Materialblock oder Materialabschnitt ermittelt wird und mittels des als metallurgisches Prozessmodell ausgebildeten Temperaturberechnungs-modells die Sekundärkühlung der Stranggießanlage gesteuert wird sowie anhand der Lage der Sumpfspitze die Erstarrungslänge des Stranggussstranges ermittelt und die Erstarrungslänge als eine Eingangsgröße der Steuerung und/oder Regelung der hydraulischen Anstellung von Rollensegmenten der Stranggießanlage längs des Stranggussstranges zur Durchführung einer Soft Reduction im Bereich der Enderstarrung einer Bramme zugeführt wird, wobei die Richt- und Treibrollen mittels ihrer Hydraulik in den Rollensegmenten einen gezielten Druck auf die Bramme im Bereich der Enderstarrung ausüben."
VIII. Stand der Technik
Auf folgendes Dokument des Einspruchsverfahrens wird in dieser Entscheidung Bezug genommen:
D3: J. Miettinen et al.: "Calculation of
Thermophysical Properties of Carbon and Low
Alloyed Steels for Modelling of Solidification
Processes", Metallurgical and Materials
Transactions B, Vol. 25B, 1994,
Seiten 909 bis 916.
In der Beschwerdebegründung verweist die Beschwerdeführerin zusätzlich auf:
D18: P. W. Atkins, "Physikalische Chemie", VCH
Verlagsgesellschaft, 1988, Seiten 114 bis 119 und
220 bis 223;
D19: H. Heuser, "Gewöhnliche Differentialgleichungen",
3. Auflage, 1995, Teubner, Seiten 452 und 453;
D20: K. Schwerdtfeger, Metallurgie des Stranggießens,
Stahl Eisen, Seiten 92 bis 96;
D21: K.-H. Grote et al.:"Dubbel Taschenbuch für den
Maschinenbau", 22. Auflage, 2007, Seite D12;
D22: F. Richter: "Stahleisen-Sonderberichte", Heft 8,
1973, Seite 10.
IX. Das schriftsätzliche und mündliche Vorbringen der Beschwerdeführerin lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Das Aufstellen und Lösen von Differentialgleichungen basierend auf der im Patent beschriebenen Fourier'schen Wärmegleichung stelle für einen Fachmann wie zum Beispiel einen Maschinenbauingenieur mit adäquaten mathematischen Grundkenntnissen kein Problem dar. Insbesondere kenne er das im Patent genannte Finite-Differenzen-Verfahren, mittels dem die Temperaturverteilung in einem Gießstrang problemlos berechnet werden könne.
Auch stelle es für einen Fachmann dabei keinerlei Probleme dar, die im Patent angegebenen Gleichungen aufgrund allgemein bekannter Zusammenhänge umzuformulieren.
Das beanspruchte Verfahren beruhe auf bekannten Temperaturmodellen, die den IST-Zustand der Temperaturverteilung während des Stranggießens abbilden, und schlage lediglich vor, zusätzlich auch die Summe der freien molaren Enthalpien (Gibbs'schen Energien) der einzelnen Phasen und Phasenanteile im Temperaturberechnungsmodell zu berücksichtigen, ohne den Fachmann diesbezüglich vor Probleme bei der Nacharbeitung zu stellen.
X. Das entsprechende Vorbringen der Beschwerdegegnerin lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:
Das Patent offenbare nicht, wie die Gesamtenthalpie aus der Summe der freien molaren Enthalpien aller im Materialblock oder Materialabschnitt aktuell vorhandenen Phasen und/oder Phasenanteile berechnet werden könne und wie diese als Eingangsgröße in einem Temperaturberechnungsmodell eingesetzt werden könne.
Entscheidungsgründe
1. Anwendbare Verfahrensordnung der Beschwerdekammern
Die revidierte Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK 2020) ist am 1. Januar 2020 in Kraft getreten. Vorbehaltlich der Übergangsbestimmungen (Artikel 25 VOBK 2020) ist die revidierte Fassung auch auf am Tag des Inkrafttretens bereits anhängige Beschwerden anwendbar. Im vorliegenden Fall wurde die Beschwerdebegründung und die Erwiderung darauf vor dem 1. Januar 2020 eingereicht. Daher ist Artikel 12 (4) VOBK 2020 nicht anzuwenden. Stattdessen ist Artikel 12 (4) VOBK 2007 sowohl auf die Beschwerdebegründung als auch auf die Erwiderung anzuwenden (Artikel 25 (2) VOBK 2020).
2. Zulassung der Dokumente D18 bis D22
Die Dokumente D18 bis D22 wurden erstmals mit der Beschwerdebegründung eingereicht und liegen dem Beschwerdeverfahren daher grundsätzlich gemäß Artikel 12(2) VOBK 2020 zugrunde.
Allerdings stellt es Artikel 12(4) VOBK 2007 in das Ermessen der Kammer, Tatsachen, Beweismittel oder Anträge nicht zuzulassen, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können.
Hierauf beruft sich die Beschwerdegegnerin jedoch erfolglos. Bei den Dokumenten D18 bis D22 handelt es sich um kurze Auszüge aus Fachbüchern, die das erstinstanzliche Vorbringen der Beschwerdeführerin untermauern. Ihre Einreichung stellt daher eine angemessene Reaktion auf die Begründung der angefochtenen Entscheidung zur Ausführbarkeit der Erfindung dar.
In Ausübung ihres Ermessens gemäß Artikel 12(4) VOBK 2007 sieht die Kammer daher davon ab, die Dokumente D18 bis D22 vom Verfahren auszuschließen.
3. Artikel 100 b) EPÜ
3.1 Anspruch 1 definiert ein Gießverfahren zur Herstellung eines aus flüssigem Metall gegossenen Materialblocks oder Materialabschnitts, bei welchem die Gesamtenthalpie als eine Eingangsgröße in einem Temperaturberechnungsmodell verwendet wird.
3.2 Derartige Temperaturberechnungsmodelle werden von einem Fachmann im Rahmen seiner experimentellen Routine in einem Stranggießverfahren eingesetzt.
Das Patent schlägt dazu in Absatz [0033] vor, die Fourier'sche Wärmegleichung als Basis der Temperaturberechnung zu verwenden:
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
In den Absätzen [0034] bis [0036] zeigt das Patent, dass mittels der Gibbs-Energie G der spezifische Wärmekoeffizient cp bestimmt werden kann:
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
der wiederum für die Fourier'sche Wärmegleichung benötigt wird.
Absatz [0037] des Patents offenbart zudem, dass die Gibbs'schen Energien einer Stahlzusammensetzung durch Verwendung von Thermocalc- und Matcalc-Datenbanken bestimmt werden können, mittels deren dann die Gesamtenthalpie berechnet werden kann.
3.3 Die Fourier'sche Wärmegleichung kann zudem zweifelsfrei in die von der Beschwerdeführerin als Gleichung 1**(''') bezeichnete Gleichung umgeformt werden, die auch D3 auf Seite 910, linke Spalte, 2. Absatz offenbart:
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
Daraus ist erkennbar, dass die Gesamtenthalpie H direkt in die Fourier'sche Wärmegleichung einfließen und über die Gibbs-Energie (freie molare Enthalpie)gemäß Gleichung 3 berechnet werden kann:
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
3.4 Die Argumente der Beschwerdeführerin sind daher soweit nachvollziehbar, dass derartige Umformungen von Gleichungen gängige Praxis sind, um mit gegebenen Eingangsgrößen Lösungen für Gleichungssysteme zu finden. Es ist daher glaubhaft, dass ein Fachmann die Gleichung 1''' in Betracht ziehen würde, auch wenn diese nicht explizit im Streitpatent beschrieben wird.
3.5 Unabhängig von der gewählten Ausgangsgleichung (1 oder 1''') ist es weiterhin nachvollziehbar, dass mittels eines in Absatz [0032] erwähnten und an sich allgemein bekannten Finite-Differenzen-Verfahrens eine Temperaturverteilung unter Berücksichtigung geeigneter Rand- und Startbedingungen berechnet werden kann.
3.6 Auch ist der Beschwerdeführerin zuzustimmen, dass die Gesamtenthalpie an jedem Punkt des Gießstrangs in Abhängigkeit der Temperatur berechnet werden kann, wenn man den Gießstrang in Gitterpunkte zur Berechnung mit dem Finite-Differenzen-Verfahren aufteilt.
3.7 Ein im Oberbegriff des Anspruchs 1 definiertes Verfahren als solches ist daher unter Berücksichtigung der weiteren technischen Lehre des Patents, wie von der Beschwerdeführerin argumentiert und von der Einspruchsabteilung bereits festgestellt, ausführbar.
3.8 Den Ausführungen der Beschwerdeführerin folgend soll die gemäß Merkmal 2 des Anspruchs zu erfolgende Berechnung der Temperaturverteilung mittels der Summe der freien molaren Enthalpien (Gibbs'schen Energien) der entsprechenden Phasen im Materialblock, die jeweils in Datenbanken abrufbar sind, weiter verfeinert werden.
3.9 Ein derartiges Vorgehen wird in Anspruch 1 aber nicht definiert. Anspruch 1 definiert insbesondere nicht, dass mittels einem Finite-Differenzen-Verfahren eine Temperatur für einen im Rahmen der Diskretisierung definierten Gitterpunkt berechnet wird, wobei in Datenbanken hinterlegte Werte der freien molaren Enthalpien (Gibbs'schen Energien) der im System möglichen Phasen und/oder Phasenanteile jeweils bei der Berechnung der Temperatur am nächsten Gitterpunkt berücksichtigt werden.
3.10 Merkmal 6 des Anspruchs 1 definiert vielmehr allgemein, dass die Gesamtenthalpie aus der Summe der freien molaren Enthalpien (Gibbs'schen Energien) aller im Materialblock oder Materialabschnitt aktuell vorhandenen Phasen und/oder Phasenanteile berechnet wird, die dann gemäß Merkmal 4 als Eingangsgröße in dem Temperaturmodell eingesetzt wird.
Damit muss ein Fachmann gemäß dem expliziten Wortlaut des Anspruchs 1 alle im Materialblock oder Materialabschnitt konkret vorhandenen Phasen und Phasenanteile zum aktuellen Zeitpunkt kennen, um deren Gibbs'sche Energien zu bestimmen und, wie von Anspruch 1, gefordert die daraus resultierende Gesamtenthalpie zu berechnen.
Der Ausdruck "aller im Materialblock oder Materialabschnitt aktuell vorhandenen Phasen und/oder Phasenanteile" in Anspruch 1 kann weder einfach vernachlässigt werden, noch dem üblichen Sprachgebrauch folgend dahingehend verstanden werden, dass damit zwingend die Phasen und Phasenanteile gemeint sind, die aufgrund eines Berechnungsmodells allgemein oder gar nur an einem zu berechnenden Gitterpunkt vorliegen können.
Um allerdings, wie von Anspruch 1, gefordert alle während einem Gießverfahren aktuell vorhandenen Phasen und Phasenanteile in einem Materialblock zu kennen, ist die Kenntnis der aktuellen Temperaturverteilung darin unabdingbar (siehe Phasendiagramm in Figur 2 des Patents). Ferner ist die Gibbs-Energie jeder Phase als solches ebenso temperaturabhängig (siehe Figur 1 des Patents).
Wie die aktuell vorhandenen Gibbs'sche Energien aller Phasen und Phasenanteile in einem Materialblock ohne Kenntnis der aktuell vorliegenden Temperaturverteilung bestimmt werden kann, um dann als Eingangsgröße in dem Temperaturmodell eingesetzt werden zu können, wird im Patent nicht deutlich.
Der Schlussfolgerung auf Seite 4, vorletzter Absatz der angefochtenen Entscheidung ist daher zuzustimmen, dass die in Anspruch 1 definierte Erfindung nicht so deutlich im Patent offenbart ist, dass ein Fachmann sie nacharbeiten kann.
Der Einspruchsgrund gemäß Artikel 100 b) EPÜ steht einer Aufrechterhaltung des Patents wie erteilt daher entgegen.
4. Hilfsanträge 1 und 2
Beide Verfahrensbeteiligte waren sich im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor der Kammer einig, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 der Hilfsanträge 1 und 2 nicht dazu geeignet ist, die in Bezug auf den Hauptantrag dargelegte Problematik der mangelnden Ausführbarkeit auszuräumen.
Die Kammer stimmt dieser übereinstimmenden Auffassung nach eigener Prüfung vollinhaltlich zu und kommt dementsprechend zu dem Schluss, dass der Einspruchsgrund gemäß Artikel 100 b) EPÜ einer Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Form auf Grundlage der Hilfsanträge 1 und 2 aus den in Bezug auf den Hauptantrag dargelegten Gründen entgegensteht.
5. Da nach alledem kein gewährbarer Anspruchssatz vorliegt, hat die Beschwerde keinen Erfolg.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.