T 0536/88 (Staubdichte Faltschachtel) 14-01-1991
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1. Im angefochtenen europäischen Patent zitierte Dokumente sind im Prinzip nicht automatisch Gegenstand des Einspruchs(beschwerde)verfahrens.
2. Ein im europäischen Patent als nächstkommender oder wesentlicher Stand der Technik angegebenes Dokument, von dem ausgehend die in der Beschreibung dargelegte technische Aufgabe verständlich wird, befindet sich aber im Einspruchs(beschwerde)verfahren, auch wenn es innerhalb der Einspruchsfrist nicht ausdrücklich aufgegriffen worden ist (im Anschluß an die Entscheidung T 198/88 vom 3. August 1989, ABl. EPA 1991, 254).
In der europäischen Patentschrift angegebener wesentlicher Stand der Technik automatisch im Einspruchsverfahren
Zurückweisung an die Einspruchsabteilung (nein)
Wesentlicher Verfahrensmangel (nein) "
I. Die Beschwerdegegnerin ist Inhaberin des am 3. September 1986 erteilten europäischen Patents 0 106 215 (Anmeldenummer 83 109 529.4).
II. Die Beschwerdeführerin hat gegen das europäische Patent Einspruch eingelegt mit der Begründung, daß der einzige Patentanspruch im Hinblick auf das folgende Dokument nicht erfinderisch sei:
D1: DE-A-2 845 720
Außerhalb der Einspruchsfrist nannte sie im Schreiben vom 26. Januar 1988 noch die Dokumente:
D2: DE-U-8 210 781.5
D3: US-A-2 501 852
Dokument D2 ist in der Beschreibung des angefochtenen Patents als nächstliegender Stand der Technik zitiert und gewürdigt.
III. Mit Entscheidung vom 28. September 1988 hat die Einspruchsabteilung den Einspruch zurückgewiesen und ausgeführt, daß die Dokumente D2 und D3 als verspätet vorgebracht gelten. Die Einsprechende habe keinen Grund für die verspätete Vorlage dieser Druckschriften angegeben, außerdem seien die Dokumente D2 und D3 nicht von Bedeutung für die Entscheidung über das Vorliegen von erfinderischer Tätigkeit, da auch die Vereinigung der Merkmale beider Dokumente nicht zum Gegenstand des Patentanspruchs des angefochtenen Patents führen würde. Insbesondere fehle das kennzeichende Merkmal, daß die Prägung der einen Verschlußklappe nach innen gerichtet ist. Deshalb seien die Dokumente D2 und D3 gemäß Artikel 114 (2) EPÜ nicht berücksichtigt worden.
IV. Gegen diese Entscheidung hat die Beschwerdeführerin am 20. Oktober 1988 unter gleichzeitiger Bezahlung der Beschwerdegebühr Beschwerde erhoben. Die Beschwerdebegründung ging am 16. Januar 1989 ein. Im Laufe des Beschwerdeverfahrens nannte die Beschwerdeführerin noch die Dokumente:
D4: FR-A-1 092 342,
D5: DE-A-2 260 766
V. Nach Zustellung einer die Ladung begleitenden Mitteilung gemäß Artikel 11 (2) Verfahrensordnung der Beschwerdekammern wurde am 14. Januar 1991 mündlich verhandelt. In der mündlichen Verhandlung stellte die Beschwerdeführerin folgende Anträge:
1) Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz;
2) Rückzahlung der Beschwerdegebühr wegen eines erheblichen Verfahrensmangels;
3) Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Widerruf des europäischen Patents Nr. 106 215.
Die Beschwerdeführerin stützt ihre Anträge im wesentlichen auf folgende Argumente:
a) In der angefochtenen Entscheidung werde ausgeführt, daß das Dokument D2 erst nach Ablauf der Einspruchsfrist und damit im Sinne des Artikels 114 (2) EPÜ verspätet genannt worden sei, jedoch sei dem Deckblatt der Patentschrift zu entnehmen, daß es bereits im Prüfungsverfahren entgegengehalten worden sei. Ferner sei der Patentschrift zu entnehmen, daß der Patentanspruch von Anfang an gegenüber diesem Dokument abgegrenzt worden sei. Dokument D2 sei also schon vor Ablauf der Einspruchsfrist ins Verfahren eingeführt worden und für die Entscheidung über das Vorliegen von erfinderischer Tätigkeit von Bedeutung. Die Nichtberücksichtigung des Dokuments D2 im Einspruchsverfahren stelle somit einen wesentlichen Verfahrensmangel dar.
Da dieser nächstliegende Stand der Technik nicht überprüft worden sei und damit die erfinderische Tätigkeit nicht ordnungsgemäß beurteilt werden konnte, sollte dieser Fall an die erste Instanz zurückverwiesen werden, um ein sich über zwei Instanzen erstreckendes Verfahren vor dem Europäischen Patentamt zu wahren.
b) Der Gegenstand des einzigen Patentanspruchs beruhe nicht auf erfinderischer Tätigkeit im Hinblick auf den Stand der Technik nach den Dokumenten D2 und D4.
Das angefochtene Patent gehe vom Dokument D2 aus, welches den Oberbegriff des Patentanspruchs wiedergebe. Bei dieser bekannten Faltschachtel solle es nun nachteilig sein, daß der freie Längsrand der oben aufliegenden Verschlußklappe die darunterliegende, ungeprägte Verschlußklappe in voller Pappenstärke überragt. Dadurch soll die Gefahr bestehen, daß beim Palettieren, Endpalettieren und Einstapeln der Faltschachteln in Regale, insbesondere beim Übereinanderschieben gefüllter Einzelpackungen, die obenliegenden Verschlußklappen aufreißen. Dem angefochtenen Patent liege daher die Aufgabe zugrunde, diese Faltschachtel hinsichtlich ihrer Handhabbarkeit zu verbessern. Dabei soll sich insbesondere der Vorteil einstellen, daß der Boden und/oder die Oberseite der neuen Faltschachtel glattflächig ausgebildet sind, so daß die jeweils obenliegende Verschlußklappe weniger Angriffspunkte bietet als bei der vorbekannten Ausführungsform.
Somit vor die Aufgabe gestellt, eine gattungsgemäße, insbesondere verkürzte Verschlußklappen aufweisende Faltschachtel dahingehend zu verbessern, daß keine aus deren Boden- bzw. Deckelfläche hervorstehende Kante mehr vorhanden ist, werde der Fachmann in naheliegender Weise erkennen, daß er eine derartige Kante vermeidet, wenn es ihm gelingt, die Boden- bzw. Deckelfläche glattflächig auszubilden. Zur Lösung dieses Problems werde er den bekannten Stand der Technik zu Hilfe nehmen und diesen daraufhin untersuchen, ob er ihm Anregungen gebe, wie er aneinander angrenzende und teilweise aufeinanderliegende Klappen ausbilden könne, um eine glattflächige Oberseite bzw. Oberfläche zu erhalten.
Aus der Figur 18 von Dokument D4 erhalte er die Anregung, die Oberfläche von sich teilweise überlappenden Klappen mittels einer nach oben und außen gerichteten Prägung in Höhe der Kartonstärke glattflächig zu gestalten.
Aufgrund seines Fachwissens und dieser Anregung erkenne der Fachmann, daß er die Boden- und Deckelflächen glattflächig gestalten könne, wenn er die Prägung der Verschlußklappe nach Dokument D2 anstatt nach außen nach innen ausbildet, und zwar in Höhe einer Kartonstärke.
c) Aber auch bereits aufgrund des allgemeinen Fachwissens allein sei die Lösung der dem angefochtenen Patent zugrunde gelegten Aufgabe naheliegend. Es sei nämlich dem Fachmann geläufig, daß er bei zwei aufeinanderliegenden und sich teilweise überlappenden Materialbahnen zur Erzielung einer glattflächigen Oberseite der Materialbahnen einen Versprung in Höhe der Materialstärke vorsehen müsse. Eine derartige Überlegung, auf die aus dem Dokument D2 bekannte Fallschachtel übertragen, lasse den Fachmann sofort erkennen, daß er die dort nach außen gerichtete Prägung nach innen gerichtet auszubilden habe.
VI. Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen und das erteilte Patent in unveränderter Fassung aufrechtzuerhalten.
Der einzige Patentanspruch lautet:
"1. Staubdichte Faltschachtel, deren Boden und/oder Oberseite durch zwei an den Seitenwänden (1, 2) angelenkte und sich nur teilweise überlappende Verschlußklappen (3, 4) sowie durch zwei an den Stirnwänden (5, 6) angelenkte Staubklappen (7) gebildet sind, wobei nur eine (4) der beiden Verschlußklappen (3, 4) an ihrem freien Abschnitt eine Prägung (9) entlang einer geraden Linie (8) aufweist, an der die andere Verschlußklappe (3) endet, die Staubklappen (7) an der gleichen Stelle eine nach innen gerichtete Prägung (10) aufweisen, die ebenfalls entlang einer geraden Linie (11) verläuft, und eine Verschlußklappe (4) zwischen der anderen Verschlußklappe (3) und den Staubklappen (7) liegt, dadurch gekennzeichnet, daß die Prägung (9) der einen Verschlußklappe (4) nach innen gerichtet ist und auf der Prägung (10) beider Staubklappen (7) aufliegt." Die Beschwerdegegnerin vertritt folgende Auffassung:
a) Die Ausführungen unter Ziffer 12.2 e) bis h) der angefochtenen Entscheidung zeigen, daß die Einspruchsabteilung die beiden nachträglich zitierten Dokumente D2 und D3 hinsichtlich ihrer etwaigen Neuheitsschädlichkeit sowie ihres etwaigen Einflusses auf die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit de facto überprüft hat. Die Feststellung unter Ziffer 12 i), wonach diese Dokumente nicht berücksichtigt worden seien, widerspreche den Tatsachen und sei lediglich formaler Natur.
Eine Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung, um die Prüfung der Dokumente D2 und D3 in zwei Instanzen zu ermöglichen, und somit einen Instanzenverlust zu vermeiden, wäre daher unbillig.
b) Das Merkmal gemäß Oberbegriff, daß sich die beiden Verschlußklappen nur teilweise überlappen, sowie das Kennzeichen des Patentanspruchs seien bei Dokument D4 nicht verwirklicht. Es sei daher nicht erkennbar, wie ein Fachmann ohne eigene erfinderische Leistung durch Übertragung von Merkmalen aus dem Dokument D4 auf eine Faltschachtel gemäß Dokument D2 zum Gegenstand des Patentanspruchs hätte gelangen können.
c) Eine Anregung in Richtung auf die Lösung nach dem Patentanspruch sei dem Stand der Technik insgesamt nicht zu entnehmen. Die von der Beschwerdeführerin zitierten Dokumente D1, D3, D4 und D5 legten übereinstimmend dem Fachmann die gleiche Lösung nahe, nämlich die Ausbildung einer sich über die volle Schachtelbreite erstreckenden außenliegenden Verschlußklappe.
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 sowie den Regeln 1 (1) und 64 EPÜ und ist daher zulässig.
2. Zu den Anträgen der Beschwerdeführerin auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr und Zurückverweisung der Sache an die Erstinstanz
2.1 Die in der angefochtenen Entscheidung vertretene Auffassung, daß das nach Ablauf der Einspruchsfrist erstmals von der Einsprechenden in ihre Argumentation einbezogene Dokument D2 als verspätet vorgebracht gelten müsse, kann nicht gebilligt werden. Das Dokument D2 ist im angefochtenen Patent als nächstliegender Stand der Technik zitiert und gewürdigt, auf den sich der Oberbegriff des Patentanspruchs bezieht und von dem ausgehend die in der Beschreibung des angefochtenen Patents dargelegte technische Aufgabe formuliert wurde. Die Kenntnis des maßgeblichen Inhalts dieses Dokuments ist daher Voraussetzung für das richtige Verständnis der Erfindung nach dem angefochtenen Patent und kann aus diesem Grund bei der Durchführung der Prüfung auf Patentfähigkeit nicht außer Betracht bleiben.
Dasselbe muß ggfs. auch für diejenigen in der Patentschrift genannten wesentlichen Dokumente gelten, die zwar nicht den nächstliegenden Stand der Technik bilden, deren Inhalt aber dennoch für das Verständnis der der Erfindung zugrundeliegenden Problematik wichtig ist im Sinne von Regel 27 (1) c) EPÜ.
Hieraus folgt, daß im vorliegenden Fall das Dokument D2 zum Inhalt der Patentschrift gehört und sich somit automatisch im Einspruchs(beschwerde)verfahren befindet.
2.2 Die Kammer hat diese Rechtsauffassung mit vorangegangenen Entscheidungen, in denen ähnliche Rechtsfragen behandelt wurden, verglichen und festgestellt, daß sie zu diesen Entscheidungen nicht im Widerspruch steht.
Die Entscheidung T 105/83 vom 9. Juli 1984 (nicht veröffentlicht) führt in Punkt 3 der Entscheidungsgründe aus:
"Die Entgegenhaltung (3) war im Recherchenbericht erwähnt und in die Patentschrift aufgenommen. Obwohl sie vor der Einspruchsabteilung keine Rolle spielte, war das Dokument in die Beschwerdebegründung eingeführt und hinreichend diskutiert. Es ist nicht im Sinne von Art. 114 (2) EPÜ verspätet vorgebracht worden."
In der Entscheidung T 198/88 vom 3. August 1989 (zur Veröffentlichung vorgesehen, Leitsatz veröffentlicht in ABl. EPA 4/90, Vorblatt) wird die Auffassung vertreten, daß das Einspruchsverfahren kein Verfahrensabschnitt des Erteilungsverfahrens sei. Aus diesem Grunde sei ein im angefochtenen europäischen Patent zitiertes und gewürdigtes Dokument nicht automatisch Gegenstand des Einspruchs- bzw. des Beschwerdeverfahrens, wenn es innerhalb der Einspruchsfrist nicht aufgegriffen worden ist.
Der dort behandelte Fall unterscheidet sich vom vorliegenden darin, daß das betreffende Dokument keinen Stand der Technik betraf, gegenüber dem die in der Beschreibung dargelegten Aufgabe formuliert war oder der sonst für das Verständnis der der Erfindung zugrundeliegenden Problematik und damit der Erfindung selbst notwendig war. Der Ausgangspunkt für die Formulierung der Aufgabe war vielmehr ein nicht belegter Stand der Technik, von dem die Kammer auch bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ausging, obwohl dieser nicht belegte Stand der Technik anscheinend innerhalb der Einspruchsfrist nicht genannt worden war (s. Punkte 4.1, 4.2). Der in dieser Entscheidung dargelegte Grundsatz, daß sich ein im angefochtenen Patent zitiertes und gewürdigtes Dokument nicht automatisch im Einspruchs(beschwerde)verfahren befindet, war somit nicht auf ein im angefochtenen Patent als nächstkommender Stand der Technik gewürdigtes Dokument oder sonst wesentliche Dokumente bezogen, von denen ausgehend die in der Beschreibung dargelegte technische Aufgabe ermittelt bzw. verständlich wurde.
2.3 Die Einspruchsabteilung hat unter Ziffer 12.2 i) der angefochtenen Entscheidung festgestellt, daß sie von der durch Art. 114 (2) EPÜ gegebenen Möglichkeit Gebrauch mache, das als verspätet vorgebracht gewertete Dokument D2 sowie das ebenfalls verspätet vorgebrachte Dokument D3 unberücksichtigt zu lassen. Jedoch hat sie unter Ziffer 12.2 e) bis h) die Relevanz der Dokumente D2 und D3 de facto überprüft und ist zu der Auffassung gelangt, daß diese Dokumente einzeln oder miteinander kombiniert der Aufrechterhaltung des angefochtenen Patents in der erteilten Fassung nicht entgegenstehen. Diese Schluß- folgerung ist in der angefochtenen Entscheidung auch begründet worden: in Ziffer 12.2 e) der Entscheidungsgründe wurde ausgeführt, daß der Gegenstand des Patentanspruchs durch die Dokumente D2 und D3 nicht bekannt geworden sei. Dies folge daraus, daß keines der Dokumente D2 oder D3 eine Verschlußklappe mit einer nach innen gerichteten Prägung beschreibe (Ziffer 12.2 g)). Ferner wurde zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit in Ziffer 12.2 f) und g) eine mosaikartige Betrachtung der Dokumente D2 und D3 durchgeführt und festgestellt, daß die Kombination dieser beiden Dokumente nicht alle Merkmale des Patentanspruchs verwirklichen würde.
2.4 Das Vorbringen der Beschwerdeführerin, daß der Gegenstand des Patentanspruchs durch die Kombination der Dokumente D2 und D3 nahegelegt worden sei, wurde daher in der angefochtenen Entscheidung berücksichtigt und aus der Sicht der Einspruchsabteilung widerlegt. Soweit die Beschwerdeführerin ihr Vorbringen bezüglich mangelnder erfinderischer Tätigkeit ausschließlich auf das Dokument D1 gestützt hatte, wurde dies ebenfalls in der angefochtenen Entscheidung berücksichtigt und widerlegt. Da die angefochtene Entscheidung somit de facto auf alle von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Argumente einging, liegt kein Verstoß gegen Regel 68 (2) EPÜ im Sinne eines Begründungsmangels und damit auch kein Verfahrensfehler vor.
2.5 Die beantragte Rückzahlung der Beschwerdegebühr wäre daher sachlich nicht gerechtfertigt. Sie ist im übrigen ohnehin ausgeschlossen, da eine der in Regel 67 EPÜ hierfür genannten Voraussetzungen, nämlich der Erfolg der Beschwerde, fehlt.
2.6 Eine Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung, um die Prüfung des Dokuments D2 in zwei Instanzen zu ermöglichen und somit einen Instanzverlust zu vermeiden, sieht die Kammer als unbegründet an, da wie oben ausgeführt das Dokument D2 schon von der Einspruchsabteilung de facto berücksichtigt worden ist.
2.7 Aus diesen Gründen waren die diesbezüglichen Anträge der Beschwerdeführerin zurückzuweisen.
Zum Antrag der Beschwerdeführerin auf Widerruf des Patents
3. Die von der Kammer aufgrund von Artikel 114 (1) EPÜ von Amts wegen durchgeführte Ermittlung hat ergeben, daß die Dokumente D3 und D5 im Hinblick auf die Beurteilung der Patentfähigkeit des Gegenstandes des angefochtenen Patents keine Bedeutung haben und daher in Anwendung des pflichtgemäßen Ermessens gemäß Artikel 114 (2) EPÜ nicht zu berücksichtigen sind.
Dieses Ergebnis bedarf keiner näheren Begründung (vgl. T 198/88 aaO, Ziffer 2.2).
Hinsichtlich des verspätet vorgebrachten Dokuments D4 hat dagegen die von Amts wegen durchgeführte Ermittlung ergeben, daß dieses Dokument zu berücksichtigen ist, weil es für die Beurteilung der Erfindung von wesentlicher Bedeutung ist, auch wenn - wie nachfolgend dargelegt wird -die Berücksichtigung dieses Dokuments im Ergebnis zu keiner anderen Entscheidung führt.
4. Keines der Dokumente beschreibt eine staubdichte Faltschachtel mit zwei an den Seitenwänden angelenkten und sich nur teilweise überlappenden Verschlußklappen sowie zwei an den Stirnwänden angelenkten Staubklappen, wobei nur eine der beiden Verschlußklappen entlang einer geraden Linie eine Prägung aufweist, die nach innen gerichtet ist und auf der Prägung beider Staubklappen aufliegt. Der Gegenstand des Patentanspruchs ist somit gegenüber diesem Stand der Technik neu. Dieser Sachverhalt wurde im Beschwerdeverfahren nicht bestritten, so daß sich ein näheres Eingehen hierauf erübrigt.
5. Die Prüfung, ob die staubdichte Faltschachtel nach dem Patentanspruch des angefochtenen Patents auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht, ergibt folgendes:
5.1 Das angefochtene Patent bezieht sich nach dem Oberbegriff des Patentanspruchs auf "eine staubdichte Faltschachtel, deren Boden und/oder Oberseite durch zwei an den Seitenwänden angelenkte und sich nur teilweise überlappende Verschlußklappen sowie durch zwei an den Stirnwänden angelenkte Staubklappen gebildet sind, wobei nur eine der beiden Verschlußklappen an ihrem freien Abschnitt eine Prägung entlang einer geraden Linie aufweist, an der die andere Verschlußklappe endet, die Staubklappen an der gleichen Stelle eine nach innen gerichtete Prägung aufweisen, die ebenfalls entlang einer geraden Linie verläuft, und eine Verschlußklappe zwischen der anderen Veschlußklappe und den Staubklappen liegt".
Eine Faltschachtel dieser Art ist aus dem Dokument D2 bekannt (siehe Spalte 1, Zeilen 3-19 der Patentschrift).
Die Patentinhaberin hat es als nachteilig angesehen, daß bei der Faltschachtel gemäß Dokument D2 der freie Längsrand der oben aufliegenden Verschlußklappe die darunterliegende, ungeprägte Verschlußklappe in voller Pappenstärke überragt. Dadurch bestehe die Gefahr, daß beim Palettieren, Endpalettieren und Einstapeln der Faltschachteln in Regale, insbesondere beim Übereinanderschieben gefüllter Einzelpackungen, die obenliegenden Verschlußklappen aufreißen (Spalte 1, Zeilen 40-49 der Patenschrift).
Die dem angefochtenen Patent zugrundeliegende Aufgabe kann daher, wie in der Patentschrift auf Seite 1, Zeilen 53-56 angegeben, darin gesehen werden, die eingangs erläuterte Faltschachtel hinsichtlich ihrer Handhabbarkeit zu verbessern.
5.2 Diese Aufgabe wird durch die im kennzeichnenden Teil des Patentanspruchs aufgeführten Merkmale gelöst, d. h. durch die Maßnahmen, daß die Prägung der einen Verschlußklappe nach innen gerichtet ist und auf der Prägung beider Staubklappen aufliegt.
5.3 Dokument D4 offenbart Faltschachteln, die gegenüber der gattungsbildenden Faltschachtel gemäß Dokument D2 einen höheren Materialverbrauch erfordern, da sich die beiden Verschlußklappen jeweils vollständig überlappen. Keine dieser beiden Verschlußklappen weist an ihrem freien Abschnitt eine Prägung entlang einer geraden Linie auf. Die Staubklappen haben überhaupt keine Prägung.
In Dokument D4 weist die in der von der Beschwerdeführerin in erster Linie herangezogenen Figur 18 dargestellte Verschlußklappe eine großflächige Prägung (28) auf. An deren Rändern enden die Staubklappen. Die Oberseite der Prägung sowie die Oberseite der Klappen haben die gleiche Höhe, so daß die in Fig. 18 gezeigte Oberfläche im Bereich der Staubklappen und der Prägung glattflächig ausgebildet ist. Aus der Fig. 18 ist somit zu erkennen, daß diese Glattflächigkeit dadurch erreicht wird, daß auf der die volle Schachtelbreite abdeckenden oberen Verschlußklappe die beiden Staubklappen aufliegen und die Verschlußklappe angrenzend an die Auflageflächen für die Staubklappen eine nach oben und außen gerichtete Prägung in Höhe der Kartonstärke der Staubklappen aufweist.
5.4 Die Beschwerdeführerin hat ausgeführt, daß der Fachmann aufgrund seines Fachwissens und der aus der Fig. 18 erhaltenen Anregung erkennt, daß er bei der bekannten Faltschachtel gemäß Dokument D2 die Boden- und Deckelflächen glattflächig gestalten könne, wenn er die Prägung von Dokument D2 anstatt nach außen nach innen ausrichtet. Diesem Argument kann nicht gefolgt werden: Es ist zwar durchaus richtig, daß es aus dem Dokument D4 bekannt ist, die Oberfläche von teilweise überlappenden Klappen mittels einer Prägung in einer Verschlußklappe glattflächig auszubilden. Jedoch lehrt diese Entgegenhaltung hierzu die Anordnung von sich auf die volle Schachtelbreite erstreckenden und sich in paralleler Lage überlappenden Verschlußklappen, die durch die vorliegende Erfindung gerade vermieden werden sollen. Außerdem soll durch diese bekannte Maßnahme die Aufgabe gelöst werden, für die sich über die volle Schachtelbreite erstreckende außenliegende Verschlußklappe eine glattflächige Auflage auszubilden, die eine einwandfreie Klebeverbindung mit dieser außenliegenden Verschlußklappe gewährleistet (siehe insbesondere Seite 3, Spalte 2, Zeilen 5-10 von Dokument D4).
Auch aufgrund dieser unterschiedlichen Aufgabe konnte die Lehre des Dokuments D4 nicht dazu anregen, entsprechende Maßnahmen zur Verbesserung der Handhabbarkeit vorzuschlagen, geschweige denn, diese Maßnahmen im Sinne der beanspruchten Lösung abzuändern.
5.5 Die Beschwerdeführerin hat ferner geltend gemacht, daß die zur Lösung der bestehenden Aufgabe vorgeschlagenen Maßnahmen bereits durch das allgemeine Fachwissen nahegelegt worden seien, da es ausgehend von der aus dem Dokument D2 bekannten Faltschachtel im Wissen des Fachmanns gelegen habe, die dort nach außen gerichtete Prägung nach innen gerichtet auszubilden, um durch Aufliegen der anderen Verschlußklappe auf diesem Bereich eine glattflächige Boden- bzw. Deckelfläche zu erzielen.
Der vorstehenden Argumentation liegt die Annahme zugrunde, daß der Fachmann es angestrebt habe, die Boden- bzw. Deckelfläche glattflächig auszubilden. Diese Interpretation der gestellten Aufgabe nimmt aber schon in unzulässiger Weise teilweise die Lösung vorweg (vgl. T 99/85, ABl. EPA 1987, 413). Daß die Boden- bwz. Deckelfläche glattflächig ausgebildet sind, ist bereits das Ergebnis der erfindungsgemäßen Lösung, beschreibt also letztlich die Funktion der Lösungsmerkmale.
Vor allem aber übersieht die Beschwerdeführerin, daß es bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht darauf ankommt, ob der Fachmann durch Modifikation des Standes der Technik zur Erfindung hätte gelangen können; zu fragen ist vielmehr, ob er im Lichte der bestehenden technischen Aufgabe, d. h. der angestrebten Verbesserung der bekannten Faltschachteln hinsichtlich ihrer Handhabbarkeit, und der verfügbaren Anregungen aus dem Stand der Technik so vorgegangen wäre. Dies ist, wie ausgeführt wurde, hier nicht der Fall. Es ist festzustellen, daß alle von der Beschwerdeführerin zitierten Dokumente übereinstimmend dem Fachmann die gleiche Lösung nahelegen, nämlich eine sich über die volle Schachtelbreite erstreckende außenliegende Verschlußklappe.
Es ist daher nicht erkennbar, wie dieser einheitlich durch vier Druckschriften dokumentierte Stand der Technik eine andere Anregung geben konnte als diejenige, Deckel bzw. Boden mit einer glatten durchgehenden Deckel- bzw. Bodenklappe abzudecken.
6. Der Gegenstand des Patentanspruchs ergibt sich deshalb nicht im Sinne von Artikel 56 EPÜ in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik und ist patentfähig.
Der Patentanspruch hat somit in der erteilten Fassung Bestand.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
2. Die Anträge auf Zurückverweisung an die Erstinstanz und auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr werden zurückgewiesen.