T 1864/16 31-08-2021
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Dosiervorrichtung für eine Injektionsvorrichtung
SHL Group AB
SANOFI-AVENTIS DEUTSCHLAND GMBH
Teilanmeldung - unzulässige Erweiterung (ja)
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
Ausreichende Offenbarung - Ausführbarkeit (ja)
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Zwischen-entscheidung der Einspruchsabteilung, das Streitpatent in geänderter Fassung aufrechtzuerhalten.
Gegen diese Entscheidung haben die Patentinhaberin und die Einsprechende 1 Beschwerde eingelegt. Die Patentinhaberin nahm jedoch während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer am 31. August 2021 ihre Beschwerde zurück.
II. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende 1) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
III. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte als Hauptantrag die Zurückweisung der Beschwerde der Einsprechenden 1 und hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf der Grundlage eines der mit Schreiben vom 21. April 2017 eingereichten Hilfsanträge 1-9. Eine an die Ansprüche des Hilfsantrags 4 angepasste Beschreibung wurde während der mündlichen Verhandlung am 31. August 2021 überreicht.
IV. Die weitere Verfahrensbeteiligte (Einsprechende 2) machte keine schriftlichen Eingaben im Beschwerde-verfahren und schloss sich während der mündlichen Verhandlung am 31. August 2021 den Ausführungen der Beschwerdeführerin an.
V. Anspruch 1 gemäß Hauptantrag (auf dessen Grundlage das Patent von der Einspruchsabteilung aufrechterhalten wurde) lautet wie folgt:
"Eine Injektionsvorrichtung (1) mit einer Dosiervorrichtung zur Einstellung einer aus der Injektionsvorrichtung (1) abzugebenden Dosis mit:
- einer Gewindestange (4);
- wobei die Injektionsvorrichtung (1) ein Gehäuseteil (la) mit einem Innengewinde (1f) aufweist, durch welches die Gewindestange (4) geschraubt werden kann;
- einem Sperrelement (5), mit welchem eine Aufziehbewegung der Injektionsvorrichtung begrenzt oder blockiert werden kann, um sicherzustellen, dass keine Dosis aufgezogen werden kann, welche nicht mehr aus der Injektionsvorrichtung oder einer in der Injektionsvorrichtung vorhandenen Ampulle abgegeben werden kann,
- einer Drehhülse (3), welche ein Innengewinde (3d) aufweist, in das ein Außengewinde (5a) des Sperrelements (5) eingreift,
- wobei das Sperrelement (5) verschiebbar und verdrehgesichert auf der Gewindestange (4) gelagert ist."
VI. Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 unterscheidet sich von Anspruch 1 gemäß Hauptantrag durch die folgenden Änderungen (Änderungen durch die Kammer hervorgehoben):
"- einer Drehhülse (3), welche ein Innengewinde (3d) aufweist, in das ein Außengewinde (5a) des Sperrelements (5) eingreift, und welche zum Aufziehen der Injektionsvorrichtung drehbar ist,"
VII. Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 2 unterscheidet sich von Anspruch 1 gemäß Hauptantrag durch die folgenden Änderungen (Änderungen durch die Kammer hervorgehoben):
"- einer Drehhülse (3), welche ein Außengewinde (3c) [deleted: Innengewinde (3d)] aufweist, das in ein zweites Innengewinde (1b) des Gehäuseteils (1a) [deleted: in das ein Außengewinde (5a) des Sperrelements (5)] eingreift, und aus der Injektionsvorrichtung (1) zum Aufziehen der Injektionsvorrichtung (1) herausgedreht werden kann,"
"- wobei das Sperrelement (5) verschiebbar und verdrehgesichert auf der Gewindestange (4) gelagert ist und ein Außengewinde (5a) aufweist, welches in ein Innengewinde (3d) der Drehhülse (3) eingreift."
VIII. Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 3 unterscheidet sich von Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 2 durch das folgende zusätzliche Merkmal:
"- einer Rückdrehsicherung (6b), welche während des Aufziehens der Injektionsvorrichtung (1) verhindert, dass die Gewindestange (4) mitgedreht wird,"
IX. Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 4 unterscheidet sich von Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 3 durch das folgende zusätzliche Merkmal:
"- einer zweiten Rückdrehsicherung (6a), welche angepasst ist, dass sich die Gewindestange (4) zusammen mit der Drehhülse (3) dreht, wenn die Drehhülse (3) in die Injektionsvorrichtung (1) eingeschraubt wird, wodurch die Relativposition zwischen dem Sperrelement (5) und der Drehhülse (3) unverändert bleibt,"
X. Die Haupt- und Hilfsanträge 1-4 enthalten außerdem jeweils einen Verfahrensanspruch (Anspruch 9 bzw. 8), der in allen dieser Anträge wie folgt lautet:
"Verfahren zum Einstellen einer aus einer Injektionsvorrichtung (1) nach einem der vorhergehenden Ansprüche abzugebenden Dosis, wobei mit einem Sperrelement (5), welches verschiebbar und verdrehgesichert auf der Gewindestange (4) gelagert ist, eine Aufziehbewegung der Injektionsvorrichtung (1) begrenzt oder blockiert wird, wenn eine Dosis aufgezogen werden soll, welche nicht mehr aus der Injektionsvorrichtung (1) abgegeben werden kann, wobei die Injektionsvorrichtung (1) ein Innengewinde (1f) aufweist, durch welches die Gewindestange (4) geschraubt werden kann."
XI. Das Streitpatent wurde auf der Grundlage einer Teilanmeldung aus einer früheren Anmeldung erteilt, welche als WO 2006/125329 Al (im Folgenden "die Stammanmeldung") veröffentlicht wurde.
Das folgende Dokument ist für die vorliegende Entscheidung auch relevant:
S6: WO 2004/078242 A2
XII. Die von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Argumente, denen sich die weitere Verfahrensbeteiligte (Einsprechende 2) anschloss, lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Haupt- and Hilfsanträge 1-4 - Unzulässige Erweiterung
Der Gegenstand von Anspruch 1 gemäß Hauptantrag beruhe auf einer unzulässigen Zwischenverallgemeinerung des in der Stammanmeldung auf Seiten 9-10 offenbarten Ausführungsbeispiels. Die folgenden weiteren Merkmale dieses Ausführungsbeispiels dürften nämlich nach Artikel 76(1) EPÜ nicht von den beanspruchten Merkmalen getrennt werden, mit denen sie eng verknüpft seien (Seite 9, dritter Absatz; Seite 10, erster Absatz; siehe auch Seite 12, zweiter Absatz; Seite 18, dritter Absatz):
a) die Drehhülse könne zum Aufziehen der Injektions-vorrichtung herausgedreht werden;
b) die Gewindestange sei in der Drehhülse geführt und relativ zur Drehhülse bewegbar;
c) die Gewindestange sei während eines Aufziehvorganges dank einer Rückdrehsicherung 6b verdrehgesichert gelagert;
d) die Relativposition zwischen Sperrelement und Drehhülse bleibe dank einer weiteren Rückdrehsicherung 6a unverändert, wenn die Drehhülse wieder in die Injektionsvorrichtung eingeschraubt werde;
e) die Drehhülse weise ein Anschlagelement für das Sperrelement auf, bis zu dem das Sperrelement einschraubbar sei, um eine Begrenzung der Aufziehbewegung zu bewirken;
f) die Startposition des Sperrelementes auf der Gewindestange werde so festgelegt, dass die zum distalen Eindrehen des Sperrelements bis zu dem Anschlag benötigten Aufziehvorgänge nicht über die in der Injektionsvorrichtung enthaltene zugeordnete Substanzmenge hinausgingen oder dieser entsprächen.
Da Anspruch 1 gemäß den Hilfsanträgen 1-4 die Gesamtheit dieser Merkmale nicht enthalte, seien die Erfordernisse von Artikel 76(1) EPÜ auch für diese Anträge nicht erfüllt.
Darüber hinaus fehlten in Anspruch 1 gemäß den Haupt- and Hilfsanträgen 1-4 die Merkmale der unabhängigen Ansprüche der Stammanmeldung, welche als unentbehrlich in der Stammanmeldung dargestellt seien. Dies stelle einen weiteren Verstoß gegen Artikel 76(1) EPÜ dar.
Die gleichen Einwände gelten auch mutatis mutandis für den unabhängigen Verfahrensanspruch der jeweiligen Anträge.
Hilfsantrag 4 - Erfinderische Tätigkeit
S6 offenbare eine ähnliche Injektionsvorrichtung, die auch einen Begrenzungsmechanismus zur Begrenzung einer abzugebenden Dosis (Seite 11, Zeilen 11-15) aufweise. Insbesondere bildeten die Hülse 60 ("drive sleeve"; Figur 2, Seite 11, Zeilen 11-15) bzw. die Mutter 64 ("nut"; Figuren 1-3, Seite 9, Zeilen 2-3) ein Sperrelement bzw. eine Drehhülse im Sinne des Streitpatents. Die anderen Merkmale von Anspruch 1 des Hilfsantrags 4, durch die der Gegenstand von Anspruch 1 sich gegenüber S6 unterscheide, stellten lediglich ein Alternativdesign dar, zu dem der Fachmann ausgehend von S6 ohne erfinderisches Zutun gelangen würde. Somit beruhe der Gegenstand von Anspruch 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.
Hilfsantrag 4 - Ausreichende Offenbarung
(Diese Argumente wurden in Bezug auf den Hauptantrag vorgebracht, gelten aber ebenso für den Hilfsantrag 4)
Während Anspruch 1 auf eine "Aufziehbewegung" der Injektionsvorrichtung verweise, offenbare die Beschreibung des Patents lediglich die Begrenzung oder Blockierung deren "Aufziehvorganges". Der Fachmann sei daher nicht in der Lage, die Erfindung im gesamten beanspruchten Bereich auszuführen. Die Beschreibung enthalte außerdem nicht ausreichend Information, um die ausführbaren Ausführungsformen innerhalb der beanspruchten Alternativen identifizieren zu können.
Laut Anspruch 3 in der englischen Fassung sei das Außengewinde des Sperrelementes "in opposite relationship" zu dem Außengewinde der Drehhülse. Dies stehe aber im Widerspruch zu der entsprechenden Beschreibung (Spalte 7, Zeile 52 - Spalte 8, Zeile 7), dass sich beide Gewinden "gleichläufig" erstreckten. Somit sei der Fachmann nicht in der Lage, den Gegenstand von Anspruch 3 umzusetzen.
Der zweite unabhängige Anspruch (Anspruch 8 gemäß Hilfsantrag 4) scheine zwar ein Verfahren zu definieren. Tatsächlich seien allerdings keine Verfahrensschritte im Anspruch aufgeführt, sondern strukturelle Merkmale von Anspruch 1 seien dort lediglich wiederholt. Somit decke Anspruch 8 jedes denkbare mögliche Verfahren ab, das mit der Injektionsvorrichtung durchgeführt werden könne, insbesondere auch solche, die im Patent nicht einmal offenbart seien.
Somit sei die Erfindung nicht so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen könnte.
XIII. Die von der Beschwerdegegnerin vorgebrachten Argumente lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Haupt- and Hilfsanträge 1-4 - Unzulässige Erweiterung
Gemäß Artikel 76(1) EPÜ werde nicht verlangt, dass der Gegenstand von Anspruch 1 gemäß Hauptantrag unbedingt die Merkmale der unabhängigen Ansprüche der Stammanmeldung enthalte. Der Gegenstand von Anspruch 1 gemäß Hauptantrag lasse sich vielmehr unmittelbar und eindeutig aus der Beschreibung des spezifischen Ausführungsbeispiels eines Begrenzungsmechanismus auf Seiten 9-10 der Stammanmeldung ableiten. Alle Merkmale dieses Begrenzungsmechanismus, die eng miteinander verknüpft seien, seien im Anspruch 1 definiert. Die von der Beschwerdeführerin beanstandeten Merkmale seien entweder durch Anspruch 1 gemäß Hauptantrag schon impliziert oder in der Stammanmeldung als optional offenbart, oder sie gehörten nicht zum Begrenzungsmechanismus als solchem.
Insbesondere sei für das Aufziehen der Injektions-vorrichtung in der Stammanmeldung nur von einer Drehbewegung die Rede, wobei das Herausschrauben lediglich als Beispiel angegeben sei. Aus dem Wortlaut von Anspruch 1 gemäß Hauptantrag, in dem eine Drehhülse und mehrere Gewinde erwähnt seien, gehe hervor, dass die Aufziehbewegung der Injektionsvorrichtung durch Drehung der Drehhülse erfolge.
Die erste und zweite Verdrehsicherungen seien außerdem in der Stammanmeldung als rein optionale Merkmale offenbart, wie die Verwendung der Abkürzung "z.B." in den Textstellen "z.B. mittels einer ersten Verdreh- oder Rückdrehsicherung" im letzter Absatz der Seite 9, sowie "z.B. durch eine zweite Verdreh- oder Rückdrehsicherung" und "z.B. durch eine erste Verdrehsicherung" im ersten Absatz der Seite 10 zeige. Diese Passagen seien zudem als Konditionalsätze formuliert und somit als optional zu verstehen. Die Auslassung dieser Merkmale in Anspruch 1 gemäß Hauptantrag verstoße daher nicht gegen Artikel 76(1) EPÜ.
Als Reaktion auf die von der Beschwerdeführerin erhobenen Einwände nach Artikel 76(1) EPÜ sei die Definition des Begrenzungsmechanismus in Anspruch 1 gemäß den verschieden Hilfsanträgen 1-4 sukzessiv mit weiteren Merkmalen aus der Beschreibung der Stammanmeldung ergänzt worden. Diese Hilfsanträge erfüllten somit auch die Erfordernisse von Artikel 76(1) EPÜ.
Hilfsantrag 4 - Erfinderische Tätigkeit
Die Merkmale von Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 4, wonach die Drehhülse aus der Injektionsvorrichtung zum Aufziehen der Injektionsvorrichtung herausgedreht werden könne und das Sperrelement ein Außengewinde aufweise, welches in ein Innengewinde der Drehhülse eingreife, schlössen die Merkmalanalyse von S6 durch die Beschwerdeführerin aus.
Die Mutter 64 sei nämlich nicht zum Aufziehen der Injektionsvorrichtung drehbar, sondern zum Begrenzen oder Blockieren der Dosiseinstellung (Seite 11, Zeilen 7-15). Sie sei verschiebbar und verdrehgesichert mit der Dosiswahlhülse 50 ("dose dial sleeve") verbunden (Seite 10, Zeilen 14-16), und weise außerdem kein Außengewinde auf, das in ein Innengewinde des Gehäuseteils eingreife. Hingegen sei die Dosiswahlhülse 50 zum Aufziehen der Injektionsvorrichtung drehbar. Daher würde der Fachmann vielmehr die Dosiswahlhülse 50 bzw. die Mutter 64 als Drehhülse bzw. Sperrelement betrachten.
Die Argumentation der Beschwerdeführerin im Hinblick auf mangelnde erfinderische Tätigkeit sei rückschauend. Der Fachmann würde ausgehend von S6 ohne erfinderisches Zutun nicht zu dem Gegenstand von Anspruch 1 gelangen.
Hilfsantrag 4 - Ausreichende Offenbarung
(Diese Argumente wurden in Bezug auf den Hauptantrag vorgebracht, gelten aber ebenso für den Hilfsantrag 4)
Das von der Beschwerdeführerin vorgebrachte Argument in Hinsicht auf die Ausführbarkeit von Anspruch 1 beruhe auf einer fehlerhaften Auslegung dessen Wortlauts. Die einzige sinnvolle Interpretation des Anspruchs in Anbetracht der Gesamtoffenbarung der Stammanmeldung sei nämlich, dass die "Aufziehbewegung" der Injektions-vorrichtung zum Aufziehen einer Dosis diene, und dass sie somit identisch mit dem in der Beschreibung offenbarten "Aufziehvorgang" sei.
Das Vorbringen der Beschwerdeführerin bezüglich Anspruch 3 sei nicht nachvollziehbar, da sowohl der Wortlaut dieses Anspruchs als auch die Beschreibung explizit verlangten, dass beide Gewinde "gleichläufig" seien. Die Beschwerdeführerin scheine sich eher auf die offensichtlich falsche englische Übersetzung von Anspruch 3 zu beziehen.
Der Einwand mangelnder Ausführbarkeit des unabhängigen Verfahrensanspruchs (Anspruch 8 gemäß Hilfsantrag 4) betreffe eher die Frage der Klarheit, die kein Einspruchsgrund sei.
Somit sei die beanspruchte Erfindung so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen könnte.
Entscheidungsgründe
1. Gegenstand des Streitpatents
Das Streitpatent bezieht sich auf eine Injektions-vorrichtung mit einer Dosiervorrichtung zur sicheren Einstellung einer abzugebenden Dosis einer Substanz, sowie auf ein entsprechendes Einstellverfahren. Eine solche Dosiervorrichtung ist in der unten wiedergegebenen Figur 2A dargestellt:
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
Sie weist u. a. eine Gewindestange (4) auf, die durch ein Innengewinde des Gehäuses (1a) aus der Vorrichtung (z. B. in eine Ampulle, die die Subtanz enthält) zur Abgabe der Dosis geschraubt werden kann. Vor der Abgabe muss zuerst mittels einer Drehhülse (3) eine vorbereitende "Aufziehbewegung" (auch "Aufziehvorgang" genannt) der Injektionsvorrichtung erfolgen, die die Menge von Substanz bestimmt, die dann abgegeben werden kann.
Erfindungsgemäß ist ein Begrenzungsmechanismus mit einem Sperrelement (5) vorgesehen, mit welchem die Aufziehbewegung der Injektionsvorrichtung begrenzt oder blockiert werden kann, um sicherzustellen, dass keine Dosis aufgezogen werden kann, welche nicht mehr aus der Injektionsvorrichtung oder der Ampulle abgegeben werden kann (Absätze [0019]-[0020]; Figuren 2A-2H). Somit kann das Risiko einer Fehlbedienung bei der Einstellung und Abgabe der Dosis verringert werden (Absatz [0007]).
2. Hauptantrag - Erweiterung des Gegenstandes
2.1 Unter "Inhalt" im Sinne von Artikel 76(1) EPÜ ist der gesamte technische Inhalt der früheren Anmeldung zu verstehen (G 1/05 vom 28. Juni 2007, Nr. 9.2 der Gründe). Gemäß Artikel 76(1) EPÜ wird nicht verlangt, dass Anspruch 1 gemäß Hauptantrag unbedingt die Merkmale der unabhängigen Ansprüche der Stammanmeldung enthält. Festzustellen ist, ob sich der Gegenstand von Anspruch 1 unmittelbar und eindeutig aus der gesamten Offenbarung der Stammanmeldung in der ursprünglichen Fassung ableiten lässt, wie sie sich aus einer Gesamtbetrachtung nicht nur der Ansprüche, sondern auch der Beschreibung und der Zeichnungen ergibt.
Während die Ansprüche der Stammanmeldung eine besondere Ausgestaltung einer Gewindestange mit einer Rückdrehsicherung betreffen, bezieht sich Anspruch 1 gemäß Hauptantrag unstreitig vielmehr auf ein davon getrenntes Ausführungsbeispiel einer Injektions-vorrichtung, das ab Seite 9, dritter Absatz der Beschreibung offenbart ist. Zentral in dieser Injektionsvorrichtung ist der Begrenzungsmechanismus, mit welchem die Aufziehbewegung begrenzt oder blockiert werden kann.
2.2 Wie aus der Beschreibung von Seite 9, dritter Absatz bis Seite 11, erster Absatz hervorgeht, beruht dieser Begrenzungsmechanismus auf einer spezifischen Interaktion zwischen Gehäuseteil, Gewindestange, Drehhülse und Sperrelement. Mehrere Merkmale des Begrenzungsmechanismus sind schon in Anspruch 1 definiert, insbesondere dass das Sperrelement ein Außengewinde aufweist, das in einem Innengewinde der Drehhülse eingreift, und dass das Sperrelement verschiebbar und verdrehgesichert auf der Gewindestange gelagert ist. Nach Auffassung der Kammer sind jedoch die folgenden weiteren Merkmale des Begrenzungs-mechanismus untrennbar mit den beanspruchten Merkmalen verbunden:
i) die Aufziehbewegung der Injektionsvorrichtung erfolgt durch Drehung der Drehhülse
Während eine Herausdrehbewegung der Drehhülse tatsächlich nur als Beispiel einer Aufziehbewegung in der Stammanmeldung offenbart ist (Seite 12, Zeile 2: "z.B. durch ein Herausschrauben"), wie die Beschwerdegegnerin argumentierte, lässt sich aus dem Wortlaut von Anspruch 1 jedoch kein technischer Zusammenhang zwischen der Aufziehbewegung der Injektionsvorrichtung und einer Drehung der Drehhülse ableiten, was in der Beschreibung der Stammanmeldung jedoch als zwingend offenbart wird (Seite 12, Zeilen 1-4: "durch Drehung der Drehhülse (...) aufgezogen").
ii) während einer Aufziehbewegung ist die Gewindestange drehsicher in der Injektionsvorrichtung gehalten
Es ist richtig, dass die erste Rückdrehsicherung in der Stammanmeldung nur beispielsweise, also optional, offenbart wird (Seiten 9 und 10 überbrückender Satz: "z.B. mittels einer ersten Verdreh- oder Rückdrehsicherung"; Seite 10, Zeile 19: "z.B. durch eine erste Verdrehsicherung").
Eine verdrehgesicherte Lagerung der Gewindestange während einer Aufziehbewegung, d. h. während der Drehung der Drehhülse, ist allerdings (ungeachtet ihrer technischen Realisierung, möglicherweise mittels einer ersten Rückdrehsicherung) notwendig, damit, wie offenbart, das innerhalb der Drehhülse geschraubte Sperrelement (angesichts des weiteren Merkmals von Anspruch 1, wonach das Sperrelement verdrehgesichert auf der Gewindestange gelagert ist) relativ zu der Drehhülse in Richtung einer Anschlagsposition bewegt wird, in welcher das Sperrelement ein weiteres Drehen der Drehhülse verhindern würde (Seite 9, drei letzten Zeilen). Ohne das Merkmal ii) würden sich sonst das Sperrelement und die Gewindestange mit der Drehhülse mitdrehen. Die Formulierung der entsprechenden Textstelle als Konditionalsatz "Ist die Gewindestange (...) verdrehsicher (...) gelagert (...), so kann (...) das Sperrelement (...) eingeschraubt werden" wird lediglich als eine Frage des Schreibstils interpretiert und widerspricht nicht der Folgerung, dass das Merkmal ii) vorhanden sein muss.
iii) wenn die Drehhülse in die Injektionsvorrichtung eingeschraubt wird, dreht die Gewindestange zusammen mit der Drehhülse
Es ist zwar richtig, dass auch die zweite Rückdreh-sicherung in der Stammanmeldung nur beispielsweise, also optional, dargestellt wird (Seite 10, Zeilen 10-11: "was z.B. durch eine zweite Verdreh- oder Rückdrehsicherung (...) realisiert werden kann").
Aufgrund der im Anspruch 1 definierten Kopplung zwischen Sperrelement, Drehhülse und Gewindestange kann allerdings während der Substanzabgabe die Relativposition zwischen Sperrelement und Drehhülse nur dann unverändert bleiben, wenn das Merkmal iii) vorhanden ist (Seite 10, Zeilen 7-9: "Wird die Drehhülse wieder in die Injektionsvorrichtung eingeschraubt, so bleibt die Relativposition zwischen Sperrelement und Drehhülse unverändert, wenn sich die Gewindestange zusammen mit der Drehhülse dreht", wobei diese Formulierung als Konditionalsatz wie oben bezüglich des Merkmals ii) interpretiert wird). Dabei ist es ebenso irrelevant, wie das Merkmal iii) technisch realisiert wird (beispielsweise mittels einer zweiten Rückdrehsicherung).
Das Merkmal, wonach während der Substanzabgabe die Relativposition zwischen Sperrelement und Drehhülse unverändert bleibt, ist nämlich notwendig, damit bei jedem neuen Aufziehvorgang das Sperrelement aus seiner Endposition beim letzten Aufziehvorgang in Richtung der Anschlagposition über eine bestimmte Strecke bewegt, die genau der aufgezogenen Dosis entspricht. Nur so kann entsprechend der Offenbarung sichergestellt werden, dass keine Dosis aufgezogen werden kann, welche nicht mehr aus der Injektionsvorrichtung abgegeben werden kann.
2.3 Die Auslassung der erwähnten Merkmale i)-iii) im Anspruch 1 gemäß Hauptantrag führt dazu, dass der beanspruchte Gegenstand eine unzulässige Zwischenverallgemeinerung des in der Stammanmeldung ursprünglich offenbarten Ausführungsbeispiels darstellt. Somit sind die Erfordernisse von Artikel 76(1) EPÜ für den Hauptantrag nicht erfüllt.
3. Hilfsanträge 1-3 - Erweiterung des Gegenstandes
Bei jedem der Hilfsanträge 1-3 fehlt in Anspruch 1 mindestens eines der oben erwähnten Merkmale i)-iii), so dass der jeweilige Anspruch 1 auch eine unzulässige Zwischenverallgemeinerung darstellt. Die Erfordernisse von Artikel 76(1) EPÜ sind daher für die Hilfsanträge 1-3 auch nicht erfüllt.
4. Hilfsantrag 4
4.1 Erweiterung des Gegenstandes
4.1.1 Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 4 enthält jedes der oben erwähnten Merkmale i)-iii).
Die weiteren von der Beschwerdeführerin beanstandeten Merkmale sind entweder im Anspruch 1 implizit enthalten oder nicht mit den beanspruchten Merkmalen untrennbar verknüpft. Das Merkmal, wonach die Gewindestange in der Drehhülse geführt und relativ zur Drehhülse bewegbar ist, ergibt sich bereits aus der spezifischen beanspruchten Anordnung des Sperrelementes mit der Gewindestange und der Drehhülse. Darüber hinaus ist implizit im Anspruch 1 eine Anschlagposition des Sperrelementes (und daher auch ein Anschlagelement für das Sperrelement) enthalten, in der das Sperrelement eine Aufziehbewegung begrenzt oder blockiert. Ferner beeinflusst die Festlegung der Anfangsposition des Sperrelementes den Begrenzungsmechanismus als solchen nicht, sondern stellt lediglich eine Möglichkeit dar, wie eine erfindungsgemäße Injektionsvorrichtung dimensioniert werden kann, um die im Anspruch 1 mit dem Wort "kann" definierte Eignungsanforderung des Mechanismus zu gewährleisten.
Folglich ist, entgegen der Auffassung der Beschwerde-führerin, keine unzulässige Zwischenverallgemeinerung gegenüber dem in der Stammanmeldung ursprünglich offenbarten Ausführungsbeispiel gegeben. Der Gegenstand von Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 4 erfüllt daher die Erfordernisse von Artikel 76(1) EPÜ.
4.1.2 Anspruch 8 gemäß Hilfsantrag 4 definiert ein Einstellverfahren einer Injektionsvorrichtung nach Anspruch 1. Somit erfüllt auch der Gegenstand von Anspruch 8 gemäß Hilfsantrag 4 die Erfordernisse von Artikel 76(1) EPÜ.
4.2 Erfinderische Tätigkeit
Der Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit ausgehend von S6, den die Beschwerdeführerin gegen Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 4 geltend gemacht hat, überzeugt die Kammer nicht.
Die Merkmale von Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 4, wonach die Drehhülse aus der Injektionsvorrichtung zum Aufziehen der Injektionsvorrichtung herausgedreht werden kann und das Sperrelement ein Außengewinde aufweist, welches in ein Innengewinde der Drehhülse eingreift, schließen die Interpretation der Beschwerdeführerin aus, dass in dem Begrenzungs-mechanismus von S6 die Hülse 60 bzw. die Mutter 64 als Sperrelement bzw. Drehhülse identifiziert werden kann. Vielmehr würde der Fachmann, wie von der Beschwerde-gegnerin argumentiert, die Dosiswahlhülse 50 bzw. die Mutter 64 als Drehhülse bzw. Sperrelement betrachten.
Die Mutter 64 ist allerdings verschiebbar und verdrehsicher mit der Dosiswahlhülse 50 verbunden (S6, Seite 9, erster Absatz). Um von diesem Mechanismus zu einem Mechanismus gemäß Anspruch 1 zu gelangen, in welchem das Sperrelement innerhalb der Drehhülse geschraubt wird, würden umfangreiche bauliche Änderungen erforderlich sein, die der Fachmann ohne Vorkenntnis der vorliegenden Erfindung nicht in Betracht ziehen würde.
Die Kammer kommt daher zu dem Schluss, dass ausgehend von S6 der Gegenstand von Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 4 auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne von Artikel 56 EPÜ beruht.
5. Hilfsantrag 4 - Ausreichende Offenbarung
Die Einwände der Beschwerdeführerin zur fehlenden Ausführbarkeit, die gegen den Hauptantrag erhoben wurden, gelten ebenso für den Hilfsantrag 4. Sie wurden daher bei der Beurteilung der Ausführbarkeit des beanspruchten Gegenstandes gemäß Hilfsantrag 4 berücksichtigt.
Diese Einwände überzeugen die Kammer allerdings nicht. Wie von der Beschwerdegegnerin argumentiert, betreffen sie vielmehr die Frage der Klarheit, die jedoch keinen Einspruchsgrund darstellt. Darüber hinaus sieht die Kammer bezüglich Anspruch 3 auch keinen Widerspruch mit der Beschreibung, da im vorliegenden Fall die deutsche Fassung der Ansprüche maßgeblich ist, und nicht deren englische Übersetzung, auf der die Beschwerdeführerin sich gestützt hat.
Nach Auffassung der Kammer findet der Fachmann in der Beschreibung eine detaillierte und vollständige Beschreibung mindestens eines Ausführungsbeispiels einer erfindungsgemäßen Injektionsvorrichtung und eines entsprechenden Einstellverfahrens gemäß Hilfsantrag 4. Die Erfindung ist somit ausreichend deutlich und vollständig offenbart, so dass ein Fachmann sie ausführen kann. Die Erfordernisse von Artikel 83 EPÜ sind für den Hilfsantrag 4 daher erfüllt.
6. Hilfsantrag 4 - Angepasste Beschreibung
Keine der Beteiligten erhob Einwände gegen die an die Ansprüche gemäß Hilfsantrag 4 angepasste Beschreibung. Auch die Kammer hatte keine.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung mit der Anordnung zurückverwiesen, ein Patent in geändertem Umfang mit folgender Fassung aufrechtzuerhalten:
- Ansprüche 1-8 gemäß Hilfsantrag 4, eingereicht mit Schreiben vom 21. April 2017,
- Spalten 1-18 sowie Ergänzungsseite 2a der Beschreibung, eingereicht während der mündlichen Verhandlung am 31. August 2021 vor der Beschwerdekammer,
- Figuren 1A-4C der Patentschrift.