4.3.4 Öffentliche Zugänglichkeit von Dokumenten des Stands der Technik
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Obwohl sich in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern unterschiedliche Konzepte zum Beweismaßstab herausgebildet haben, ist diesen gemeinsam, dass die Beurteilung unter Anwendung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung erfolgen muss. Bei veröffentlichten Dokumenten ist der Beweismaßstab für die öffentliche Verfügbarkeit in der Regel der weniger strenge Maßstab des "Abwägens der Wahrscheinlichkeit" (T 1140/09, Nr. 3.2 der Gründe). Aber obwohl der vorliegende Fall (Zeitpunkt, an dem eine Zeitschriftenbeilage mit Abstracts für eine künftige Konferenz in einer öffentlichen Bibliothek verfügbar war) unter diesen Beweismaßstab fiel, stützte die Kammer ihre Meinung nicht ausschließlich auf die Frage, ob die behaupteten Tatsachen die wahrscheinlichsten waren, sondern ob sie davon überzeugt war, dass die Tatsachen der Wirklichkeit entsprachen (T 1050/12).
Nach Auffassung der Kammer war in T 1107/12 nicht ersichtlich, dass die Abteilung von einem falschen Beweismaßstab ausgegangen wäre. Zwar habe die Einspruchsabteilung sich nicht ausdrücklich mit der Frage beschäftigt, ob im vorliegenden Fall der strenge Beweismaßstab "über jeden vernünftigen Zweifel hinaus" oder der übliche Beweismaßstab der "Abwägung der Wahrscheinlichkeit" angebracht gewesen wäre. Die zitierte Rechtsprechung, die absolute Gewissheit bzw. zweifelsfreien Nachweis verlange, betreffe Fälle von offenkundiger Vorbenutzung (s. T 441/04, T 472/92 und T 2451/13), und zwar wegen des Umstands, dass in so gelagerten Fällen das Beweismaterial in aller Regel in der Verfügungsmacht der Einsprechenden liege. Im vorliegenden Fall T 1107/12 gehe es um die Frage, ob ein bestimmtes Dokument, das von der Einsprechenden 1 selbst stamme, zu einem bestimmten Zeitpunkt der Öffentlichkeit zur Verfügung gestanden habe. Hierzu liege ein Zeugenbeweis vor, der frei zu würdigen sei. Im Ergebnis könne offen bleiben, ob auch in dieser Konstellation der strengere Beweismaßstab anzulegen sei. Denn die Würdigung der Zeugenvernehmung des Dr. J durch die Einspruchsabteilung habe keinerlei Zweifel an der Glaubhaftigkeit seiner Aussage oder an der Glaubwürdigkeit seiner Person ergeben. Die Beweiswürdigung sei im Übrigen ohne Rechtsfehler und unter Heranziehung der maßgeblichen Kriterien erfolgt, sei in allen Punkten nachvollziehbar und weise auch keine Denkfehler auf, sodass es nicht an der Kammer sei, ihre eigene Beweiswürdigung an die Stelle derjenigen der Einspruchsabteilung zu setzen. Vergleiche nachstehend T 2466/13 zur fehlenden Notwendigkeit in diesem Fall, die Frage des erforderlichen Beweismaßes zu klären.