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T 0129/88 (Faser) 10-02-1992
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1. Das Europäische Patentamt ist zwar nach Artikel 114 (1) EPU verpflichtet, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln, diese Verpflichtung geht aber nicht bis zur Prüfung einer behaupteten offenkundigen Vorbenutzung, wenn die Partei, die diese Behauptung zu einem früheren Zeitpunkt aufgestellt hat, aus dem Verfahren ausgeschieden ist und alle maßgeblichen Tatsachen ohne ihre Mitwirkung schwer zu ermitteln sind.
2. Die Aufnahme von Merkmalen in die Ansprüche, die durch über eine bestimmte Untergrenze hinausgehende günstige Eigenschaften gekennzeichnet sind, ist an sich nicht zu beanstanden. Der Umfang eines Anspruchs kann insbesondere dann ausreichend definiert sein, wenn mittels mehrerer auf diese Weise ausgedrückter Parameter der Gesamtheit der im Anspruch angegebenen Merkmale praktische Obergrenzen gesetzt werden (im Anschluß an die in ABl. EPA nicht veröffentlichte Entscheidung T 487/89 vom 17. Juli 1991).
3. Die Aufnahme eines oder mehrerer Verfahrensmerkmale in einen Erzeugnisanspruch kann zulässig sein, wenn sie sich im Hinblick auf die Erfordernisse des nationalen Rechts eines oder mehrerer Vertragsstaaten empfiehlt (in Erläuterung und Anwendung der Entscheidung T 150/82, ABl. EPA 1984, 309).
Beschränkte Amtsermittlungspflicht des EPA
Klarheit der Ansprüche
I. Am 23. März 1983 wurde auf die Anmeldung Nr. 80 200 517.3, die am 3. Juni 1980 unter Inanspruchnahme der Priorität der niederländischen Anmeldung Nr. 7 904 496 vom 8. Juni 1979 eingereicht worden war, das europäische Patent Nr. 021 485 erteilt. Die unabhängigen Ansprüche 1 und 4 lauteten wie folgt:
"1. Faser aus einem Polyamid, das mehr als 95 Mol-% Poly-p- phenylenterephtalamid enthält und eine Eigenviskosität von mindestens 2,5 aufweist, wobei die Faser eine Festigkeit von mindestens 10 cN/dtex, eine Bruchdehnung von mindestens 2,7 % und einen Anfangsmodul von mindestens 300 cN/dtex besitzt, dadurch gekennzeichnet, daß die Faser einen Wärmeempfindlichkeitsindex von nicht größer als 12 hat.
4. Fadenbündel, gebildet aus Endlosfilamenten der Faser gemäß einem oder mehreren der vorangehenden Ansprüche, dadurch gekennzeichnet, daß ein aus diesen Filamenten gebildeter symmetrischer Cord eine Cordeffizienz von mindestens 75 % aufweist, wenn der Cord einen Drehungsfaktor von 16 500 hat und die Oberfläche des Cords mit einem Haftstoff versehen ist".
Es folgten die abhängigen Ansprüche 2 und 3 bzw. 5 bis 9 sowie ein formal unabhängiger Anspruch 10, der sich auf einen aus Fadenbündeln gemäß den vorstehenden Ansprüchen hergestellten Cord bezog.
II. Am 22. Dezember 1983 legte die Beschwerdegegnerin unter Hinweis auf Artikel 100 a) EPU Einspruch ein und machte geltend, daß das Patent den Erfordernissen der Artikel 52 bis 57 EPU nicht genüge. Sie berief sich dabei insbesondere auf eine angebliche offenkundige Vorbenutzung bestimmter genau bezeichneter Aramidgarne ihrerseits, die nach ihrer Aussage alle Merkmale des Anspruchs 1 in der erteilten Fassung aufwiesen.
Nach Einreichung ihrer Einspruchsbegründung führte die Beschwerdegegnerin in einem Schreiben vom 28. Mai 1984 (S. 3) noch weitere, in der Einspruchsbegründung selbst nicht genannte Fälle einer angeblichen offenkundigen Vorbenutzung an und legte hierfür mehrere Zeugenaussagen vor.
III. Außerdem focht die Beschwerdegegnerin unter Vorlage mehrerer Dokumente die Neuheit und/oder die erfinderische Tätigkeit an und verwies dabei insbesondere auf die Druckschriften
(2) DE-B-2 219 703 und
(9) JP-A-18612/71.
In bezug auf das Dokument 2 machte sie geltend, daß man durch Nacharbeiten des darin enthaltenen Beispiels 2A eine Faser erhalte, die unter den Schutzbereich der Ansprüche des Streitpatents falle.
IV. Das ebenfalls vorgebrachte Argument, daß die Ansprüche - zumindest nach den Kriterien der deutschen Rechtsvorschriften - nicht hinreichend definiert seien, versuchte die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) am 25. September 1987 durch Einführung eines neuen Anspruchs 2 zu entkräften, der wie folgt lautete:
"2. Faser aus einem Polyamid, das mehr als 95 Mol-% Poly-p- phenylenterephtalamid enthält und eine Eigenviskosität von mindestens 2,5 aufweist, wobei die Faser eine Festigkeit von mindestens 10 cN/dtex, eine Bruchdehnung von mindestens 2,7 % und einen Anfangsmodul von mindestens 300 cN/dtex besitzt, dadurch gekennzeichnet, daß die Faser einen Wärmeempfindlichkeitsindex von nicht größer als 12 hat und in einem aus mehreren Schritten bestehenden Spinnverfahren erhältlich ist, in dem bei einer Temperatur von 20 ° - 120 °C eine Spinnmasse aus einer Mischung aus konzentrierter Schwefelsäure mit einer Stärke von mindestens 96 Gew.-% und, bezogen auf das Gewicht der Mischung, mindestens 15 Gew.-% Polyamid mit einer Eigenviskosität von mindestens 2,5 versponnen wird, indem die Spinnmasse aus einer Spinndüsenplatte, deren Ausflußseite in einem gasförmigen inerten Medium und knapp oberhalb der Flüssigkeitsoberfläche des Koagulationsbads angeordnet ist, nach unten in das Koagulationsbad extrudiert wird, wobei die Spinnmasse in aufeinanderfolgenden Verfahrensschritten in der Weise hergestellt wird, daß konzentrierte Schwefelsäure unter ihren Verfestigungspunkt abgekühlt wird, die so gekühlte Schwefelsäure mit dem Polyamid zusammengebracht und zu einer Feststoffmischung vermischt wird, die dann auf Spinntemperatur erwärmt wird".
An diesen Anspruch sollten sich die Ansprüche 3 bis 11 anschließen, die den erteilten Ansprüchen 2 bis 10 entsprachen. Die Beschwerdeführerin räumte zwar ein, daß der Umfang des Anspruchs 1 durch die zusätzlichen Verfahrensmerkmale in Anspruch 2 nicht geändert werde, machte jedoch geltend, daß solche Verfahrensmerkmale in Deutschland wesentlich sein könnten, da dort durch bloße Desiderate definierte Ansprüche als ungültig angesehen werden könnten.
V. In ihrer Entscheidung, die am 24. November 1987 mündlich verkündet wurde und am 15. Januar 1988 schriftlich erging, widerrief die Einspruchsabteilung das Patent mit der Begründung, daß der vorgeschlagene geänderte Anspruch 2 in Anbetracht der von der Beschwerdekammer in der früheren Sache T 150/82, ABl. EPA 1984, 309, vertretenen Auffassung nicht gewährbar sei, da der Umfang des Anspruchs 2 sich durch die zusätzlich aufgenommenen Merkmale gegenüber dem des Anspruchs 1 in keiner Weise geändert habe. Dem Anspruch 1 sprach sie aufgrund der behaupteten offenkundigen Vorbenutzung, die sie für hinreichend erwiesen hielt, die Neuheit ab. Zugleich befand sie, daß das ebenfalls gegen die Neuheit vorgebrachte Alternativargument zurückzuweisen sei, da die Beschwerdegegnerin nicht überzeugend nachweisen konnte, daß das Erzeugnis gemäß Beispiel 2A des Dokuments 2 alle Merkmale des Erzeugnisses gemäß dem angefochtenen Anspruch 1 besitze.
VI. Gegen diese Entscheidung wurde am 18. März 1988 unter gleichzeitiger Entrichtung der Beschwerdegebühr Beschwerde eingelegt. In ihrer Beschwerdeschrift focht die Beschwerdeführerin die Feststellung einer offenkundigen Vorbenutzung an; sie beantragte, die Beschwerdegegnerin zur Vorlage eines Musters des von einem ihrer Zeugen getesteten Garns aufzufordern, und stellte ferner einen Antrag auf mündliche Vernehmung der Mehrzahl der Zeugen, deren schriftliche Aussage die Einspruchsabteilung berücksichtigt hatte, um zu der Feststellung zu gelangen, daß eine offenkundige Vorbenutzung vorliege.
VII. Mit Schreiben vom 18. Mai 1988 nahm die Beschwerdegegnerin ihren Einspruch zurück.
VIII. Die Beschwerdebegründung, in der die Beschwerdeführerin unter anderem die Richtigkeit der Feststellung einer offenkundigen Vorbenutzung in Abrede stellte, wurde am 25. Mai 1988, d. h. nach der Rücknahme des Einspruchs, eingereicht. Die Beschwerdeführerin beanstandete die Vorgehensweise der Einspruchsabteilung und machte geltend, daß diese die schriftliche Aussage der Zeugen nicht als Beweis hätte akzeptieren dürfen.
IX. Zusammen mit der Beschwerdebegründung reichte die Beschwerdeführerin einen auf die am 25. September 1987 eingereichten Ansprüche gerichteten Hauptantrag sowie drei Hilfsanträge für die Ansprüche in der erteilten Fassung und einige weitere Varianten der Ansprüche ein. Im Verlauf einer telefonischen Rücksprache am 25. September 1991 äußerte die Kammer Zweifel an der Gewährbarkeit sowohl des Anspruchs 1 als auch des Anspruchs 2 in der vorstehend wiedergegebenen Form, forderte die Beschwerdeführerin jedoch auf, den neuen Anspruch 2 nicht als zusätzlichen Anspruch, sondern anstelle des Anspruchs 1 aufzunehmen. Mit Schreiben vom 7. Oktober 1991 stellte die Beschwerdeführerin einen einzigen Antrag in diesem Sinne.
X. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufrechterhaltung des Patents in der in ihrem Schreiben vom 7. Oktober 1991 angegebenen Form. Die Beschwerdegegnerin, die ihren Einspruch zurückgenommen hatte, beteiligte sich nicht weiter am Beschwerdeverfahren.
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 sowie Regel 64 EPU; sie ist somit zulässig.
2. Zulässigkeit der Änderungen
2.1.1 Die Kammer hat sich zunächst der Frage zugewandt, ob der vorliegende Anspruch in der geänderten Fassung für die Zwecke des Artikels 84 EPU hinreichend klar wäre, und ist davon ausgegangen, daß ein Anspruch unter bestimmten Umständen zu beanstanden sein kann, wenn die Erfindung nur durch Wunschmerkmale gekennzeichnet wird. Allerdings können, wie die Kammer in ihrer früheren (in ABl. EPA nicht veröffentlichten) Entscheidung T 487/89 vom
17. Juli 1991 festgehalten hat, auch Umstände vorliegen, unter denen der Umfang eines Anspruchs durch die Präsenz anderer Merkmale ausreichend eingeschränkt wird, durch die den als "Desiderate" ausgedrückten, in einer Richtung offenen Merkmalen praktische Grenzen gesetzt werden. Ob ein in Gestalt von "Desideraten" ausgedrückter Anspruch ausreichend definiert ist, muß nach Sachlage in jedem Einzelfall entschieden werden.
2.1.2 Im vorstehend erwähnten Verfahren hatte die Kammer folgendes festgestellt:
"3.5 Die zweite, auf eine unzureichende Definition abzielende Beanstandung basierte darauf, daß sowohl die Festigkeit als auch die Zähigkeit ... zwar mit einem unteren Grenzwert, aber ohne irgendeinen oberen Grenzwert angegeben worden waren. Die Einspruchsabteilung vertrat die Ansicht, daß solche "in einer Richtung offenen" Parameter stets zu beanstanden seien, wenn sie sich auf ein reines Wunschmerkmal beziehen. Die Kammer kann sich dieser Aussage nicht uneingeschränkt anschließen. Ob das Fehlen einer Ober- oder Untergrenze in einem Anspruch im Einzelfall akzeptiert werden kann, hängt von allen sonstigen Begleitumständen ab. Wenn der Anspruch wie im vorliegenden Fall darauf ausgerichtet ist, Werte abzudecken, die unter Berücksichtigung der übrigen Parameter des Anspruchs so weit als irgend möglich über einem angegebenen Mindestwert liegen sollen, dann sind solche in einer Richtung offenen Parameter in der Regel nicht zu beanstanden."
2.1.3 Im jetzt vorliegenden Fall muß die Kammer allerdings darauf hinweisen, daß zumindest vier der insgesamt sieben im Anspruch aufgeführten Merkmale Desiderate wiedergeben. Dennoch war die Prüfungsabteilung bereit, den Anspruch für die Zwecke des Artikels 84 EPU als ausreichend definiert gelten zu lassen; unter den gegebenen Umständen schließt sich die Kammer dieser Ansicht an.
2.1.4 Ihres Erachtens steht aus technischer Sicht fest, daß ein Anspruch, der durch die Kombination mehrerer wünschenswerter Merkmale gekennzeichnet ist, unter bestimmten Umständen tatsächlich in seinem Umfang beschränkt sein kann. So ist beispielsweise aus der Metallurgie bekannt, daß Härte und Schlagfestigkeit Eigenschaften sind, die normalerweise im umgekehrten Verhältnis zueinander stehen. Eine Zunahme der Härte geht in der Regel mit einer Abnahme der Schlagfestigkeit einher und umgekehrt. Während ein Anspruch für Legierungen bestimmter Zusammensetzung mit einer über einem Mindestwert liegenden Härte als spekulativer Anspruch für Legierungen mit erst noch zu erzielenden Härtegraden beanstandet werden kann, könnte durch Aufnahme eines weiteren in einer Richtung offenen Merkmals, z. B. einer bestimmten Mindestschlagfestigkeit, eine strikte faktische Obergrenze für den Härtewert vorgegeben werden, so daß gegen den Anspruch kein Einwand wegen ungebührender Breite erhoben werden könnte.
2.2.1 Die Zulässigkeit des vorliegenden geänderten Anspruchs 1 hängt auch davon ab, ob es nach dem EPU statthaft ist, in einen Erzeugnisanspruch Verfahrensmerkmale aufzunehmen, die sich offenbar nicht auf den Umfang des Anspruchs auswirken. Mit dieser Änderung will die Beschwerdeführerin einen Einwand, den die Beschwerdegegnerin im Einspruchsverfahren erhoben hatte, ausräumen und den Rechtsbestand des Patents in Deutschland sichern.
2.2.2 In der (vorstehend unter Nr. V angesprochenen) Entscheidung T 150/82, ABl. EPA 1984, 309, hatte die Kammer diesbezüglich festgestellt, daß Product-by-process-Ansprüche nach den Bestimmungen des EPU nicht generell gewährbar sind - eine Ansicht, die die mit dem vorliegenden Fall befaßte Kammer teilt. Die Kammer hatte (unter Nr. 10 ihrer Entscheidung, S. 316) weiter ausgeführt, daß ein Product-by-process-Anspruch "solchen Fällen vorbehalten bleiben muß, in denen das Erzeugnis durch seine Zusammensetzung, seine Struktur oder sonstige nachprüfbare Parameter nicht hinreichend definiert werden kann".
Auch hier sieht sich die Kammer in breitem Konsens mit den Ausführungen in der früheren Sache.
2.2.3 Allerdings geht diese frühere Entscheidung nicht auf die im vorliegenden Fall zu klärende Frage ein, die sich wie folgt formulieren läßt: Enthält das EPU oder seine Ausführungsordnung - für den Fall, daß Ansprüche in einem oder mehreren Vertragsstaaten nicht durch Desiderate gekennzeichnet werden dürfen - eine Bestimmung, die dem EPA die Zulassung eines Product-by-process-Anspruchs verbietet, mit dem dieses Problem umgangen werden soll?
2.2.4 Ausgehend von der vorstehend zitierten Entscheidung T 150/82 kann man sagen, daß sich die Erfindung unter solchen Umständen ohne Bezugnahme auf das Verfahren nicht befriedigend definieren läßt, weil es für das EPA unbefriedigend wäre, dem Anmelder die Aufnahme eines Merkmals zu verwehren, das möglicherweise den Rechtsbestand eines solchen Anspruchs in bestimmten Vertragsstaaten sichern würde. Abgesehen davon hält es die Kammer für wahrscheinlich, daß durch die Einführung verfahrenstechnischer Einschränkungen in den derzeitigen Anspruch 1 bestimmten im Anspruch definierten Merkmalen, die ansonsten in einer Richtung offen wären, praktische Grenzen gesetzt werden. So dürfte die Festigkeit, obwohl sie mit mindestens 10 cN/dtex, aber ohne obere Grenze angegeben ist, durch die verfahrenstechnisch bedingten Einschränkungen praktisch nach oben begrenzt werden. Daher vermag die Kammer keinen triftigen Grund zu erkennen, der unter den vorliegenden Umständen der Aufnahme von Verfahrensmerkmalen entgegenstünde.
2.3 Die Einführung von Verfahrensmerkmalen in den Anspruch 1 stützt sich auf die Offenbarung auf Seite 1, Zeilen 1 bis 17 sowie Seite 5, Zeile 34 bis Seite 6, Zeile 1 der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung, die in der Patentschrift den Ausführungen auf Seite 2, Zeilen 5 bis 11 und Seite 3, Zeilen 56 bis 60 entspricht. Wie vorstehend unter Nummer 2.2.4 erläutert, wird dadurch der Umfang des Anspruchs gegenüber dem erteilten Anspruch 1 eingeschränkt. Somit ist die Änderung nach Uberzeugung der Kammer im Hinblick auf Artikel 123 (2) und (3) EPU zulässig.
3. Offenkundige Vorbenutzung
3.1 Eine Beschwerdekammer ist zwar (ebenso wie eine Einspruchsabteilung) nach Artikel 114 (1) EPU verpflichtet, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln, diese Verpflichtung geht aber nicht bis zur Prüfung einer behaupteten offenkundigen Vorbenutzung, wenn die Partei, die diese Behauptung zu einem früheren Zeitpunkt aufgestellt hat, aus dem Verfahren ausgeschieden ist und alle maßgeblichen Tatsachen ohne ihre Mitwirkung schwer zu ermitteln sind.
3.2 Dies liegt darin begründet, daß die Verpflichtung des EPA zur Ermittlung von Amts wegen gemäß Artikel 114 (1) EPU nicht unbeschränkt ist, sondern nur so weit reicht, wie sich der Kosten- und Zeitaufwand rechtfertigen läßt. Keine Stelle des EPA sollte zu viel Zeit oder Mühe für einen einzigen Fall aufwenden, wenn dies zu Lasten ihrer anderen Tätigkeiten geht. Wenn ein an einem Einspruchsverfahren Beteiligter eine Behauptung aufstellt und beispielsweise eine offenkundige Vorbenutzung oder eine frühere mündliche Offenbarung geltend macht, ist häufig nur er im Besitz aller maßgeblichen Beweismittel, die man möglicherweise zur Aufklärung des Falls benötigt. Scheidet dieser Beteiligte dann aus dem Einspruchsverfahren aus und gibt dadurch zu erkennen, daß er am Ausgang des Einspruchs nicht mehr interessiert ist, so sollte das EPA in der Regel aus Gründen der Verfahrensökonomie von weiteren Ermittlungen absehen, obwohl es ihm je nach Land des Wohnsitzes etwaiger Zeugen möglicherweise zu Gebote steht, diese entweder vor dem EPA oder vor dem Gericht eines Vertragsstaates zur Aussage zu zwingen. Die einschlägigen Grundsätze der deutschen Rechtsvorschriften werden in Schulte, Patentgesetz (4. Auflage, Carl Heymanns Verlag), Seite 303, Abschnitt 35, Nummer 9 erörtert. Nach Auffassung der Kammer gelten dieselben Grundsätze auch im europäischen Recht.
3.3 Anders läge der Fall, wenn eine relevante offenkundige Vorbenutzung beispielsweise bereits durch Unterlagen belegt wäre, deren Echtheit außer Zweifel steht, oder der Sachverhalt der behaupteten offenkundigen Vorbenutzung, wie jüngst geschehen (T 629/90 vom 4. April 1991, in ABl. EPA nicht veröffentlicht), vom Beschwerdeführer (Patentinhaber) nicht bestritten würde.
3.4 Daher sieht die Kammer im vorliegenden Fall die Behauptung einer offenkundigen Vorbenutzung als nicht erwiesen an.
4. Neuheit gegenüber den Entgegenhaltungen
4.1 Einen alternativen Angriff auf die Neuheit der Erfindung stützte die Einsprechende auf die Behauptung, daß die Herstellung eines Erzeugnisses nach Beispiel 2A des Dokuments 2 unweigerlich dazu führe, daß dieses Erzeugnis alle Eigenschaften einer gemäß Anspruch 1 des Streitpatents hergestellten Polyamidfaser hätte. Allerdings wurde, wie bereits die Einspruchsabteilung hervorgehoben hat, glaubhaft angezweifelt, daß das Beispiel 2A tatsächlich genau nachgearbeitet wurde. Die Kammer hat die hierzu vorgebrachten Argumente nochmals geprüft und ist nicht davon überzeugt, daß die von der Beschwerdegegnerin vorgenommene angebliche Nacharbeitung tatsächlich eine befriedigende Wiederholung des Beispiels 2A darstellt.
4.2 Abgesehen davon zeigt sich bei den im Streitpatent beschriebenen Vergleichsversuchen (Seite 8, Zeilen 34 bis 65), daß Fasern, die in einem Verfahren hergestellt worden waren, das dem des besagten Beispiels 2A aus dem Dokument 2 sehr ähnelte, deutlich schlechtere Wärmeempfindlichkeitswerte aufwiesen als die erfindungsgemäß hergestellten Fasern. Aufgrund dessen vermag die Kammer hier keinen Neuheitsmangel zu erkennen.
4.3 Da der Einspruch zurückgenommen wurde, sieht die Kammer keinen hinreichenden Grund, der Sache weiter nachzugehen, und schließt sich deshalb in der Frage der Neuheit dem Urteil der Einspruchsabteilung an.
5. Erfinderische Tätigkeit
5.1 Die Argumentation der Beschwerdegegnerin vor der Einspruchsabteilung stützte sich im wesentlichen auf die Behauptung mangelnder Neuheit, wobei sich die Beschwerdegegnerin auf eine offenkundige Vorbenutzung und - alternativ dazu - auf das zwangsläufige Ergebnis einer Nacharbeitung des Beispiels 2A aus dem Dokument 2 berief. Die erfinderische Tätigkeit wurde jedoch auch mit dem Dokument 9 angefochten. Diese Entgegenhaltung offenbart im Zusammenhang mit der Herstellung von Fasern das Vermischen mehrerer fester Polymere mit gefrorenen Lösungsmitteln vor dem Arbeitsgang des Erhitzens und Extrudierens, wobei die Lösungsmittel Wasser, Dimethylsulfoxid, Benzol und mit Phenol gemischtes m-Cresol umfassen (S. 3 und 4 der Ubersetzung).
5.2 Das Dokument 9 betrifft zwar ein Verfahren, das demjenigen der vorliegenden Erfindung ähnelt, nämlich einen Mischvorgang, der bei niedriger Temperatur vor dem Erhitzen der fertigen Mischung und dem Extrudieren einer Faser durchgeführt wird, bezieht sich aber nicht auf Systeme, bei denen Polyamide in Schwefelsäure vorliegen, und geht auch in keiner Weise auf die Aufgabe der vorliegenden Erfindung ein, nämlich einen besonders niedrigen Wärmeempfindlichkeitswert bei solchen Fasern zu erreichen. Eine Gegenüberstellung der im Streitpatent für die erfindungsgemäßen Beispiele angegebenen Wärmeempfindlichkeitswerte und derjenigen der Vergleichsbeispiele II (a) und II (b) zeigt glaubhaft, daß sich die Wärmeempfindlichkeit durch die Erfindung deutlich verbessern läßt.
5.3 Der fachkundige Leser könnte zwar vielleicht aus dem Dokument 9 folgern, daß das dort offenbarte Verfahren auch auf Polyamidfasern - möglicherweise in Gegenwart von Schwefelsäure - anwendbar ist, er findet jedoch keinen Hinweis darauf, daß sich bei Anwendung dieses Verfahrens auf das Polyamid-Schwefelsäure- System ein besonderer Vorteil oder gar der nach dem erfindungsgemäßen Verfahren erzielte ganz spezifische Vorteil einstellen würde. Daher kommt die Kammer nicht zu der Auffassung, daß sich die vorliegende Erfindung in naheliegender Weise aus dieser Entgegenhaltung ergibt, und weist den Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit zurück. Da die vorliegende Beschwerde schon einige Zeit zurückreicht, die Beschwerdegegnerin den Einspruch zurückgenommen hat und die erfinderische Tätigkeit nach Einschätzung der Kammer durch die Entgegenhaltungen nicht ernsthaft in Frage gestellt wird, sieht die Kammer - in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 111 (1) EPU - keine Veranlassung, die Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.
6. Schlußfolgerung
Die Kammer weist alle Angriffe gegen das Patent zurück und gibt dem Hauptantrag der Beschwerdeführerin statt; eine Stellungnahme zu den Hilfsanträgen erübrigt sich damit. Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Streitpatents wird gemäß den Erfordernissen der Artikel 54 und 56 EPU für neu und erfinderisch erachtet; der Anspruch ist daher gewährbar. Die abhängigen Ansprüche 2 bis 10 beziehen sich auf Abwandlungen der in Anspruch 1 definierten Faser bzw. ein Fadenbündel oder einen Cord, die alle aus Fasern bestehen, die unter den Schutzbereich des Anspruchs 1 fallen; allein aus diesem Grund können sie ebenfalls aufrechterhalten werden.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung mit der Auflage zurückverwiesen, das Patent mit den von der Beschwerdeführerin in ihrem Schreiben vom 7. Oktober 1991 eingereichten Ansprüchen und der Beschreibung in der erteilten Fassung mit den im selben Schreiben vorgeschlagenen Änderungen aufrechtzuerhalten.