J 0015/86 (Zurücknahme der Patentanmeldung) 09-10-1987
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1. In der Praxis wird bei der Anwendung des europäischen Patentsystems ein klarer Unterschied zwischen dem passiven Verzicht auf eine europäische Patentanmeldung und ihrer aktiven Zurücknahme gemacht. Im Zweifelsfall muss die Absicht des Patentanmelders im Einzelfall anhand der Sachlage festgestellt werden.
2. Eine schriftliche Erklärung des Anmelders oder seines Vertreters ist im Zusammenhang mit dem gesamten Schriftstück und unter Berücksichtigung der Begleitumstände auszulegen.
3. Eine Zurücknahmeerklärung kann nicht mehr widerrufen werden, wenn die Zurücknahme der Öffentlichkeit bereits im Europäischen Patentblatt bekanntgemacht worden ist (vgl. Rechtsauskunft Nr. 8/80, ABl. EPA 1981, 6, Punkt 2).
4. Spezielle materiellrechtliche Bestimmungen der Vertragsstaaten gehören nicht zu den in diesen Staaten allgemein anerkannten Grundsätzen des Verfahrensrechts im Sinne des Artikels 125 EPÜ.
Zurücknahme der Patentanmeldung (bejaht)
Verzicht (verneint)
Auslegung einer schriftlichen Erklärung
Widerruf (verspäteter) der Zurücknahme der Patentanmedung
Verfahrensgrundsätze (allgemeine)/spez. materiellrechtl. Bestimmungen
Sachverhalt und Anträge
I. Die europäische Patentanmeldung Nr. 82 109 493.5 wurde am 14. Oktober 1982 im Namen der Beschwerdeführerin eingereicht. Am 23. Juli 1984 teilte das EPA mit der Ankündigung der Mitteilung nach Regel 51 (4) und (5) EPÜ mit, daß es die Erteilung eines europäischen Patents beabsichtige. In seiner Bestätigung dieser Ankündigung wies der Vertreter der Beschwerdeführerin darauf hin, daß die Erteilungs- und die Druckkostengebühr bereits entrichtet worden seien.
II. Mit Bescheid vom 13. Dezember 1984 teilte die Prüfungsabteilung des Europäischen Patentamts dem Vertreter der Beschwerdeführerin die Entscheidung zur Erteilung eines europäischen Patents mit.
III. Am 31. Dezember 1984 ging beim EPA ein vom 28. Dezember 1984 datiertes Schreiben des Vertreters der Beschwerdeführerin ein, dessen Hauptteil aus drei aufeinanderfolgenden Sätzen bestand: "Hiermit teilen wir Ihnen mit, daß die Anmelderin an dem obengenannten europäischen Patent nicht mehr interessiert ist und beschlossen hat, darauf zu verzichten. Ich bitte Sie, im Zusammenhang mit dem obengenannten Patent keine weiteren Schritte zu unternehmen und mir zu bestätigen, daß die Sache zurückgenommen wird. Ich bitte Sie ferner, mir mitzuteilen, ob eine Rückzahlung der bereits entrichteten Gebühren, eventuell der kürzlich gezahlten Erteilungs- und Druckkostengebühr, möglich ist."
IV. Mit Schreiben vom 21. Januar 1985 teilte das Amt dem Vertreter der Beschwerdeführerin mit, daß eine Rückzahlung der Erteilungs- und der Druckkostengebühr nicht möglich sei, weil die technischen Vorbereitungen für die Erteilung des europäischen Patents bereits abgeschlossen seien. Im Anschluß daran bestellte die Beschwerdeführerin einen neuen Vertreter, der in einem Schreiben vom 29. März 1985 behauptete, die Erklärungen im Schreiben des früheren Vertreters seien vom EPA falsch ausgelegt worden; er focht die Bestätigung der Zurücknahme der europäischen Patentanmeldung an und beantragte eine Erklärung des EPA, daß die Patentanmeldung noch in Kraft sei. Inzwischen war der Öffentlichkeit am 20. März 1985 im Europäischen Patentblatt Nr. 12/85 bekanntgemacht worden, daß die europäische Patentanmeldung zurückgenommen worden sei.
V. Am 28. November 1985 traf der Leiter der Formalprüfungsstelle der Generaldirektion 2 eine Entscheidung, in der er die Auffassung vertrat, daß die Zurücknahmeerklärung am 31. Dezember 1984 wirksam geworden und die europäische Patentanmeldung deshalb seit diesem Tag zurückgenommen sei. Dementsprechend werde der Antrag der Beschwerdeführerin zurückgewiesen.
VI. Am 21. Januar 1986 wurde gegen die Entscheidung Beschwerde eingelegt und die entsprechende Gebühr entrichtet. In der am 27. März 1986 nachgereichten Beschwerdebegründung wurde folgendes vorgebracht:
i) Der "Verzicht" auf eine Anmeldung habe eine ganz andere Bedeutung und Wirkung als die "Zurücknahme". Da in dem Schreiben vom 28. Dezember 1984 beide Ausdrücke verwendet worden seien, sei das Schreiben völlig unklar.
ii) Der Zurücknahmeantrag sei von der Rückzahlung der Erteilungs- und der Druckkostengebühr abhängig gewesen.
iii) Nach den in den Vertragsstaaten allgemein anerkannten Grundsätzen des Verfahrensrechts (Art. 125 EPÜ) müsse eine Absichtserklärung so ausgelegt werden, daß die wahre Absicht des Erklärenden zum Tragen komme. Insbesondere weise die Beschwerdeführerin auf eine Entscheidung des deutschen Bundespatentgerichts hin, in der dieses über einen ähnlich gelagerten Fall zu entscheiden gehabt habe.
iv) Die Beschwerdeführerin habe die europäische Patentanmeldung immer aufrechterhalten wollen. Sie habe ihrem früheren Vertreter lediglich ihre Absicht mitgeteilt, die nationalen Patentrechte, die aus ihrer europäischen Patentanmeldung entstünden, verfallen zu lassen, und zwar erst dann, wenn weitere Kosten entstünden. Dem früheren Vertreter sei demnach ein Fehler unterlaufen, so daß in diesem Falle nach Artikel 125 EPÜ die 120 und 121 des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches zur Anwendung kämen.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 und Regel 64 EPÜ; sie ist somit zulässig.
2. In der Praxis besteht bei der Anwendung des europäischen Patentsystems ein klarer Unterschied zwischen dem passiven Verzicht auf eine europäische Patentanmeldung und ihrer aktiven Zurücknahme. Im Zweifelsfall muß die Absicht des Anmelders im Einzelfall anhand der Sachlage festgestellt werden.
3. Zunächst muß daher das beim EPA am 31. Dezember 1984 eingegangene Schreiben geprüft werden, in dem dem EPA mitgeteilt wurde, daß die Beschwerdeführerin an der Anmeldung "nicht mehr interessiert" sei und "beschlossen [habe], darauf zu verzichten". Diese Erklärung muß im Zusammenhang mit dem gesamten Schreiben und unter Berücksichtigung der Begleitumstände ausgelegt werden. Im zweiten Satz des Schreibens beantragte der Vertreter der Beschwerdeführerin ausdrücklich, das EPA solle "keine weiteren Schritte" unternehmen und bestätigen, daß die Sache zurückgenommen werde. Daran schloß sich ein Antrag auf Rückzahlung der Erteilungs- und der Druckkostengebühr an.
4. Obwohl in dem Schreiben sowohl von Verzicht als auch von Zurücknahme die Rede ist, spricht sein Grundtenor dafür, daß eine Zurücknahme gewünscht wurde. Die Juristische Beschwerdekammer ist daher der Auffassung, daß das Schreiben von der Formalprüfungsstelle richtig ausgelegt worden ist. Außerdem war nach Lage des Falles ein Zeitpunkt erreicht, zu dem ein passiver Verzicht nicht mehr möglich war: Wenn die Anmeldung nicht zurückgenommen würde, mußte sie entweder erteilt oder zurückgewiesen werden. Daher hatte die Formalprüfungsstelle keinerlei Grund zu der Annahme, daß ein "Verzicht" gewünscht wurde, sondern mußte davon ausgehen, daß die Zurücknahme, wie beantragt und auch geschehen, sofort bestätigt werden sollte.
5. Darüber hinaus hat der Vertreter der Beschwerdeführerin auf die Bescheide nicht reagiert, mit denen ihm mitgeteilt wurde, daß eine Rückzahlung der Erteilungs- und der Druckkostengebühr nicht möglich sei, und die Zurücknahme der europäischen Patentanmeldung bestätigt wurde. Somit steht fest, daß zumindest der Vertreter der Ansicht war, seine Absicht sei richtig verstanden worden.
6. Zudem kann billigerweise nicht behauptet werden, daß die Zurücknahme der Patentanmeldung in irgendeiner Weise an die Rückzahlung der bereits entrichteten Gebühren geknüpft war. Der Inhalt des Schreibens erlaubt keine solche Auslegung: "Ich bitte Sie ferner, mir mitzuteilen, ob eine Rückzahlung.... möglich ist."
7. Dieser Fall ist also ganz anders gelagert als der am 25. März 1981 von der Juristischen Beschwerdekammer entschiedene (J 11/1980, ABl. EPA 1981, 141), bei dem es um die Frage ging, ob eine Anmeldung als vorbehaltlos zurückgenommen gelte, wenn die vom Anmelder an die Zurücknahme geknüpfte Bedingung nicht erfüllt werde. In jenem Fall hatte der Beschwerdeführer ganz klar angegeben, er wolle seine Anmeldung unter der nicht unüblichen Voraussetzung zurücknehmen, daß der Inhalt der Anmeldung der Öffentlichkeit nicht bekanntgegeben werde.
8. Aus diesen Gründen kann die Kammer der Behauptung des neuen Vertreters der Beschwerdeführerin nicht zustimmen, daß das Schreiben unklar, an eine Bedingung geknüpft und verwirrend gewesen sei und deshalb nicht als Grundlage für die Zurücknahmefiktion dienen könne. Nach ihrer Auffassung lag eine wirksame Zurücknahme der Anmeldung vor.
9. Nunmehr muß geprüft werden, ob die wirksame Zurücknahme einer europäischen Patentanmeldung mit der Begründung widerrufen werden kann, daß sie versehentlich erfolgt sei. Nach der Rechtsauskunft Nr. 8/80 in ABl. EPA 1981, 6 ist eine beim EPA eingegangene wirksame Zurücknahmeerklärung für den Anmelder bindend. Gemäß Nummer 2 der Rechtsauskunft knüpft das EPA verschiedene unmittelbare Rechtsfolgen an die Zurücknahmeerklärung des Anmelders; im Interesse eines geordneten Erteilungsverfahrens darf es für die Rechtswirkungen einer gültigen Zurücknahmeerklärung keinen Schwebezustand geben; dies wäre aber der Fall, wenn eine rechtswirksam geäußerte und mitgeteilte Absicht widerrufen werden könnte.
10. In Nummer 7 der Beschwerdebegründung wird folgendes behauptet: "Die Anmelderin hat das europäische Patent immer aufrechterhalten wollen. Sie wollte nur die daraus entstandenen nationalen Patente verfallen lassen, und zwar erst dann, wenn weitere Kosten entstünden. Diese Absicht hat sie ihrem früheren Vertreter mitgeteilt." Im fortgeschrittenen Stadium des Beschwerdeverfahrens, nämlich im März 1987, zitierte der derzeitige Vertreter der Beschwerdeführerin auf einen Bescheid der Kammer hin erstmals wörtlich aus den Anweisungen, die der frühere Vertreter mit Schreiben vom 30. Oktober 1984 tatsächlich erhalten hatte. Danach wurde er angewiesen, "keine weiteren mit Kosten verbundenen Schritte zu unternehmen". Es ist möglich, daß der betreffende Vertreter die ihm erteilten Anweisungen fälschlich dahingehend verstanden hat, daß er Geld sparen und nach Möglichkeit eine Rückzahlung der bereits entrichteten Gebühren erreichen sollte, selbst wenn dies eine Zurücknahme erforderlich machte. Nach Auffassung der Kammer ist es jedoch im Interesse der Öffentlichkeit zu spät für den Widerruf einer Zurücknahmeerklärung, wenn die Zurücknahme der europäischen Patentanmeldung der Öffentlichkeit bereits im Europäischen Patentblatt bekanntgemacht worden ist.
11. Was schließlich die Berufung auf das deutsche Recht anbelangt, so ist darauf hinzuweisen, daß nach Artikel 125 EPÜ das EPA die in den Vertragsstaaten allgemein anerkannten Grundsätze des Verfahrensrechts berücksichtigt, soweit das EPÜ keine Vorschriften über das Verfahren enthält. Diese Grundsätze, die sich auf das rechtliche Gehör, die Rechtsverbindlichkeit von Entscheidungen u. ä. beziehen, sind ihrem Wesen nach bekannt. Die Behauptung in der Beschwerdebegründung und in dem Nachtrag vom 12. Januar 1987, daß der frühere Vertreter über die Tragweite seiner Erklärung im Irrtum gewesen sei und die Bestimmungen des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches zur Anwendung kommen müßten, wird durch Artikel 125 EPÜ nicht gestützt; dieser bezieht sich nur auf die in den Vertragsstaaten allgemein anerkannten Grundsätze des Verfahrensrechts und nicht auf die zivilrechtlichen Bestimmungen eines Staates, die für fälschlich abgegebene Absichtserklärungen und sonstige materiellrechtliche Fragen maßgeblich sind.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde gegen die Entscheidung des Leiters der Formalprüfungsstelle vom 28. November 1985 wird zurückgewiesen.