T 1116/20 05-10-2022
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HYBRIDBREMSSYSTEM FÜR EIN FAHRZEUG UND VERFAHREN ZUM ANSTEUERN EINES HYBRIDBREMSSYSTEMS FÜR EIN FAHRZEUG
Neuheit - Hauptantrag (nein)
Zurückverweisung an die erste Instanz
Zurückverweisung - wesentlicher Mangel im Verfahren vor der ersten Instanz (nein)
Mit der Beschwerdebegründung eingereichte Hilfsanträge - Rechtfertigung für Vorlage erst im Beschwerdeverfahren (nein)
I. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) hat gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, mit der das europäische Patent Nr. 3 018 020 widerrufen wurde, Beschwerde eingelegt.
II. Die Einspruchsabteilung war der Auffassung, dass der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 zwar neu sei aber nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit gegenüber dem Dokument D1 (DE 10 2008 003 380 A1) beruhe.
III. Am 5. Oktober 2022 wurde vor der Beschwerdekammer mündlich verhandelt.
Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent wie erteilt aufrechtzuerhalten (Hauptantrag), hilfsweise das Patent in geänderter Fassung auf der Grundlage eines der mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsanträge 1 bis 3 aufrechtzuerhalten. Des Weiteren beantragte die Beschwerdeführerin die Zurückverweisung der Sache an die erste Instanz.
Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.
IV. Anspruch 1 des Streitpatents lautet wie folgt:
"Hybridbremssystem (102) für eine Betriebsbremse für ein Fahrzeug (100), wobei das Hybridbremssystem (102) die folgenden Merkmale aufweist:
einen ersten Bremskreis (106) zum Ansteuern eines einem Rad (114) des Fahrzeugs (100) zuordenbaren ersten Bremsaktors (108; 108a, 108b, 108c, 108d) zum Abbremsen des Rades (114) ansprechend auf eine Betätigung einer Betätigungseinrichtung (104) der Betriebsbremse (104) des Fahrzeugs (100); und
einen zweiten Bremskreis (110) zum Ansteuern eines dem Rad (114) des Fahrzeugs (100) zuordenbaren zweiten Bremsaktors (112; 112a, 112b, 112c, 112d) zum Abbremsen des Rades (114) ansprechend auf die Betätigung der Betätigungseinrichtung (104),
dadurch gekennzeichnet, dass der erste Bremskreis (106) einen Anschluss für einen Druckluftspeicher (202) aufweist, in dem für einen pneumatischen Betrieb des ersten Bremsaktors (108; 108a, 108b, 108c, 108d) erforderliche Druckluft speicherbar ist, und/oder der zweite Bremskreis (110) einen Anschluss für eine elektrische Energiespeicherquelle (212) aufweist, in der für einen elektrischen Betrieb des zweiten Bremsaktors (112; 112a, 112b, 112c, 112d) erforderliche elektrische Energie speicherbar ist, wobei eine maximale Gesamtbremskraft (230a, 230b, 230c, 230d) zum Abbremsen des Rades (114) einer Kombination einer mittels des ersten Bremsaktors (108; 108a, 108b, 108c, 108d) erzeugbaren maximalen ersten Bremskraft (210) und einer mittels des zweiten Bremsaktors (112; 112a, 112b, 112c, 112d) erzeugbaren maximalen zweiten Bremskraft (228a, 228b, 228c, 228d) entspricht."
V. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Neuheit - Anspruch 1 des Streitpatents
Anspruch 1 definiere ein Hybridbremssystem, das - wie der Fachmann verstehe - über die Betätigungseinrichtung der Betriebsbremse (ein Pedal) zwei separate und voneinander unabhängige, gemeinsam auf ein Rad wirkende Bremskreise ansteuere. Bei einem PKW wirke z. B. ein Bremskreis auf die vier Räder, ein zweiter Bremskreis ausgelöst über eine separate Betätigungseinrichtung jedoch auf die Feststellbremse. D1 gebe keinen Hinweis auf zwei separate Bremskreise, die beide unmittelbar durch eine Betätigung der Betätigungseinrichtung der Betriebsbremse angesteuert auf ein Rad wirkten:
- Gemäß Anspruch 1 in D1 würden zwei unterschiedliche Räder, die verschiedenen Bremskreisen zugeordnet seien, "hybrid" gebremst. Es sei nicht gesagt, dass zwei Bremskreise auf ein Rad wirkten und ein Rad über beide Bremsaktoren betätigt sei.
- Die in D1 gezeigte Ausführungsform gemäß Fig. 1 sei nicht relevant für den Gegenstand des Anspruchs 1 des Streitpatents, der (laut Oberbegriff) eine über das Bremspedal aktivierte Betriebsbremsfunktion betreffe. Bei Betätigung des Bremspedals werde in Fig. 1 der D1 der Bremsaktor 10 der Betriebsbremse betätigt. Der elektromechanische Bremsaktor 27 des zweiten Bremskreises sei optional und stelle nur eine Hilfs-oder Feststellbremsfunktion zur Verfügung (siehe Absatz [0061]). Das sei keine Betriebsbremsfunktion des separaten Bremskreises, da dieser über eine separate Betätigungseinrichtung der Feststellbremse, also anders aktiviert werde. Im Streitpatent gehe es nicht um einen Ausfall oder eine Hilfsbremsfunktion (Absatz [0008], Diagramme).
- In der relevanten Ausführungsform gemäß Fig. 4 in D1 werde in einem ersten Bremskreis über Leitung 8 das Rad 15 gebremst, ein zweiter Bremskreis wirke aber über Leitung 11 auf ein anderes Rad 17. Bei den von der Einspruchsabteilung identifizierten beiden Bremskreisen (8, 29) in Figur 4 der D1 handele es sich nicht um separate Bremskreise, sondern - aufgrund der gemeinsamen Leitung 8 - um einen sich aufspaltenden Bremskreis. Der zweite Bremsaktor (27) werde nur mittelbar in Erwiderung auf eine Messung des pneumatischen Drucks in der Druckluftleitung 8 betätigt, und ein Leck in dieser Leitung führe zum kompletten Ausfall der beiden Bremsaktoren und der Betriebsbremse für das Rad 15.
Anspruch 1 definiere zudem als wesentliches Merkmal eine maximale Gesamtbremskraft zum Abbremsen eines Rades, und zwar (gemäß Streitpatent, Absatz [0055]) die am Ende des Pedalwegs der Betätigungseinrichtung erreichte Bremskraft. Es handele sich nicht wie von der Einspruchsabteilung angenommen um die maximal zulässige Bremskraft, die vom Bremssystem technisch verkraftet werde, sondern um die zum Erreichen der mittleren Vollverzögerung erforderliche Bremskraft (für die Betriebsbremse seien z. B. mindestens 5,0 m/s2 laut Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung vorgeschrieben).
Ferner definiere der Anspruch 1 die Größen einer ersten und zweiten maximalen Bremskraft dahingehend, dass eine Kombination dieser beiden Bremskräfte der maximalen Gesamtbremskraft entspreche. Beide Bremsaktoren seien daher so dimensioniert, dass jeder für sich nicht die für die Betriebsbremse am Ende des Pedalwegs geforderte maximale Gesamtbremskraft bereitstellen könne und somit im Vergleich zu D1 leistungsschwächer und kleiner zu dimensionieren sei. D1 offenbare nicht, dass jeder der Bremsaktoren nur einen Bruchteil der erforderlichen Gesamtbremskraft bereitstelle könne. Würden gemäß D1 beide Bremsaktoren zeitgleich eingesetzt, erfolge dies (laut Absatz [0061] des Streitpatents) im Rahmen einer nur in Notfällen zur Unterstützung der Betriebsbremse eingesetzten Hilfs- oder Feststellbremsfunktion, die keine Veranlassung zu einer möglichen Beschränkung der maximalen Bremskräfte der Bremsaktoren gebe. D1 lehre sogar davon weg, da D1 mehrfach ausführe, dass auf einen der Bremsaktoren verzichtet werden könne.
Antrag auf Zurückverweisung
Die Art, wie die Einspruchsabteilung die mündliche Verhandlung geführt habe und wie die Entscheidung formuliert sei, die zudem den Anspruchswortlaut nicht richtig treffe, rechtfertige eine Zurückverweisung. Die Einspruchsabteilung habe ihre vorläufige Meinung, dass das Patent wie erteilt aufrechtzuerhalten sei, in der mündlichen Verhandlung geändert, ohne zuvor einen Hinweis diesbezüglich zu geben, obwohl das spätestens in der mündlichen Verhandlung hätte erfolgen sollen. Sie habe ihren Beschluss verkündet und daraufhin die mündliche Verhandlung geschlossen (siehe Niederschrift über die mündliche Verhandlung). Gemäß den Richtlinien für die Prüfung (siehe Fassung vom März 2022, Kapitel VI-3, Punkt 4.2) sei bezüglich des Einspruchsverfahrens vorgesehen, der Patentinhaberin mitzuteilen, wenn das europäische Patent nicht unverändert aufrechterhalten werden könne, und eine Gelegenheit zur Einreichung geänderter Unterlagen innerhalb einer zu setzenden Frist zu geben. Es seien weder neue Dokumente vorgelegt worden, noch habe man in der mündlichen Verhandlung neue Argumente (neben den schriftlich vorgebrachten) gehört, so dass kein Grund bestanden habe, mit der Einreichung eines Hilfsantrags zu reagieren. Das wesentliche Argument zur Patentfähigkeit sei (schon im Prüfungsverfahren) gewesen, dass der Bremskreis in D1 aufgespalten sei. Dass die maximale Gesamtbremskraft die maximale theoretische oder zulässige Bremskraft sei, worauf sich die Einspruchsabteilung dann stützte, sei vorher nicht diskutiert worden. Es liege somit ein Verfahrensfehler durch das EPA vor, der zu korrigieren sei. Dies sei auch ein außergewöhnlicher Grund, für das erstmalige Vorbringen dieses Einwands in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer (Art. 13 (2) VOBK 2020).
Zulassung der Hilfsanträge 1 bis 3
Im Einspruchsverfahren (als Fortführung des Prüfungsverfahren), insbesondere in der mündlichen Verhandlung habe die Gelegenheit gefehlt, zu einem sinnvollen Zeitpunkt Hilfsanträge einzureichen. Dazu habe wie bereits ausgeführt auch angesichts der VOBK 2020 keine Veranlassung bestanden. Mit der Beschwerdebegründung seien daher gleichberechtigt Hilfsanträge 1 bis 3 unter Angabe der Ursprungsoffenbarung und Substantiierung der Patentfähigkeit eingereicht worden. Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 definiere die relevanten Merkmale zur stärkeren Abgrenzung gegenüber D1 nur konkreter (siehe Argumentation zur Patentfähigkeit des Hauptantrags). Die Ansprüche 1 gemäß Hilfsantrag 2 bzw. 3 definierten ein in D1 nicht offenbartes Umgehungsventil bzw. ein Steuergerät, das ausgebildet sei, um einen Sollwert für eine aus der erzeugbaren ersten und zweiten Bremskraft gebildeten Gesamtbremskraft zu bestimmen und den zweiten Bremsaktor entsprechend anzusteuern. D1 zeige zwar ein ähnliches Steuergerät (Modul 18) zum Steuern einer Feststell- und Hilfsbremsfunktion sowie einer ABS-Funktion, aber nicht, um die Gesamtbremskraft der Betriebsbremse während des Normalbetriebs einzustellen.
VI. Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) entgegnete dem wie folgt:
Neuheit - Anspruch 1 des Streitpatents
Anspruch 1 sei nicht auf "vollständig getrennte" Bremskreise beschränkt, da gemäß Streitpatent der erste und zweite Bremsaktor auf gemeinsame Bremselemente (z. B. Bremsbacken) einwirkten. Da in D1 (Fig. 1 und 4) die pneumatischen und elektrischen Bremsen jeweils für sich einzeln oder auch kombiniert zusammen betätigbar seien, stellten sie auch zwei separate Bremskreise dar (in Fig. 4 sogar mit eigener Steuereinrichtung 38 für die elektromechanischen Bremsaktoren 27, 28), wobei Anspruch 1 den Ausdruck "separat" nicht nenne. Die Bremspedaleinrichtung 1 in Fig. 1 der D1 liefere ein elektrisches und ein pneumatisches Signal zur Ansteuerung der auf ein Rad wirkenden ersten und zweiten Bremsaktoren. In Fig. 4 liege - anders als von der Beschwerdeführerin vorgetragen - kein einziger "aufgespaltener Bremskreis" vor, da Modul 38 die elektromechanischen Bremsaktoren 27, 28 auf Grundlage der Druckmessung (mittels Drucksensoren 81, 82) in zwei pneumatischen Bremskreisen ansteuere (siehe explizit Absatz [0030]). Im Übrigen seien Kombi-Bremspedale üblich, bei denen beide Sensoren 81, 82 aus Fig. 4 der D1 in die Bremspedaleinrichtung 1 integriert seien.
D1 treffe in seinem allgemeinen Teil der Beschreibung, aber auch in den Ausführungsformen der Figuren 1 und 4 den Gegenstand des Anspruchs 1 neuheitsschädlich:
- Bereits in Anspruch 1 der D1 sei allgemein, d. h. für alle Ausführungsformen, ausgeführt, dass in Erwiderung auf eine Betätigung des Bremspedals der Druckmitteldruck aussteuerbar und mittelbar oder unmittelbar das elektrische Bremsanforderungssignal erzeugbar sei, und "eine Betriebsbremsfunktion mittels eines hybriden Einsatzes der Radbremsen" explizit offenbart. Anspruch 2 unterstreiche, dass beide Betätigungsarten zusammen ausführbar seien.
In Fig. 1 und Fig. 4 seien Radbremsen 14 und 16 der Vorderachse (Räder 15, 17) von dem pneumatischen Bremskreis mit den Druckluftbremsen 10 und 13 sowie von dem elektromechanischen Bremskreis mit den elektromechanischen Bremsen 27, 28 über elektrische Leitungen 29, 30 mit Bremsstrom direkt angesteuert. Zentral für alle Ausführungsbeispiele in D1 sei, dass für die Betriebsbremse zusätzlich eine elektromechanische Betätigung vorgesehen sei.
- In Fig. 1 (siehe Absätze [0026], [0048] bis [0064]) seien ein erstes bzw. zweites Modul 18 bzw. 38 zur Ansteuerung der elektromechanischen Bremsen 27, 28 bzw. 41, 42 der Vorderachse bzw. Hinterachse vorgesehen, wobei der elektrische Kanal über das Modul 18 (versorgt von einer nicht dargestellten Batterie über eine elektrische Leitung 31, siehe Absatz [0053]) direkt ans Bremspedal gekoppelt sei.
- In Fig. 4 versorge das zweite Modul 38 die elektromechanischen Bremsen der beiden Achsen mit Strom, und es sei kein Bremswertgeber 3 an der Bremspedaleinrichtung 1 vorgesehen (Absätze [0029] bis [0031], [0075] bis [0082]); der vom Fahrer ausgesteuerte pneumatische Bremsdruck werde durch Sensoren 81, 82 gemessen und von dem Modul 38 als elektrisches Signal für die elektromechanischen Bremsen umgewandelt. Bei maximaler Betätigung des Bremspedals 2 werde ein maximaler pneumatischer Bremsdruck in den Druckluftleitungen 8 und 11 erreicht, der gemessen und nach Umwandlung eine maximale Bremsanforderung der elektromechanischen Bremse bedeute (siehe Absatz [0029]).
Die maximale Gesamtbremskraft sei die am Ende des Pedalwegs erreichte Bremskraft, wie von der Beschwerdeführerin selbst ausgeführt und auch in D1 der Fall (Anspruch 1; oder Fig. 1 oder Fig. 4, wo der pneumatische Druck direkt ausgesteuert werde und die elektrische Bremskraft auch direkt oder durch Messung des Drucks). In D1 seien explizit drei Funktionen der elektromechanischen Betätigungseinrichtungen 27, 28 als Alternativen genannt (Absatz [0078]), und zwar neben der Funktion als Feststellbremse auch die Unterstützung der Betriebsbremsfunktion der pneumatisch betätigten Druckluftbremszylinder 10, 13 (im Ausführungsbeispiel der Fig. 1 in D1 ergebe sich die unterstützende Wirkung allgemein aus dem für alle Ausführungsbeispiele geltenden Anspruch 1 der D1), wobei die Bremskräfte sich addierten und gleichzeitig ausgeübt und auch von beiden Bremsaktoren gesteigert würden. Der Fachmann erkenne, dass beide Bremskräfte bei der unterstützenden Wirkung jeweils bis zu ihrem maximalen Wert gesteigert würden. Somit ergebe sich die maximale Gesamtbremskraft beider Bremsaktoren als Summe der erzeugbaren maximalen ersten und zweiten Bremskräfte. Anspruch 1 sei nur auf die Beschreibung der maximal möglichen Gesamtbremskraft gerichtet, die sich bei dem in Absatz [0078] genannten unterstützenden (kumulativen) Betrieb der Bremskreise in D1 ergebe. In Anspruch 1 sei weder eine mögliche Reduzierung der maximalen Bremskräfte der Bremsaktoren aufgenommen noch ein Merkmal der "Dimensionierung".
Antrag auf Zurückverweisung
Im erstinstanzlichen Verfahren habe es keine neuen überraschenden Argumente gegeben, und es sei nur auf Grundlage von schon vorher vorgebrachten Argumenten entschieden worden. Es liege kein Verfahrensfehler vor, da zur Neuheit und erfinderischen Tätigkeit alles hinlänglich diskutiert worden sei. Die Patentinhaberin habe vor der mündlichen Verhandlung, spätestens aber im Rahmen der langen Diskussion während der Verhandlung mit der Einreichung eines Hilfsantrags reagieren können. Die Einsprechende habe zudem vor der mündlichen Verhandlung mit Schreiben vom 15. November 2019 zur vorläufigen Meinung der Einspruchsabteilung Stellung bezogen, insbesondere (Seite 6, 3. Absatz) auch zu Ziffer 7.5.2 in deren vorläufiger Meinung, wonach D1 keinen Wert für die maximal zulässige Bremskraft der Bremssysteme definiere. Darauf habe die Patentinhaberin nicht reagiert. Es habe auch im Ablauf der mündlichen Verhandlung keine formellen Fehler gegeben. Der Vorsitzende der Einspruchsabteilung habe zu Beginn der mündlichen Verhandlung noch nach etwaigen neuen Anträgen gefragt (siehe Entscheidung, Punkt IV-2.2). Auch sei die mündliche Verhandlung nicht unmittelbar beendet worden; der Vorsitzende habe gesagt, dass sich die Einspruchsabteilung nochmals besprochen und die Sachlage neu bewertet habe, so dass eine Änderung der Sachlage erkennbar gewesen sei. Die Richtlinien für die Prüfung seien vorliegend nicht relevant, da sie sich auf eine Aufrechterhaltung des Patents im geänderten Umfang bezögen, wobei im Einspruch eine Frist für das Einreichen geänderter Unterlagen zu setzen sei.
Im Übrigen sei der Zurückweisungsantrag verspätet vorgebracht, siehe dazu Artikel 13 (2) VOBK 2020.
Zulassung der Hilfsanträge 1 bis 3
Die Hilfsanträge seien nach Art. 12 (4) VOBK 2020 unzulässig. Es seien in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung keine neuen Gründe aufgetreten, die die Einreichung von Hilfsanträgen in der Beschwerde rechtfertigten. Die Einsprechende habe sich sogar noch vor der mündlichen Verhandlung mit Schriftsatz vom 15. November 2019 ausführlich zur vorläufigen Meinung der Einspruchsabteilung geäußert, insbesondere auch (siehe dort Seite 2) zu dem Merkmal der maximalen Gesamtbremskraft aus Anspruch 1, welches in D1 immer erfüllt sei. Die Patentinhaberin habe also bereits vor der mündlichen Verhandlung die Gelegenheit gehabt, Hilfsanträge vorzulegen. Vor und in der mündlichen Verhandlung seien dann lediglich bereits vorgebrachte Argumente diskutiert worden. Die Beschwerdeführerin hätte weiterhin in der Beschwerdebegründung vorbringen müssen, warum sie die Hilfsanträge nicht bereits in der ersten Instanz vorgebracht habe, und führe darin auch nicht an, warum die Änderungen alle erhobenen Einwände ausräumten. Insbesondere nehme Hilfsantrag 1 auch nicht recherchierte Merkmale aus der Beschreibung auf.
1. Anspruch 1 des Streitpatents - Neuheit
1.1 Der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 gemäß Streitpatent ist nicht neu gegenüber der Lehre des Dokuments D1 (Artikel 54 (1) EPÜ).
1.2 Dokument D1 offenbart ein Hybridbremssystem für eine Betriebsbremse für ein Fahrzeug (siehe Anspruch 1 als allgemeine Lehre der in D1 beschriebenen Erfindung: "Bremsanlage für ein Fahrzeug, ... wobei eine Betriebsbremsfunktion mittels eines hybriden Einsatzes der Radbremsen ..."), aufweisend (siehe das spezielle Ausführungsbeispiel gemäß Figur 4 in D1):
- einen ersten Bremskreis (8, 9) zum Ansteuern eines einem Rad (15) des Fahrzeugs zuordenbaren ersten Bremsaktors (10) zum Abbremsen des Rades (15) ansprechend auf eine Betätigung einer Betätigungseinrichtung (1, 2) der Betriebsbremse des Fahrzeugs (siehe Absatz [0074] zu Figur 3: bei Betätigung des Bremspedals 2 wird die Radbremse 14 des Vorderrads 15 direkt über den unmittelbar pneumatisch erzeugten Druck über den Druckluftbremszylinder 10 betätigt; Figur 4 ist gemäß Absatz [0076] lediglich eine Erweiterung zu Figur 3, wobei die Radbremsen 14, 16 der Vorderräder 15, 17 gemäß Absatz [0077] nur zusätzlich mittels der elektromechanischen Bremsaktoren 27, 28 betätigbar sind), und
- einen zweiten Bremskreis (29) zum Ansteuern eines dem Rad (15) des Fahrzeugs zuordenbaren zweiten Bremsaktors (27) zum Abbremsen des Rades (15) auf die Betätigung der Betätigungseinrichtung (1, 2).
1.2.1 Die Beschwerdeführerin argumentierte, D1 zeige keine zwei separaten Bremskreise, die unmittelbar angesteuert durch eine Betätigung der Betätigungseinrichtung der Betriebsbremse auf ein und dasselbe Rad wirkten. Bei den in der angefochtenen Entscheidung identifizierten beiden Bremskreisen (8, 29) handele es sich nicht um einen separaten, sondern um einen sich aufspaltenden Bremskreis, bei dem der Bremsaktor 27 nur mittelbar über eine Druckmessung in der Druckluftleitung 8 (des ersten Bremskreises) betätigt werde. In Figur 4 wirke allenfalls ein zweiter Bremskreis über eine zweite Druckluftleitung 11 auf ein anderes Rad 17.
1.2.2 Allerdings ist zum einen das Merkmal "Bremskreis" in Anspruch 1 nicht näher definiert. Insbesondere fordert Anspruch 1 nicht zwei "separate", "voneinander unabhängige" Bremskreise wie von der Beschwerdeführerin argumentiert. Auch dem Streitpatent selbst kann keine einschränkende Auslegung im Sinne "vollständig getrennter Bremskreise" entnommen werden, da gemäß Streitpatent die ersten und zweiten Bremsaktoren der beiden Bremskreise auf dieselben Bremsbacken und damit auf gemeinsame Bremselemente einwirken (siehe Streitpatent, Absatz [0048]). Da gemäß Anspruch 1 des Streitpatents der erste und zweite Bremskreis jeweils auf eine Betätigung der Betätigungseinrichtung der Betriebsbremse, also des Bremspedals ansprechend den ersten und zweiten Bremsaktor eines Rades ansteuern, löst zudem auch ein gemeinsames Eingabemittel eine Bremsung in beiden Bremskreisen aus.
Zum anderen spezifiziert Anspruch 1 für den zweiten Bremskreis keine unmittelbare Ansteuerung durch Betätigung des Bremspedals der Betätigungseinrichtung, sondern nur ein "Ansteuern eines ... zweiten Bremsaktors ... ansprechend auf die Betätigung der Betätigungseinrichtung". In der Ausführungsform der Figur 4 der D1 wird der zweite Bremsaktor 27 von einem zweiten Modul 38 angesteuert, und zwar mittelbar in Erwiderung auf eine Messung des pneumatischen Drucks in den Druckluftleitungen 8 und 11 (siehe Absatz [0071]: "aus denen ein oder mehrere Bremsanforderungssignale vom zweiten Modul 38 generierbar sind", mit denen der Bremsaktor 27 steuerbar ist, siehe Absatz [0077]), wobei dieser Druck bei Betätigung des Bremspedals 2 unmittelbar pneumatisch bereitgestellt wird (siehe Absatz [0070]), also ansprechend auf die Betätigung der Betätigungseinrichtung der Betriebsbremse, wie mit Anspruch 1 gefordert.
1.2.3 Das von der Beschwerdeführerin vorgebrachte Argument, dass D1 in Figur 4 nur einen "sich aufspaltenden" Bremskreis zeige, da ein Leck in der Druckluftleitung 8 zum kompletten Ausfall der beiden Bremsaktoren und der Betriebsbremse für das Rad 15 führe, kann nicht überzeugen. In Figur 4 der D1 erfolgt eine redundante Druckmessung über zwei Drucksensoren 81 und 82 in zwei pneumatischen Bremskreisen (des linken und rechten Vorderrades), so dass im angenommenen Fehlerfall eine Ansteuerung des elektromechanischen Bremsaktors 27 (des rechten Vorderrades) durch das Modul 38 weiterhin möglich ist (siehe Absatz [0071]: aus den elektrischen Signalen der Drucksensoren sind ein oder mehrere Bremsanforderungssignale durch Modul 38 generierbar). Es ist allerdings festzustellen, dass Anspruch 1 das Merkmal "Bremskreis" auch hinsichtlich eines Verhaltens im Fehlerfall nicht einschränkend definiert (siehe auch oben, Absatz 1.2.2). Anspruch 1 definiert - wie auch von der Beschwerdeführerin mehrfach betont - lediglich (im Unterschied zur Hilfs- oder Feststellbremsfunktion) zwei Bremskreise der Betriebsbremse, also der im regulären Betrieb der Bremsanlage bei Betätigung des Bremspedals wirkenden Bremseinrichtungen, wie auch in D1 gezeigt.
Im Übrigen ist auch im Streitpatent eine redundante Erfassung der Betätigung der Betätigungseinrichtung über zwei unabhängige Sensoreinheiten vorgesehen (siehe Absatz [0045]). Selbst wenn ein "zweiter Bremskreis" im Sinne des Streitpatents eine Redundanz hinsichtlich der Erfassung des Bremswunsches aufweisen müsste, so ist dies in D1 gezeigt, auch wenn der zweite Drucksensor 82 im pneumatischen Kreis des anderen Vorderrades 17 angeordnet ist.
1.2.4 Der Oberbegriff des erteilten Anspruchs 1 des Streitpatents ist somit aus D1 bekannt und in Figur 4 gezeigt, wie von der Einspruchsabteilung festgestellt.
1.3 Neben den Merkmalen des Oberbegriffs von Anspruch 1 des Streitpatents sind auch die zusätzlichen Merkmale der beiden ersten Merkmalsgruppen des kennzeichnenden Teils in Figur 4 der D1 gezeigt, und zwar ein Anschluss für einen Druckluftspeicher (7) des ersten Bremskreises (die zur Bremspedaleinrichtung 1 führenden Druckluftleitungen 5 bzw. 6) sowie ein Anschluss (38, 54) für eine elektrische Energiespeicherquelle (53) des zweiten Bremskreises, was nicht bestritten wurde.
1.4 Die Einspruchsabteilung hat die Neuheit des Gegenstands von Anspruch 1 gegenüber D1 aufgrund der letzten Merkmalsgruppe des kennzeichnenden Teils von Anspruch 1 des Streitpatents anerkannt. Danach ist gefordert, dass eine maximale Gesamtbremskraft zum Abbremsen eines Rades einer Kombination einer mittels des ersten und zweiten Bremsaktors erzeugbaren maximalen ersten und zweiten Bremskraft entspricht.
1.4.1 Die Beschwerdeführerin sieht diese Merkmalsgruppe auch als neu gegenüber D1 an, stimmt allerdings nicht mit der Auslegung der Einspruchsabteilung hinsichtlich der "maximalen Gesamtbremskraft zum Abbremsen des Rades" als die maximal zulässige Bremskraft überein, die von dem Bremssystem technisch verkraftet werde. Auch die Kammer kann der in der angefochtenen Entscheidung getroffenen Auslegung nicht folgen, dass Anspruch 1 eine vom System zugelassene maximale Gesamtbremskraft als die theoretische Maximalkraft festlege, die sich durch Aufsummieren von jeweiligen Maximalkräften der Bremsaktoren ergebe.
Die Beschwerdeführerin versteht unter der maximalen Gesamtbremskraft die am Ende des Pedalwegs der Betätigungseinrichtung erreichte Bremskraft, wie in Absatz [0055] des Streitpatent ausgeführt. Dem kann die Kammer nur zustimmen, da es gemäß Oberbegriff des Anspruchs 1 immer um ein Abbremsen "ansprechend auf eine Betätigung einer Betätigungseinrichtung der Betriebsbremse", also bei Betätigung des Bremspedals geht. Die maximale Gesamtbremskraft ergibt sich demnach (zumindest in einer der vielleicht möglichen aber zugleich auch sinnvollen Auslegung des Wortlauts von Anspruch 1) bei maximaler Betätigung des Bremspedals.
1.4.2 Allerdings folgt die Kammer nicht der Auffassung der Beschwerdeführerin, dass Anspruch 1 eine Beschränkung der maximalen Bremskräfte der Bremsaktoren und somit eine Vorgabe an die Auslegung und Dimensionierung der beiden Bremsaktoren dahingehend fordert, dass jeder der Bremsaktoren für sich nicht in der Lage sei, die maximale Gesamtbremskraft bereitzustellen. Anspruch 1 definiert die maximale Gesamtbremskraft nicht als eine Kombination der (z. B. aufgrund der Dimensionierung theoretischen oder zulässigen) "maximalen" Bremskräfte des ersten und zweiten Bremsaktors, sondern als eine Kombination der mittels dieser beiden Bremsaktoren "erzeugbaren maximalen" Bremskräfte. Der Ausdruck "erzeugbare maximale Bremskraft" für sich allein lässt noch offen, welche Beschränkung damit gemeint ist. Im Kontext des gesamten Anspruchswortlauts, also als Anteil an der maximalen Gesamtbremskraft und - wie vorhin unter Punkt 1.4.2 ausgeführt - ansprechend auf eine Betätigung einer Betätigungseinrichtung der Betriebsbremse, ist damit eine bei maximaler Bremspedalbetätigung erzeugbare maximale Bremskraft des jeweiligen Bremsaktors gemeint.
1.4.3 Im Zusammenhang mit dem in D1 in Figur 4 gezeigten Ausführungsbeispiel führt D1 (siehe Absatz [0078]) explizit drei alternative Einsatzmöglichkeiten der elektromechanischen Bremsbetätigungseinrichtungen 27 und 28 auf, darunter auch einen Betriebsmodus, in dem die Betriebsbremsfunktion der pneumatisch betätigbaren Druckluftbremszylinder 10 und 13 unterstützt wird. Diese Ausführungsform entspricht der in D1 in den Ansprüchen 1 und 2 noch allgemeiner definierte Variante einer Betriebsbremsfunktion mittels eines hybriden Einsatzes der Radbremsen an einer Achse, die durch zwei Betätigungsarten (in der die Radbremsen an der Achse sowohl mittels der druckluftbetriebenen Bremszylinder als auch elektromechanisch betätigbar sind) "zusammen ausführbar" ist. Die Beschwerdeführerin hat zwar noch auf Absatz [0061] hingewiesen, in dem nur eine Feststell- oder Hilfsbremsfunktion aufgeführt wird. Allerdings bezieht sich dieser Absatz auf das Ausführungsbeispiel gemäß Figur 1 und ist somit unbeachtlich. Selbst wenn man der Beschwerdeführerin folgt und annimmt, dass gemäß D1 auf einen der Bremsaktoren verzichtet werden kann, betrifft dies aber entweder die in allen Ausführungsbeispielen der D1 gezeigte und vorliegend nicht betrachtete Hinterachse, die nur einen elektromechanischen Bremsaktor aufweist, oder allenfalls das Ausführungsbeispiel der Figur 3, welches nur einen druckmittelbetriebenen Bremszylinder an der Vorderachse aufweist und vorliegend ebenfalls nicht Gegenstand der Neuheitsbetrachtung war.
1.4.4 Die Kammer stimmt mit der angefochtenen Entscheidung insofern überein (siehe Abschnitt 4.5.1), "dass bei der Verwendung von zwei Bremsaktoren, die gegeneinander unterstützend eingesetzt werden, die sich auf ein Rad ergebende Bremskraft aus der Kombination der von den Bremsaktoren jeweils erzeugbaren Bremskräften ergeben wird". Gleichzeitig wird sich dann aber auch die maximale Gesamtbremskraft - im Verständnis der Kammer wie oben dargelegt - bei dem in D1 offenbarten unterstützenden Betriebsmodus mit gemeinsamer Ansteuerung des ersten und zweiten Bremsaktors im Rahmen der Betriebsbremsfunktion inhärent als Kombination der erzeugbaren maximalen ersten und zweiten Bremskraft des ersten und zweiten Bremsaktors ergeben, wenn das Bremspedal maximal betätigt wird.
1.5 Das Ausführungsbeispiel gemäß Figur 4 der D1 in Verbindung mit der in Absatz [0078] in Zusammenhang mit diesem Ausführungsbeispiel explizit genannten Unterstützung der Betriebsbremsfunktion der pneumatisch betätigbaren Druckluftbremszylinder durch die elektromechanischen Bremsbetätigungseinrichtungen ist somit neuheitsschädlich für den Gegenstand des Anspruchs 1 des Streitpatents.
2. Antrag auf Zurückverweisung an die erste Instanz
2.1 Die Kammer sah keinen Grund, dem erst in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer gestellten Antrag der Beschwerdeführerin stattzugeben, die Angelegenheit bei Nichtgewährung des Hauptantrags an die erste Instanz zurückzuverweisen.
2.2 Vorliegend war vorrangig zu prüfen, ob - wie von der Beschwerdeführerin behauptet - ein Verfahrensfehler der Einspruchsabteilung vorlag, da gemäß der revidierten Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern Artikel 11 VOBK 2020 die Ermessensentscheidung gemäß Artikel 111 EPÜ über eine Zurückverweisung der Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an das Organ, dass die angefochtene Entscheidung erlassen hat, nur dann ausgeübt werden soll, wenn besondere Gründe dafür sprechen. Besondere Gründe können u.a. dann vorliegen, wenn das Verfahren vor dem erstinstanzlichen Organ wesentliche Mängel aufweist.
Die Beschwerdeführerin begründete den Verfahrensmangel durch eine Nichtgewährung des rechtlichen Gehörs, da die Einspruchsabteilung überraschend ihre Meinung zur erfinderischen Tätigkeit geändert habe und die Beschwerdeführerin und Patentinhaberin, als sie das erkannte habe, keine Möglichkeit mehr gehabt habe, in das Verfahren einzugreifen und einen Hilfsantrag vorzulegen. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs würde - läge eine solche Verletzung vor - nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern in der Tat einen wesentlichen Mangel darstellen.
2.3 Die Einspruchsabteilung hat ihre mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung gemäß Regel 115 (1) EPÜ geäußerte vorläufige Meinung, dass das angegriffene Patent in der erteilten Form aufrechterhalten werden könne, in der mündlichen Verhandlung geändert. Die geänderte Auffassung der Einspruchsabteilung, dass Anspruch 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe, wurde den Parteien nach Diskussion der erfinderischen Tätigkeit und vor Verkündung der Entscheidung (Widerruf des Patents) mitgeteilt (siehe Niederschrift über die mündliche Verhandlung).
2.3.1 Dazu ist zunächst festzustellen, dass eine von der Einspruchsabteilung geäußerte vorläufige Meinung nicht bindend ist, so dass die Beschwerdeführerin mit einer Änderung derselben aufgrund der in der mündlichen Verhandlung geführten Diskussion, die den Parteien Gelegenheit bot, ihre Argumente nochmals darzulegen und die Einspruchsabteilung von ihrer jeweiligen Position zu überzeugen, rechnen musste. Schon aufgrund der prozessualen Mitwirkungspflicht hätte die Patentinhaberin reagieren können und auch müssen. Sie hätte in der mündlichen Verhandlung - spätestens vor Verkündung der Entscheidung - signalisieren müssen, dass sie ggf. mit Einreichung eines Hilfsantrags antworten wolle.
2.3.2 Das Argument der beschwerdeführenden Patentinhaberin, dass die Einspruchsabteilung keinen Hinweis gegeben habe, dass sie in der mündlichen Verhandlung aufgrund der geführten Diskussion von der vorläufigen Meinung abweichen würde, und dass sich die Verpflichtung für einen derartigen Hinweis aus den Richtlinien für die Prüfung (Kapitel VI-3, Punkt 4.2) ergäbe, kann nicht überzeugen. Zum einen ist - wie oben ausgeführt - es gerade Sinn und Zweck einer mündlichen Verhandlung, die gegensätzlichen Positionen nochmals vorzutragen, so dass sich die Einspruchsabteilung eine abschließende Meinung zu den strittigen Fragen bilden kann.
Zum anderen sind die von der Beschwerdeführerin angesprochenen Richtlinien (Kapitel VI-3, Punkt 4.2) vorliegend nicht relevant, da sie Regel 81 (2) und (3) EPÜ und insbesondere den Fall betreffen, dass die Einspruchsabteilung in ihrem Bescheid die Gründe aufführt, die gegen eine Aufrechterhaltung des europäischen Patents stehen, wobei in diesem Fall eine Frist zur Einreichung von Änderungen zu setzen ist. Dies war vorliegend aufgrund der positiven Beurteilung der Einspruchsabteilung in der vorläufigen Stellungnahme gerade nicht der Fall.
Daraus kann aber nach Auffassung der Kammer auch kein Rechtsanspruch hergeleitet werden, dass die Einspruchsabteilung - so sie erst in der mündlichen Verhandlung zu der Auffassung gelangen sollte, dass es Gründe gibt, die der Aufrechterhaltung des Patents entgegenstehen - der Beschwerdeführerin explizit und ausdrücklich einen Hinweis gibt, nun soweit erforderlich die Beschreibung, die Patentansprüche oder die Zeichnungen zu ändern.
Die Kammer stimmt der Beschwerdeführerin allerdings insoweit zu, dass ihr durch die Art der Verhandlungsführung prinzipiell nicht die Möglichkeit zur Reaktion auf geänderte Umstände versagt werden darf, etwa dadurch, dass die Entscheidung unmittelbar und direkt nach Darlegung der geänderten Auffassung verkündet wird.
2.4 Eine Frage des Vorsitzenden nach den abschließenden Anträgen, die verbindlich hätte sicherstellen können, dass die Patentinhaberin nichts mehr vorzubringen gedenkt, hat es laut Niederschrift nicht gegeben.
Somit ist für die Frage, ob das rechtliche Gehör gewährt wurde, vor allem der Umstand zu klären, ob die Beschwerdeführerin nach Kundgabe der Auffassung der Einspruchsabteilung zur erfinderischen Tätigkeit noch hätte eingreifen können, um auf die nunmehr veränderte Auffassung der Einspruchsabteilung zu reagieren, bevor die Einspruchsabteilung die abschließende Entscheidung verkündete.
2.4.1 Die Beschwerdeführerin bestreitet dies.
2.4.2 Allerdings gibt es für die von der Beschwerdeführerin ins Feld geführte Behauptung, dass jener Zeitraum zwischen der Feststellung, dass die Erfindung nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht, und der Verkündung des Widerrufs zu kurz gewesen sei, um - ohne dem Vorsitzenden ins Wort zu fallen - einen Hilfsantrag zu platzieren, weder Hinweis noch Beleg.
2.4.3 Die Niederschrift über die mündliche Verhandlung (siehe Seite 3) trennt dabei die Feststellung, dass die Einspruchsabteilung nach einer Beratungspause zuerst die geänderte Auffassung verkündet hat, "dass Anspruch 1 gemäß Hauptantrag, und in analoger Weise Anspruch 11, nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen" in Absatz 4, von der abschließenden Entscheidung über den Widerruf des Patents in Absatz 5, wobei letztere separat unter einer neuen Überschrift ("Entscheidung") aufgeführt ist. Nach Auffassung der Kammer sind damit zwei voneinander klar getrennte Sprechakte im Ablauf der mündlichen Verhandlung dokumentiert.
2.4.4 Insbesondere aber ist entscheidungserheblich, dass weder im Protokoll ein Protest über die Verfahrensführung der Einspruchsabteilung hinterlegt ist noch ein diesbezüglicher Antrag auf Änderung des Protokolls stattfand. Dass sich auch die Beschwerdebegründung völlig über diesen behaupteten Verfahrensfehler ausschweigt und dieser erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer dargelegt wurde, macht das Vorbringen diesbezüglich wenig glaubhaft.
2.4.5 Daher bestehen aufgrund der protokollierten Verhandlungsführung keine begründbaren Zweifel, dass die Änderung der Sachlage vor Verkündung der abschließenden Entscheidung über den Widerruf des Patents erkennbar gewesen ist und dass eine Reaktion der Beschwerdeführerin möglich gewesen wäre, etwa um die Einspruchsabteilung auf einen neuen Hilfsantrag hinzuweisen.
Somit ist für die Kammer eine Verletzung des rechtlichen Gehörs unter Artikel 113 (1) EPÜ nicht erkennbar.
2.5 Wie von der Beschwerdeführerin zugestanden, sind im Einspruchsverfahren auch weder neue Dokumente vorgelegt noch neue Argumente gehört worden, so dass ausreichend Möglichkeit bestand, einen Hilfsantrag vorzubereiten und rechtzeitig vorzulegen. Das wesentliche Argument, worauf die Einspruchsabteilung ihre Entscheidung dann stützte, nämlich dass die maximale Gesamtbremskraft die maximale theoretische oder zulässige Bremskraft sei, war bereits bekannt und konnte nicht überraschen. Wie der vorläufigen Meinung der Einspruchsabteilung zu entnehmen ist (siehe dort Punkt 7.5.2), hat die Einspruchsabteilung darin eine Abgrenzung gegenüber Dokument D1 gesehen und damit zunächst das Vorliegen einer erfinderischen Tätigkeit argumentiert.
Die Einsprechende hat allerdings vor der mündlichen Verhandlung in ihrem Schreiben vom 15. November 2019 dieser vorläufigen Auffassung der Einspruchsabteilung nochmals widersprochen. Darauf hat die Patentinhaberin weder schriftlich noch zu Beginn der mündlichen Verhandlung durch eine entsprechend angepasste Antragslage, z. B. durch Einreichung eines Hilfsantrags als mögliche Rückfallposition, reagiert.
Auch dieser Verfahrensverlauf lässt nach Auffassung der Kammer somit keinen Schluss auf eine Verletzung des rechtlichen Gehörs unter Artikel 113 (1) EPÜ und einen sich daraus ableitbaren Verfahrensfehler zu.
2.6 Das Argument der Beschwerdeführerin, dass die angefochtene Entscheidung den Anspruchswortlaut nicht korrekt treffe, betrifft allenfalls die Interpretation des mit Anspruch 1 beanspruchten Gegenstands durch die Einspruchsabteilung. Wie die Beschwerdeführerin selbst einräumt, hing die Frage der Patentfähigkeit des Anspruchs 1 zum einen immer davon ab, ob D1 nur einen (einzigen) aufgespaltenen Bremskreis zeige, und wurde in der angefochtenen Entscheidung behandelt (siehe Punkt 4.2). Zum anderen führt die angefochtene Entscheidung auch zur Auslegung des Merkmals "maximale Gesamtbremskraft" aus (siehe Punkte 4.5.1, 4.5.2 und 5.4), wobei dieser Punkt wie weiter oben ausgeführt bereits im schriftlichen Verfahren diskutiert wurde. Die angefochtene Entscheidung setzt sich also mit den strittigen Punkten auseinander und ist nur auf Gründe gestützt, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten.
Ein Verstoß gegen Artikel 113 (1) EPÜ und somit ein wesentlicher Verfahrensmangel, der eine Zurückweisung an die Einspruchsabteilung bedingen könnte, ist also auch aus der angefochtenen Entscheidung nicht abzuleiten.
2.7 Ob der von der Patentinhaberin behauptete Verfahrensfehler zudem einen außergewöhnlichen Umstand darstellt, der nach Auffassung der Patentinhaberin das verspätete Vorbringen des Zurückweisungsantrags erstmalig in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer unter Artikel 13 (2) VOBK 2020 rechtfertige und daher zu korrigieren sei, bietet vor diesem Hintergrund keine Grundlage für eine Zurückverweisung.
3. Zulassung der Hilfsanträge 1 bis 3
3.1 Gemäß Artikel 12 (2) VOBK 2020 besteht das vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens in der gerichtlichen Überprüfung der angefochtenen Entscheidung, wobei das Beschwerdevorbringen der Beteiligten auf die Anträge zu richten ist, die der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegen.
3.1.1 Im erstinstanzlichen Verfahren hat die Patentinhaberin nur die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung verfolgt und erst nach Verkündung der für sie nachteiligen Entscheidung über den Widerruf des Patents beantragt, einen auf den erteilten Ansprüchen 1, 4, 5 basierten Hilfsantrag einzureichen (siehe Niederschrift über die mündliche Verhandlung, Seite 3). Diesem erst nach Abschluss und außerhalb des erstinstanzlichen Einspruchsverfahrens gestellten Antrag wurde nicht stattgegeben, wie auch in der angefochtenen Entscheidung vermerkt (siehe IV.2.2). Im Verfahren vor der Einspruchsabteilung lag somit kein Hilfsantrag vor.
3.1.2 Die mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsanträge 1 bis 3 fallen somit nicht unter das Beschwerdevorbringen gemäß Artikel 12 (2) VOBK 2020, sondern stellen eine Änderung des Beschwerdevorbringens gemäß Artikel 12 (4) Satz 1 VOBK 2020 dar, dessen Zulassung damit im Ermessen der Kammer steht (siehe Artikel 12 (4) Satz 2 VOBK 2020). Dies gilt auch für den in nicht zulässiger Weise nach Verkündung der Entscheidung der Einspruchsabteilung vorgelegten Hilfsantrag (als Anlage zur Niederschrift über die mündliche Verhandlung beigefügt), der dem mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsantrag 3 entspricht.
3.2 Gemäß Artikel 12 (6) Satz 2 VOBK 2020 sind allerdings Anträge nicht zuzulassen, die im Verfahren, das zu der angefochtenen Entscheidung geführt hat, vorzubringen gewesen wären, es sei denn, die Umstände der Beschwerdesache rechtfertigen eine Zulassung.
3.3 Die Kammer kann nicht erkennen, dass sich die maßgeblichen Umstände im Beschwerdeverfahren geändert haben.
3.3.1 Wie bereits weiter oben im Zusammenhang mit dem Antrag auf Zurückverweisung dargelegt, bestand Veranlassung und Möglichkeit, einen Hilfsantrag vorzubereiten und vorzulegen.
3.3.2 Vor diesem Hintergrund können die Argumente der Beschwerdeführerin, im Einspruchsverfahren habe keine Veranlassung zur Einreichung der Hilfsanträge bestanden und auch die Gelegenheit gefehlt, Hilfsanträge zu einem sinnvollen Zeitpunkt einzureichen, nicht überzeugen.
Die Patentinhaberin hat vielmehr durch ihr Verhalten im Ergebnis eine Entscheidung der Einspruchsabteilung hinsichtlich der Hilfsanträge verhindert, die dann einer gerichtlichen Überprüfung im nachgeordneten Beschwerdeverfahren zugänglich gewesen wären (im Sinne des Artikels 12 (2) VOBK 2020). Der Patentinhaberin steht es nicht frei, ihre Sache in die zweite Instanz zu verlagern und so die Kammer zu einem Ersturteil oder zur Zurückverweisung zu zwingen.
Die Kammer kann auch keine Umstände erkennen (Artikel 12 (6) VOBK 2020), weder wie weiter oben ausgeführt eine überraschende Wendung für die Patentinhaberin noch eine Verletzung des rechtlichen Gehörs im erstinstanzlichen Verfahren, die eine Zulassung der Hilfsanträge 1 bis 3 in das Beschwerdeverfahren rechtfertigen würden.
3.4 Die Kammer hat daher die Hilfsanträge 1 bis 3 unter Artikel 12 (2) i.V.m. Artikel 12 (6) Satz 2 VOBK 2020 nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.