4.11.4 Einseitiges Beschwerdeverfahren
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
In T 902/10 stellte die Kammer fest, dass es ständige Rechtsprechung ist, dass die Beschwerdekammern Anträge nicht zulassen, die im Laufe des erstinstanzlichen Verfahrens zurückgenommen wurden (T 922/08); würde die Kammer einen solchen Antrag zulassen, würde dies dem Hauptzweck des primär auf die Überprüfung der angefochtenen Entscheidung abgestellten Ex-parte-Beschwerdeverfahrens widersprechen (vgl. G 10/93, ABl. 1995, 172), das der beschwerten Partei (dem Anmelder) Gelegenheit geben soll, die Entscheidung sachlich anzufechten und eine gerichtliche Entscheidung dazu zu erwirken, ob die erstinstanzliche Entscheidung richtig war (s. auch T 2278/08, T 1306/10, T 1311/11, T 2489/11).
In T 922/08 war Anspruch 1 des zusammen mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hauptantrags mit Anspruch 1 identisch, der als erster Hilfsantrag vor der Prüfungsabteilung eingereicht worden war. Während der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung hatte der Anmelder diesen Antrag von sich aus zurückgenommen. Die Kammer stellte fest: Selbst wenn man dem Vorbringen des Beschwerdeführers folge und in der Rücknahme des Hauptantrags keinen Verzicht auf diesen Antrag für das anschließende Beschwerdeverfahren sehe, habe diese Rücknahme im erstinstanzlichen Verfahren eine begründete Entscheidung in der Sache durch die Prüfungsabteilung verhindert. Ein Wiederaufgreifen dieses Antrags im Beschwerdeverfahren würde die Kammer zwingen, entweder erstmals über kritische Punkte zu entscheiden, was dem Zweck einer zweitinstanzlichen Entscheidung zuwiderliefe, oder die Sache an die erste Instanz zurückzuverweisen, was der Verfahrensökonomie klar widerspreche (s. auch T 1156/09, T 1231/09, T 902/10, T 184/13, T 2508/13).
In T 122/10 wurden die Hilfsanträge 2 bis 4 während der mündlichen Verhandlung eingereicht. Der in den Hilfsanträgen beanspruchte Gegenstand war mit dem Gegenstand der Anträge identisch, die mit der Beschwerdebegründung eingereicht, vom Anmelder jedoch im Lauf des Verfahrens zurückgenommen worden waren. Die Kammer stellte fest, dass zwar auf Art. 12 (4) VOBK 2007 abgestellt werde, wonach die Kammer alles zu berücksichtigen habe, was mit der Beschwerdebegründung vorgebracht werde, und damit in diesem Fall die in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Hilfsanträge 2 bis 4, doch könne diese Bestimmung nur so verstanden werden, dass sie dann anzuwenden sei, wenn die betreffenden Anträge nicht – wie vorliegend geschehen – zuvor zurückgenommen worden seien. Nachdem der Beschwerdeführer seine früheren Anträge zurückgenommen habe, sei Art. 13 (1) VOBK 2007 einschlägig, da eine Änderung des Vorbringens eines Beteiligten vorliegt.
In T 675/13 war die im Anspruch 1 beanspruchte Ausführungsform bereits im erstinstanzlichen Verfahren verfolgt, dann aber fallen gelassen worden, weshalb die Prüfungsabteilung über diesen Aspekt der Erfindung nicht in der Sache entscheiden konnte. Ihre Wiedereinführung hätte eine Art unzulässiges "Forum-Shopping" (s. z. B. T 2017/14) ermöglicht. Wie die Kammer aus dem Vorstehenden schlussfolgerte, hätten auf diese Ausführungsform gerichtete Ansprüche im Prüfungsverfahren nicht nur weiterverfolgt werden können, sondern auch müssen, sodass sie Gegenstand einer beschwerdefähigen Entscheidung geworden wären.
Auch in T 996/13 wurde die Wiedereinführung eines Antrags, der in einem früheren Verfahrensstadium zurückgenommen worden war, im Beschwerdeverfahren abgelehnt.
In T 435/11 entsprach Anspruch 1 des Antrags im Wesentlichen einem Anspruch, dem die Prüfungsabteilung die Neuheit abgesprochen hatte und der daraufhin zugunsten enger gefasster Ansprüche zurückgenommen worden war. Die Kammer berücksichtigte die besonderen Umstände des Falls. Im erstinstanzlichen Verfahren hatte der Beschwerdeführer Beschränkungen vorgenommen, gegen die die Prüfungsabteilung Einwände nach Art. 123 (2) EPÜ erhoben hatte. Diese Einwände ließen sich nicht durch eine weitere Änderung ausräumen. Somit hatte der Beschwerdeführer sich in eine schwierige Situation manövriert. Um ihm im Beschwerdeverfahren überhaupt einen Ausweg aus dieser Situation zu eröffnen, musste ihm gestattet werden, auf einen Anspruch zurückzugreifen, in dem die beanstandeten Merkmale gestrichen waren. Deswegen ließ die Kammer den Hauptantrag zum Verfahren zu.