4. Besorgnis der Befangenheit von Mitgliedern der erstinstanzlichen Organe
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
In T 433/93 (ABl. 1997, 509) wurde die Entscheidung wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung an die erste Instanz zurückverwiesen. Im Zusammenhang mit der Zurückverweisung befand die Kammer, dass eine anders (d. h. mit drei neuen Mitgliedern) besetzte Einspruchsabteilung über die Sache entscheiden müsse. Wenn nämlich die Einspruchsabteilung in derselben Besetzung weiter über den Fall verhandeln und entscheiden würde, müssten ihre Mitglieder vorher das Ergebnis ihrer eigenen früheren Entscheidung aus ihrem Gedächtnis tilgen. Die Kammer entschied, dass es weder darauf ankomme, ob die Mitglieder der Einspruchsabteilung nach Aktenlage schon im bisherigen Verfahren nachweislich parteiisch gewesen seien (abweichend von T 261/88 vom 16. Februar 1993 date: 1993-02-16), noch darauf, ob die bisherigen Mitglieder der Einspruchsabteilung bei einer erneuten Verhandlung des Falls tatsächlich unvoreingenommen oder unparteilich wären. Entscheidend sei vielmehr, ob ein Beteiligter aus gutem Grund die Befürchtung haben könnte, dass ihm kein faires Verfahren zuteilwürde, wenn die Einspruchsabteilung erneut in derselben Besetzung über den Fall verhandeln würde (s. auch T 628/95 vom 13. Mai 1996, und T 611/01). Auch in T 2362/08 ordnete die Beschwerdekammer die Neubesetzung der Einspruchsabteilung nach der Zurückverweisung an. Nach den Verfahrensmängeln im ersten Verfahren hielt sie es für entscheidend, dass die Beteiligten keinen Anlass zu der Befürchtung hätten, ihnen könnte im weiteren Verfahren keine faire Verhandlung zuteilwerden, was durchaus der Fall sein könnte, wenn dieselbe Einspruchsabteilung das Patent erneut widerriefe, auch wenn dies nach einem einwandfrei geführten Verfahren geschähe.
In T 611/01 befand die Kammer, dass ein wesentlicher Verfahrensmangel vorliege, und verwies die Sache zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurück, wobei sie darauf hinwies, dass das neue Prüfungsverfahren von einer anders besetzten Prüfungsabteilung durchgeführt werden sollte, d. h. von einer aus drei neuen Mitgliedern bestehenden Abteilung. Eine solche Anweisung werde typischerweise getroffen, wenn es um eine mögliche Befangenheit gegenüber einem Beteiligten gehe. Dies sei hier aber nicht der Fall. Ein anders besetztes Organ könne auch angebracht sein, wenn ein Beteiligter aus guten Gründen meine, es gebe andernfalls keine faire erneute Verhandlung (s. T 433/93, ABl. 1997, 509; s. auch T 628/95 vom 13. Mai 1996). Selbst wenn der Beschwerdeführer keine neue Besetzung beantragt habe, sollte es nach Ansicht der Kammer keinerlei Grund zur Unzufriedenheit mit der Durchführung des weiteren Verfahrens geben. Dazu könnte es aber – selbst nach einem einwandfrei durchgeführten Verfahren – kommen, wenn dieselbe Prüfungsabteilung die Anmeldung erneut zurückweise.
In T 1647/15 merkte die Kammer an, dass unter normalen Umständen der mögliche Verdacht der Befangenheit eines Mitglieds der Einspruchsabteilung ein triftiger Grund für eine Zurückverweisung sein könne, dies aber im vorliegenden Fall nicht zutreffe, weil dieser Verdacht nicht den gesamten Entscheidungsfindungsprozess betraf, sondern auf einem unkontrollierten Ausbruch am Ende einer außergewöhnlich langen und intensiven mündlichen Verhandlung beruhte. Die angefochtene Entscheidung basierte auf Gründen, die vor besagtem Vorfall in der mündlichen Verhandlung ausführlich diskutiert worden seien. Die Kammer bezweifelte, dass eine Zurückverweisung an die erstinstanzliche Abteilung – auch in anderer Besetzung – im Interesse der Gerechtigkeit sei, weil die Zurückverweisung die abschließende Entscheidung übermäßig verzögern würde. Die Kammer entschied deshalb, die Sache nicht an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.
- Rechtsprechung 2020
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In T 2475/17 entschied die Kammer, die Sache in Anwendung von Art. 111 (1) EPÜ und Art. 11 VOBK 2020 an die erste Instanz zurückzuverweisen, da ein wesentlicher Verfahrensfehler vorlag (Verstoß gegen Art. 113 (2) EPÜ). Die Kammer ordnete auch die Rückzahlung der Beschwerdegebühr in voller Höhe nach R. 103 (1) a) EPÜ an. Wie die Kammer bestätigte, lagen in der angefochtenen Entscheidung noch etliche weitere Fehler vor. Vor diesem Hintergrund hatte der Beschwerdeführer beantragt, die Kammer solle anordnen, dass das Prüfungsverfahren von einer vollständig anders besetzten Prüfungsabteilung durchgeführt werde. Die Kammer verwies auf G 5/91 (ABl. 1992, 617) wonach das Gebot der Unparteilichkeit grundsätzlich auch für Bedienstete der erstinstanzlichen Organe des EPA gilt, die an Entscheidungen mitwirken, die die Rechte eines Beteiligten berühren. Eine Änderung der Zusammensetzung ist nicht nur dann gerechtfertigt, wenn tatsächlich eine Befangenheit gegeben ist, sondern auch, wenn eine begründete Besorgnis, d. h. ein Anschein, der Befangenheit vorliegt. Jedoch muss der Anschein der Befangenheit auf objektiver Grundlage begründet sein; rein subjektive Eindrücke oder vage Verdächtigungen reichen hierfür nicht aus (G 1/05, ABl. 2007, 362). Die bloße Tatsache, dass ein wesentlicher Verfahrensfehler begangen wurde, bedeutet jedoch nicht notwendigerweise, dass ein Anschein der Befangenheit vorliegt. Die Kammer wies aber auch darauf hin, dass die Kammern mehrmals festgestellt haben, dass das EPÜ keine Rechtsgrundlage bietet, die es den Kammern erlauben würde, sich an die Stelle der Amtsleitung zu setzen und eine Änderung der Zusammensetzung des erstinstanzlichen Entscheidungsorgans anzuordnen (s. unter anderem T 1221/97, T 71/99, T 2111/13). Da die Zusammensetzung des erstinstanzlichen Organs dem Präsidenten des Amts bzw. seinen Vertretern und nicht dem Organ selbst obliegt, kann Art. 111 (1) EPÜ ein solches Vorgehen nicht rechtfertigen. Die Kammer erläuterte weiter, dass dessen ungeachtet auch Entscheidungen vorliegen, in denen eine Kammer eine Änderung der Zusammensetzung des erstinstanzlichen Organs angeordnet hat. Dies betraf zum einen Fälle, in denen die angefochtene Entscheidung den Erfordernissen gemäß Art. 19 (2) EPÜ nicht entsprach (s. z. B. T 251/88, T 939/91, T 1788/14). Zum anderen betraf es Fälle, in denen die Kammer eine Verletzung des rechtlichen Gehörs festgestellt hatte (z. B. T 628/95, T 433/93, ABI. 1997, 509; T 95/04 und T 2362/08). Nach Ansicht der Kammer in T 2475/17 ist eine Kammer im letzteren Fall aber nur dann befugt, eine Änderung der Zusammensetzung anzuordnen, wenn sie zum Schluss gelangt, dass die Zusammensetzung des erstinstanzlichen Organs die eigentliche Ursache für die Verletzung des rechtlichen Gehörs darstellt und die Verletzung des rechtlichen Gehörs nur durch eine Änderung der Zusammensetzung geheilt werden kann, also insbesondere in dem Fall, in dem die berechtigte Besorgnis besteht, dass ein oder mehrere Mitglieder des erstinstanzlichen Organs befangen sind. Ergänzend merkte die Kammer an, dass eine solche Anordnung der Kammer sich darauf beschränkt, dass die Zusammensetzung zu ändern ist, damit das Recht der Parteien auf ein faires und rechtmäßiges Verfahren gewährleistet werden kann. Der Umfang der Änderung bzw. welches Mitglied der Prüfungs- oder Einspruchsabteilung durch wen ersetzt wird, bleibt den dafür zuständigen Stellen überlassen. Für den vorliegenden Fall stellte die Kammer jedoch fest, dass der Beschwerdeführer nicht überzeugend dargelegt hatte, dass die Verfahrensfehler in der Zusammensetzung der Prüfungsabteilung begründet waren. Die bloße Behauptung des Beschwerdeführers, dass die festgestellten Verfahrensfehler eine Befangenheit zum Ausdruck brächten und deshalb zu befürchten sei, dass die Prüfungsabteilung bei der Fortsetzung des Verfahrens voreingenommen agieren würde, konnte nach Ansicht der Kammer eine Anordnung der Änderung der Zusammensetzung der Prüfungsabteilung nicht rechtfertigen.