T 1141/18 13-12-2022
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VERFAHREN ZUR ÜBERPRÜFUNG DER VALIDITÄT VON REAKTIONEN EINER PERSON
Änderungen - Erweiterung über den Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung hinaus (nein)
Patentansprüche - Deutlichkeit (ja)
Ausnahmen von der Patentierbarkeit - Diagnostizierverfahren
Ausnahmen von der Patentierbarkeit - (nein)
Zurückverweisung - besondere Gründe für Zurückverweisung
Zurückverweisung - (ja)
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerdeführerin (Anmelderin) legte Beschwerde gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung ein, ihre Patentanmeldung zurückzuweisen.
II. Die Prüfungsabteilung hatte ihre Entscheidung damit begründet, dass die Verfahren gemäß Ansprüchen 1 bis 10 des damaligen einzigen Antrags am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommene Diagnostizierverfahren darstellten, die gemäß Artikel 53 c) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgenommen seien.
Zudem hatte die Prüfungsabteilung in einem Obiter Dictum festgestellt, dass die Gegenstände der Ansprüche 1 bzw. 8 und 9 nicht die Erfordernisse der Artikel 84 bzw. 123 (2) EPÜ erfüllten.
III. Die Beschwerdeführerin reichte mit dem Schriftsatz vom 14. November 2022 geänderte Anmeldungsunterlagen, nämlich geänderte Ansprüche 1 bis 8 und eine geänderte Beschreibung, ein und beantragte, die Angelegenheit an die Prüfungsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückzuverweisen.
IV. Die geänderten Ansprüche 1 und 8 lauten wie folgt (Änderungen gegenüber den ursprünglich eingereichten Ansprüchen 1 und 10 von der Kammer hervorgehoben):
"1. Verfahren zur [deleted: Überprüfung der Validität] Prüfung der Echtheit der von einem Probanden erzielten Reaktion[deleted: en]szeit [deleted: von Probanden], dadurch gekennzeichnet, dass dem Probanden ein Stimulus unter Ableitung von evozierten Potenzialen aus den Hirnstromkurven oder unter Darstellung der Hirnareale mittels funktionellen Bildgebungsverfahren demonstriert wird und dem Probanden eine Reaktionszeitaufgabe gestellt und die Reaktionszeit unter Ableitung der Bereitschafts-potenziale [deleted: und/oder der ereigniskorrelierten Potenziale (ERP) und/oder der Komponenten der ERP und/oder der ereigniskorrelierten Desynchronisation (ERD) der Hirnstromkurve und/oder der Darstellung der Hirnareale mittels funktioneller Bildgebungsverfahren] gemessen wird, wobei über die Ableitung der evozierten Potentiale aus der Hirnstromkurve oder Darstellung der Aktivitäten der Hirnareale mittels funktioneller Bildgebungsverfahren zunächst überprüft wird, ob der Stimulus in das Bewusstsein gelangt ist und wobei die Auswertung derart erfolgt, dass die Absolutwerte der Reaktionszeiten und deren Varianzen in Bezug zu den Bereitschaftspotenzialen gesetzt werden und die Bereitschaftspotenziale mit den aus anderen Untersuchungen bekannten Werten abgeglichen werden."
"8[deleted: 10]. Verwendung des Verfahrens nach einem der Ansprüche 1 bis 7[deleted: 9] zur Bewertung der Anstrengungs-bereitschaft [deleted: und Beschwerdevalidität] von Probanden in testpsychologischen Untersuchungen im entschädigungs-relevanten Kontext."
Entscheidungsgründe
1. Unzulässige Erweiterung (Artikel 123(2) EPÜ)
1.1 Der geänderte Anspruch 1 besteht aus der Kombination der ursprünglich eingereichten Ansprüche 1, 5 und 7 mit den folgenden Änderungen.
1.1.1 Die Alternativen (siehe die Ausdrücke "und/oder" in den ursprünglichen Ansprüchen 1, 5 und 7), bei denen die "ereigniskorrelierten Potenziale (ERP)", die "Komponenten der ERP", die "ereigniskorrelierte Desynchronisation (ERD)" oder die "Darstellung(en) der Hirnareale mittels funktioneller Bildgebungsverfahren" statt den Bereitschaftspotenzialen verwendet werden, wurden gestrichen. Dadurch entsteht keine Erweiterung des ursprünglich beanspruchten Gegenstands.
1.1.2 Außerdem wurde das Merkmal hinzugefügt, nach dem "über die Ableitung der evozierten Potentiale aus der Hirnstromkurve oder Darstellung der Aktivitäten der Hirnareale mittels funktioneller Bildgebungsverfahren zunächst überprüft wird, ob der Stimulus in das Bewusstsein gelangt ist". Diese Änderung wird durch Absatz [0021] in Kombination mit Absatz [0014] der ursprünglich eingereichten Beschreibung gestützt.
1.1.3 Darüber hinaus wurde der Wortlaut "Verfahren zur Überprüfung der Validität von Reaktionen von Probanden" in "Verfahren zur Prüfung der Echtheit der von einem Probanden erzielten Reaktionszeit" geändert. Diese Änderung beschränkt die Überprüfung der Validität von Reaktionen von Probanden auf die Prüfung der Echtheit der von ihnen erzielten Reaktionszeiten, wie z. B. in Absatz [0031] der ursprünglichen Beschreibung explizit offenbart ("Das erfindungsgemäße Verfahren sieht vor, von Probanden erzielte Reaktionszeiten (...) hinsichtlich ihrer Echtheit zu prüfen").
1.2 Die geänderten Ansprüche 2 bis 8 entsprechen jeweils den ursprünglich eingereichten Ansprüchen 2 bis 4, 6, 8 bis 10 mit den folgenden Änderungen.
Der Anspruch 4 wurde an die im Anspruch 1 gestrichenen Verweise angepasst.
Zudem wurden im geänderten Anspruch 8 die Wörter "und Beschwerdevalidität" gestrichen. Diese Änderung beschränkt die Verwendung des Verfahrens und somit auch den Gegenstand des Anspruchs 8.
1.3 Die Beschreibung wurde an die geänderten Ansprüche angepasst, insbesondere an die im Punkt 1.1.3 oben erwähnte Beschränkung.
1.4 Im Obiter Dictum erhob die Prüfungsabteilung Einwände nach Artikel 123 (2) EPÜ nur gegen die Ansprüche 8 und 9, die der angefochtenen Entscheidung zugrunde lagen (Punkte 3 bis 3.3 der Entscheidung).
Diese Ansprüche wurden im geänderten Anspruchsatz nicht übernommen. Der Gegenstand des Anspruchs 8 wurde zwar in den geänderten Anspruch 1 eingefügt (siehe Punkt 1.1.2 oben), allerdings zusammen mit dem spezifischeren Merkmal "über die Ableitung der evozierten Potenziale aus der Hirnstromkurve oder Darstellung der Aktivität der Hirnareale mittels funktioneller Bildgebungs-verfahren" aus Absatz [0014], das die Prüfungsabteilung als damit untrennbar verknüpft betrachtet hatte (Punkt 3.1 der Entscheidung).
Somit wurden die im Obiter Dictum von der Prüfungs-abteilung erhobenen Einwände nach Artikel 123 (2) EPÜ durch die geänderten Ansprüche überwunden.
1.5 Die geänderten Anmeldungsunterlagen erfüllen daher die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ.
2. Deutlichkeit (Artikel 84 EPÜ)
Im Obiter Dictum (Punkt 4.1 der Entscheidung) beanstandete die Prüfungsabteilung auch, dass die folgenden Merkmale wesentlich für die Erfindung seien, im damaligen Anspruch 1 allerdings nicht definiert waren:
- die Überprüfung, ob der Stimulus ins Bewusstsein des Probanden gelangt ist, und
- die obligatorische Verwendung von Bereitschafts-potentialen, die wegen der Verwendung des Ausdrucks "oder" im Anspruch 1 lediglich als eine mögliche Alternative darstellte.
Wie in Punkten 1.1.1 und 1.1.2 oben ausgeführt, definiert der geänderte Anspruch 1 diese Merkmale. Der einzige von der Prüfungsabteilung erhobene Einwand nach Artikel 84 EPÜ wurde somit überwunden.
3. Ausschluss von der Patentierbarkeit (Artikel 53 c) EPÜ)
3.1 Der Einwand nach Artikel 53 c) EPÜ, auf den sich die Zurückweisung der Anmeldung stützte, beruht auf der Feststellung der Prüfungsabteilung, dass die beanspruchten Verfahren alle erforderlichen Verfahrens-schritte umfassten, die die Große Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung G 1/04 als maßgeblich für Diagnostizierverfahren im Sinne von Artikel 53 c) EPÜ genannt hat.
Insbesondere stelle die "Überprüfung der Validität von Reaktionen" eines Probanden, die sich aus dem Wortlaut des damaligen Anspruchs 1 als Schritt des beanspruchten Verfahrens ergibt, selbst eine deduktive medizinische Diagnoseentscheidung, d. h. das Stellen einer medizinischen Diagnose im Sinne von G 1/04, dar. Das Ziel dieser Überprüfung sei nämlich, wie in Punkten 1.4.1.1 bis 1.4.2 der angefochtenen Entscheidung argumentiert, die Bestätigung oder Widerlegung einer zuvor von dem Probanden behaupteten psychischen Gesundheitsstörung (wie z. B. einer Hirnfunktions-störung), mit anderen Worten die Verfeinerung einer zuvor gestellten Diagnose.
3.2 Wie im Punkt 1.1.3 oben ausgeführt, wurde dieser Wortlaut im geänderten Anspruch 1 in "Verfahren zur Prüfung der Echtheit der von einem Probanden erzielten Reaktionszeit" geändert.
Somit wird mit dem Verfahren nach dem geänderten Anspruch 1 lediglich geprüft, ob die von einem Probanden erzielte Reaktionszeit "echt" ist, nämlich, ob der Proband seine Reaktion nicht bewusst verzögert und somit verfälscht hat. Diese Prüfung findet unabhängig von jeglicher diagnostischen Beurteilung der Reaktionszeit statt und ihr Ergebnis ist auch keine Diagnose im strengen Sinne gemäß G 1/04.
3.3 Die weiteren Ansprüche 2 bis 8 umfassen ebenfalls keinen Verfahrensschritt, der eine medizinische Diagnoseentscheidung beinhalten würde.
Insbesondere bezieht sich der geänderte Anspruch 8, mit dem Streichen der Wörter "und Beschwerdevalidität", lediglich auf die Verwendung des Verfahrens nach einem der vorherigen Ansprüchen "zur Bewertung der Anstrengungsbereitschaft von Probanden in test-psychologischen Untersuchungen im entschädigungs-relevanten Kontext". Eine solche Verwendung schließt auch keine Diagnose im Sinne von G 1/04 ein.
3.4 Die Kammer kommt daher zu der Schlussfolgerung, dass die Gegenstände der mit dem Schriftsatz vom 14. November 2022 eingereichten geänderten Ansprüche nicht gemäß Artikel 53 c) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgenommen sind.
4. Zurückverweisung an die Prüfungsabteilung
Die in der angefochtenen Entscheidung erhobenen Einwände wurden von der Kammer im Hinblick auf die entsprechenden Erfordernisse des EPÜ geprüft. Die Prüfungsabteilung hat sich jedoch nicht mit den anderen Erfordernissen des EPÜ befasst, insbesondere nicht mit denen der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit.
Aus diesem Grund und im Hinblick auf das vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens, die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen (Artikel 12 (2) VOBK 2020), ist die Kammer der Ansicht, dass besondere Gründe im Sinne von Artikel 11 VOBK 2020 vorliegen, um die Sache zur weiteren Entscheidung gemäß Artikel 111 (1) EPÜ an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen, wie es auch die Beschwerdeführerin beantragte.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Prüfungsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.