J 0003/87 (Membranen) 02-12-1987
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1. Der Vertrauensschutz, der das Verhältnis zwischen EPA und Anmelder beherrscht, erfordert, daß Bescheide für den Anmelder klar und unmißverständlich sind (vgl. Entscheidung J 2/87 vom 20. Juli 1987 (veröff. im Abl. EPA 1988,330). Bescheide müssen so abgefasst sein, dass Missverständnisse bei einem vernünftigen Adressaten ausgeschlossen sind.
2. Einem Beteiligten an einem Verfahren vor dem EPA darf kein Nachteil daraus erwachsen, daß er einem Bescheid vertraut hat, der für einen vernünftigen Adressaten mißverständlich sein mußte.
3. Eine Zuschlagsgebühr zur Prüfungsgebühr, die ohne den mißverständlichen Bescheid nicht fällig geworden wäre, ist daher nach den Grundsätzen des Vertrauensschutzes zurückzuzahlen.
Rückzahlung der Zuschlagsgebühr zur Prüfungsgebühr (bejaht)
Fristgerechte Einreichung der Vollmacht
Bescheide - Klarheit und Unmissverständlichkeit
Vertrauensschutz
I. Die Beschwerdeführerin, eine Firma mit Sitz in Australien, reichte am 12. September 1984 eine internationale Anmeldung ein, in der das EPA als Bestimmungsamt bezeichnet war.
II. Der internationale Recherchenbericht zu dieser Anmeldung, der im Verfahren vor dem EPA die Nr. 84 903 426.9 zugeteilt wurde, wurde am 28. März 1985 veröffentlicht.
III. Mit Vordruck 1200 (4.82) vom 10. Mai 1985 bestellte die Anmelderin in London niedergelassene Vertreter und teilte gleichzeitig mit, daß die Vollmacht rechtzeitig innerhalb der Frist von 3 Monaten nach Regel 101 (4) EPÜ nachgereicht werde. Ebenfalls am 10. Mai 1985 entrichtete die Anmelderin die für die Anmeldung fälligen Gebühren, u. a. die Prüfungsgebühr gemäß Artikel 94 (2) EPÜ.
IV. Mit Bescheid vom 29. Juli 1985 (EPA-Formblatt 1206) wurden die Vertreter der Anmelderin darauf hingewiesen, daß die Erfordernisse des Artikels 133 (2) EPÜ nicht erfüllt seien. Die Anmelderin wurde aufgefordert, die fehlende Vollmacht für ihre Vertreter innerhalb von drei Monaten nach Zustellung dieser Nachricht einzureichen; anderenfalls werde die Anmeldung gemäß Artikel 91 (3) EPÜ zurückgewiesen. Gleichzeitig wurde die Anmelderin darauf aufmerksam gemacht, daß gemäß Regel 101 (4) EPÜ Verfahrenshandlungen wie die Stellung des in Vordruck 1200 enthaltenen Prüfungsantrags als nicht erfolgt gälten, wenn die Vollmacht nicht innerhalb von drei Monaten nach der Mitteilung der Bestellung der Vertreter eingereicht werde.
V. Mit Schreiben vom 1. August 1985 teilten die Vertreter der Anmelderin mit, daß sie ihre Vollmacht nach deren Eingang aus Australien einreichen würden.
VI. Mit Schreiben vom 8. Oktober 1985, das am 10. Oktober 1985 einging, reichte die Anmelderin eine Vollmacht für ihre englischen Vertreter ein.
VII. Mit Bescheid vom 7. November 1985 (EPA-Formblatt 1218) wurde der Anmelderin mitgeteilt, daß kein gültiger Prüfungsantrag gestellt worden sei, weil innerhalb von drei Monaten nach der Vertreterbestellung am 14. Mai 1985 keine Vollmacht eingereicht worden sei und daher der Prüfungsantrag als nicht gestellt gelte. Die Vollmacht sei erst am 10. Oktober 1985 eingegangen. Der Mangel könne noch innerhalb von zwei Monaten nach dem 30. September 1985 behoben werden, wenn gemäß Regel 85b EPÜ ein Zuschlag von 50 % zur Prüfungsgebühr gezahlt werde. Anderenfalls gelte die Anmeldung gemäß Artikel 94 (3) EPÜ als zurückgenommen.
VIII. Die Anmelderin zahlte den 50%igen Zuschlag in HÖhe von 280 GBP und beantragte mit Schreiben vom 12. November 1985 dessen Rückzahlung. Zur Begründung führte sie aus, daß ihr die Frist von drei Monaten nach Regel 101 (4) EPÜ durchaus geläufig sei, daß aber durch den Bescheid vom 29. Juli 1985 eine neue dreimonatige Frist für die Einreichung der Vollmacht gesetzt worden sei, die die Frist nach Regel 101 (4) EPÜ verlängert habe.
IX. Durch bestätigtes Fernschreiben vom 29. November 1985 wiederholten die Vertreter der Anmelderin die Stellung des Prüfungsantrags.
X. In ihrer Entscheidung vom 9. Juli 1986 vertrat die Eingangsstelle die Auffassung, daß der schriftliche Prüfungsantrag vom 10. Mai 1985 gemäß Regel 101 (4) EPÜ als nicht gestellt gelte und der Antrag auf Rückzahlung des Zuschlags zur Prüfungsgebühr zurückgewiesen werde. Zur Begründung wurde folgendes ausgeführt: Die Eingangsstelle habe als Formalerfordernis eine Anmeldung gemäß Artikel 91 (1) a) EPÜ darauf zu prüfen, ob die australische Anmelderin im Sinne des Artikels 133 (2) EPÜ durch einen zugelassenen Vertreter vertreten sei. Dazu gehöre die Vorlage einer Vollmacht. Da diese gefehlt habe, sei dieser Mangel mit Bescheid vom 29. Juli 1985 gerügt und zu seiner Beseitigung eine Frist von drei Monaten gesetzt worden. Innerhalb dieser Frist sei eine Vollmacht eingereicht worden, so daß die Anmeldung nicht gemäß Artikel 91 (3) EPÜ habe zurückgewiesen werden können. Unabhängig von der gesetzten Frist von drei Monaten laufe gemäß Regel 101 (4) EPÜ eine gesetzliche, nicht verlängerbare Frist von drei Monaten zur Vorlage der Vollmacht, die mit der Mitteilung der Vertreterbestellung beginne. Da die Vertreterbestellung am 14. Mai 1985 mitgeteilt worden sei, sei diese Frist am 14. August 1985 abgelaufen. Innerhalb dieser Frist sei keine Vollmacht eingereicht worden. Daher gälten nach Regel 101 (4) Satz 2 EPÜ alle Verfahrenshandlungen des Vertreters als nicht erfolgt. Also gelte auch der vom Vertreter am 10. Mai 1985 für die Anmelderin gestellte und am 14. Mai 1985 eingegangene Prüfungsantrag als nicht gestellt. Da somit bei Ablauf der in Artikel 150 (2) EPÜ vorgesehenen Frist zur Stellung des Prüfungsantrags am 30. September 1985 kein wirksamer Prüfungsantrag vorgelegen habe und der Prüfungsantrag vom 29. November 1985 innerhalb der zweimonatigen Nachfrist nach Regel 85b EPÜ gestellt worden sei, sei die Zuschlagsgebühr gemäß Regel 85b EPÜ fällig geworden und könne daher nicht zurückgezahlt werden.
XI. Gegen diese Entscheidung legte die Anmelderin Beschwerde ein und beantragte die Rückzahlung des Zuschlags zur Prüfungsgebühr. ...
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 und Regel 64 EPÜ; sie ist somit zulässig.
2. In der angefochtenen Entscheidung ist der Antrag auf Rückzahlung der Zuschlagsgebühr zur Prüfungsgebühr dann zu Recht zurückgewiesen worden, wenn die Anmelderin verpflichtet war, diese Zuschlagsgebühr zu entrichten. Das setzt voraus, daß gemäß Regel 85b EPÜ der Prüfungsantrag nicht innerhalb der in Artikel 94 (2) EPÜ vorgesehenen Frist, sondern erst innerhalb der in Regel 85b EPÜ vorgesehenen Nachfrist von zwei Monaten nach Ablauf der Prüfungsantragsfrist gestellt worden ist.
3. Wie die Vorinstanz zu Recht festgestellt hat, lief die Frist für die Stellung des Prüfungsantrags am 30. September 1985 ab. Die Anmelderin hat den Antrag durch ihre englischen Vertreter mit dem Vordruck 1200 vom 10. Mai 1985 gestellt, der am 14. Mai 1985 eingegangen ist. Eine Vollmacht für die Vertreter war nicht beigefügt. Vielmehr erklärten die Vertreter in dem Vordruck, daß die Vollmacht rechtzeitig innerhalb der Frist von drei Monaten nach Regel 101 (4) EPA nachgereicht werde.
4. Bis zum Ablauf der Frist von drei Monaten nach Regel 101 (4) EPÜ, also bis zum 14. August 1985, ist keine Vollmacht eingereicht worden; diese ging vielmehr erst am 10. Oktober 1985 zusammen mit einem vom 8. Oktober 1985 datierten Schreiben ein. Die verspätete Einreichung der Vollmacht hat nach Regel 101 (4) Satz 2 EPÜ zur Folge, daß der Prüfungsantrag als nicht gestellt gilt, denn nach dieser Bestimmung gelten Handlungen des Vertreters als nicht erfolgt, wenn die Vollmacht nicht rechtzeitig eingereicht worden ist.
5. Mit Bescheid vom 29. Juli 1985 wurden die Vertreter der Anmelderin darauf hingewiesen, daß die Erfordernisse des Artikels 133 (2) EPÜ nicht erfüllt seien und die Anmeldung gemäß Artikel 91 (3) EPÜ zurückgewiesen würde, wenn die fehlende Vollmacht nicht innerhalb von drei Monaten nach Zustellung dieses Bescheides eingereicht werde. Im gleichen Bescheid wurde die Anmelderin auf die Regel 101 (4) EPÜ und deren Folgen hingewiesen, daß nämlich jede Verfahrenshandlung wie die Einreichung der Übersetzung und des schriftlichen Prüfungsantrags (Vordruck 1200) als nicht erfolgt gelte, wenn die Vollmacht nicht innerhalb von drei Monaten nach Mitteilung der Vertreterbestellung eingereicht werde.
6. Der Bescheid vom 29. Juli 1985 und die Bestimmungen in Regel 101 (4) Satz 2 EPÜ hatten daher zu Folge, daß für dieselbe Verfahrenshandlung, nämlich die Einreichung der Vollmacht, zwei unterschiedliche Fristen von drei Monaten mit unterschiedlichem Beginn und unterschiedlicher Sanktion bestanden. Diese unübersichtliche Verfahrenssituation mußte unweigerlich zu Mißverständnissen und Irrtümern führen. Die Kammer hat immer die Auffassung vertreten, daß das Europäische Patentamt für eine klare und unmißverständliche Sachlage zu sorgen habe, damit Mißverständnisse beim Empfänger eines Bescheids ausgeschlossen sind (vgl. Entscheidungen J 13/84, ABl. EPA 1985, 34 und J 2/87 vom 20. Juli 1987, noch nicht veröffentlicht*)). Dies ist besonders dann wichtig, wenn es - wie im vorliegenden Fall - in einem Bescheid um komplizierte Bestimmungen des EPÜ geht, die bei Nichterfüllung einen Rechtsverlust nach sich ziehen. *) Zwischenzeitlich veröffentlicht in ABL. EPA 1988, 330.
7. Die Beschwerdeführerin hat behauptet, der Bescheid vom 29. Juli 1985 sei so irreführend gewesen, daß der Vertreter die tatsächliche verfahrensrechtliche Lage falsch eingeschätzt habe; deshalb sei die Vollmacht nicht, wie in Regel 101 (4) EPÜ gefordert, rechtzeitig eingereicht worden; die Rechtsfolgen, die ein Verstoß gegen die Regel 101 (4) EPÜ sonst nach sich ziehe, dürften deshalb im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung kommen. Normalerweise darf von den Beteiligten an den Verfahren vor dem EPA und ihren zugelassenen Vertretern erwartet werden, daß sie die einschlägigen Bestimmungen des EPÜ kennen, selbst wenn diese - wie im vorliegenden Fall - kompliziert sind. Nach Auffassung der Kammer kann dem Antrag der Beschwerdeführerin nur stattgegeben werden, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind:
a) Der Bescheid des EPA muß unmittelbar daran schuld gewesen sein, daß die Beschwerdeführerin die Regel 101 (4) EPÜ nicht erfüllt hat.
b) Der Bescheid muß objektiv so irreführend gewesen ein, daß er die Beschwerdeführerin dazu verleiten mußte, die Regel 101 (4) EPÜ nicht zu erfüllen.
Zu a: Die Beschwerdeführerin hat im vorliegenden Fall am 12. November 1985 ein vom zugelassenen Vertreter persönlich unterzeichnetes Schreiben eingereicht, aus dem klar hervorgeht, daß der Vertreter den Bescheid vom 29. Juli 1985 tatsächlich so verstanden hatte, daß damit "eine neue Frist von drei Monaten für die Einreichung der Vollmacht gesetzt wurde, die über die Frist von drei Monaten nach Regel 101 (4) EPÜ hinausging und damit den Fälligkeitstermin nach Regel 101 (4) Satz 2 EPÜ verlängert hat". In dem Schreiben heißt es folgerichtig weiter: "Ich habe daraus geschlossen, daß die Vollmacht zum neuen Termin vom 29. Oktober 1985 eingereicht werden mußte, und habe meinen australischen Geschäftspartner mit Schreiben vom 1. August 1985 und einem Erinnerungsschreiben vom 4. September 1985 entsprechend angewiesen". Dies ist nach Ansicht der Kammer Beweis genug, daß der Vertreter durch den Bescheid tatsächlich irregeführt wurde.
Zu b: Wie bereits ausgeführt, liegt hier eine komplizierte Kombination von Bestimmungen des EPÜ vor, die zu zwei verschiedenen Fristen von drei Monaten geführt hat, die jeweils zu verschiedenen Zeitpunkten zu laufen beginnen und im Falle ihrer Nichteinhaltung unterschiedliche Rechtsfolgen nach sich ziehen. Die Kammer hält es für bedauerlich, daß das EPÜ in seiner derzeitigen Fassung für einen so einfachen Verfahrensschritt wie die Vorlage einer Vollmacht eine derart komplizierte Regelung vorsieht. Sie stellt fest, daß für den Bescheid vom 29. Juli 1985 ein Standard-Vordruck - Formblatt 1206 - verwendet wurde, was angesichts der Menge der Bescheide und Mitteilungen im EPA durchaus verständlich ist. Dieses Formblatt verweist durchaus richtig auf die verschiedenen Bestimmungen, die im vorliegenden Fall in Verbindung miteinander zur Anwendung kommen. Unter diesen Umständen hat die Kammer sorgfältig geprüft, ob der Vertreter der Beschwerdeführerin durch diesen Bescheid irregeführt werden mußte, und zwar trotz der bei den Verfahrensbeteiligten vor dem EPA und ihren Vertretern vorauszusetzenden Rechtskenntnisse (zumal der Vertreter im vorliegenden Fall erklärt hat, daß er sich vor Erhalt des Bescheides über die Bestimmungen der Regel 101 (4) EPÜ sehr wohl im klaren gewesen sei). Angesichts des ungewöhnlichen Zusammentreffens von komplizierten Bestimmungen des EPÜ und der Art der Formulierung des Bescheides lag nach Auffassung der Kammer im vorliegenden Fall für den Empfänger die Schlußfolgerung nahe, daß für die Einreichung der Vollmacht nach Regel 78 (3) EPÜ eine neue Frist von drei Monaten, nämlich bis zum 8. November 1985, gesetzt worden sei. Die fehlende Vollmacht wurde innerhalb dieser Frist eingereicht. Da das EPA den Anmeldern Vertrauensschutz gewährt (vgl. Entscheidung J 2/87 vom 20. Juli 1987), muß die Vollmacht deshalb aufgrund des Bescheides vom 29. Juli 1985 als rechtzeitig eingereicht gelten. Somit besteht im vorliegenden Fall kein Anlaß zur Erhebung des Zuschlags zur Prüfungsgebühr nach Regel 85b EPÜ; diese Gebühr ist daher zurückzuzahlen.
8. Die Beschwerdegebühr ist nach Regel 67 EPÜ zurückzuzahlen, weil der Beschwerde stattgegeben worden ist und die Rückzahlung aufgrund eines wesentlichen Verfahrensmangels der Billigkeit entspricht. Ein Bescheid des EPA, der nicht so klar und unmißverständlich ist, wie er sein sollte, und dadurch einen vernünftigen Empfänger irreführt, stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel dar, selbst wenn die Mißverständlichkeit des Bescheides teilweise auf eine unglückselige Rechtsbestimmung zurückzuführen ist.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Rückzahlung des Zuschlags zur Prüfungsgebühr und der Beschwerdegebühr wird angeordnet.