J 0006/86 (Zurücknahme) 28-01-1987
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1. Die Erklärung "Der Anmelder will diese Anmeldung fallenlassen" kann als eindeutige Zurücknahme einer europäischen Patentanmeldung betrachtet werden, sofern den Umständen, unter denen die Erklärung abgegeben worden ist, nichts zu entnehmen ist, was diese Auslegung einschränken könnte.
2. Artikel 125 EPÜ kommt nur zur Anwendung, wenn das Übereinkommen keine einschlägigen Verfahrensvorschriften enthält. Er kommt nicht zur Anwendung, wenn es sich bei der der Kammer vorgelegten Frage nur um die Auslegung einer bestimmten Erklärung handelt, die der Anmelder eines europäischen Patents dem EPA gegenüber abgegeben hat.
Zurücknahme - Verzicht
Auslegung einer bestimmten Erklärung
Sachverhalt und Anträge
I. Die Euro-PCT-Anmeldung Nr. 80 902 337.7 wurde am 24. Oktober 1980 unter Inanspruchnahme der Priorität zweier US-Voranmeldungen vom 5. November 1979 eingereicht.
II. Am 16. März 1984 übermittelte ein Formalsachbearbeiter der Prüfungsabteilung dem Vertreter der Beschwerdeführerin eine Mitteilung nach Regel 51 (4) und (5) EPÜ, daß die Prüfungsabteilung die Erteilung eines europäischen Patents auf die obengenannte Anmeldung beabsichtige.
III. Daraufhin teilte die Beschwerdeführerin der Prüfungsabteilung am 14. Juni 1984 mit, daß sie mit der in der Mitteilung vom 16. März 1984 vorgeschlagenen Fassung nicht einverstanden sei, und fügte hinzu: "Wir werden uns wegen der Berichtigungen, die die Anmelderin im einzelnen vorzunehmen wünscht, demnächst mit Ihnen in Verbindung setzen."
IV. Am 9. Januar 1985 rief der Formalsachbearbeiter den Vertreter der Beschwerdeführerin an und fragte nach den Berichtigungen, die noch nicht eingereicht worden seien; ihm wurde mitgeteilt, daß die Anmeldung fallengelassen werden sollte. Am 10. Januar 1985 sandte der Vertreter der Beschwerdeführerin dem EPA eine Bestätigung, die im wesentlichen aus dem einem Satz bestand: "Die Anmelderin will diese Anmeldung fallenlassen. "Der Eingang dieses Schreibens wurde am 4. Februar 1985 vom Formalsachbearbeiter mit einem Schreiben folgenden Wortlauts bestätigt: "Hiermit wird bestätigt, daß die Erklärung über die Zurücknahme der europäischen Patentanmeldung am 10. Januar 1985 eingegangen ist."
V. Am 20. Februar 1985 richtete der Vertreter der Beschwerdeführerin an das EPA ein Fernschreiben, das er später schriftlich bestätigte; darin erklärte er, daß er nicht die Absicht gehabt habe, die Anmeldung zurückzunehmen, und daß die Anmelderin nun die Weiterbehandlung der Anmeldung wünsche. Im weiteren Briefwechsel mit dem EPA machte er im wesentlichen geltend, er habe dem EPA gegenüber nur seine Absicht bekundet, die Sache fallenzulassen, d. h. keine weiteren Verfahrensschritte in Sachen der Anmeldung zu unternehmen. Dies könne nicht als förmliche Zurücknahme der Anmeldung angesehen werden. Das EPA hätte die Anmeldung von Rechts wegen zurückweisen müssen.
VI. Der Leiter der Formalprüfungsstelle der Generaldirektion 2 des EPA lehnte es mit Entscheidung vom 11. Oktober 1985 ab, das am 10. Januar 1985 eingereichte Schreiben nicht als Mitteilung der Zurücknahme zu verstehen.
VII. Am 10. Dezember 1985 reichte die Beschwerdeführerin Beschwerde ein ...
VIII. ... Diesen Ausführungen und den bereits in der Beschwerdebegründung abgegebenen Erklärungen zufolge sandte der Vertreter der Beschwerdeführerin, der von seiner Mandantin zum gegebenen Zeitpunkt nicht angewiesen worden war, die Erteilungsformalitäten für die vorliegende europäische Patentanmeldung zu erfüllen, das obengenannte Schreiben vom 14. Juni 1984 nur zu dem Zweck an das EPA, das Verfahren in der Schwebe zu halten und damit die Zurückweisung der Patentanmeldung zu verhindern. Der Vertreter erhielt später von seiner Mandantin ein vom 23. August 1984 datiertes Schreiben, in dem sie ihn bat, die Sache fallenzulassen oder zurückzunehmen; er teilte daraufhin seiner Mandantin am 5. September 1984 mit: "Wir lassen diese Anmeldung dadurch verfallen, daß wir die Erteilungsformalitäten beim EPA nicht erfüllen. Wir werden im Zusammenhang mit dieser Anmeldung keine weiteren Schritte unternehmen und haben die Akte geschlossen." Etwa zur selben Zeit änderte die Beschwerdeführerin jedoch ihre Ansicht und beschloß, die Sache wieder aufleben zu lassen. Sie erteilte die Anweisung, die Jahresgebühr für diese Anmeldung zu entrichten, versäumte es aber, den Vertreter davon zu unterrichten. Als die Sekretärin des Vertreters am 9. Januar 1985 den Telefonanruf des Formalsachbearbeiters erhielt, stellte sie fest, daß die Akte als fallengelassen gekennzeichnet war, und teilte dem Formalsachbearbeiter mit, daß die gewünschten Änderungen nicht eingereicht würden. Sie erklärte sich bereit, dem EPA dies schriftlich zu bestätigen, was am 10. Januar 1985 geschah; dieses Schreiben wurde am 4. Februar 1985 vom Formalsachbearbeiter als Zurücknahmeerklärung bestätigt. Am 18. Februar 1985 erhielt der Vertreter eine weitere Mitteilung seiner Mandantin mit der Anweisung, das Verfahren nach Regel 51 (4) EPÜ abzuschließen. Er schickte dann das oben genannte Fernschreiben vom 20. Februar 1985 an das EPA.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 und Regel 64 EPÜ; sie ist somit zulässig.
2. Die Kammer hat in früheren Entscheidungen die Auffassung vertreten, daß der objektive Inhalt eines Schreibens dafür ausschlaggebend ist, ob es ein vorbehaltloses Eingehen auf eine vom EPA gestellte Frage darstellt; der Inhalt des Schreibens ist aber nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit vorausgegangenen Bescheiden der Prüfungsabteilung und Schreiben des Anmelders auszulegen (s. J 24/82, J 25/82, J 26/82, ABl. EPA 1984, 467).
3. Im vorliegenden Fall hat der Vertreter der Beschwerdeführerin auf die "Ankündigung der Mitteilung nach Regel 51 (4) und (5) EPÜ" vom 16. März 1984 hin das Schreiben vom 14. Juni 1984 verfaßt, in dem er sein Nichteinverständnis mit der von der Prüfungsabteilung vorgeschlagenen Fassung erklärte und angab, daß er in Kürze einige Berichtigungen vorschlagen werde. Auf die mündliche Anfrage des Formalsachbearbeiters der Prüfungsabteilung am 9. Januar 1985 (d. h. mehr als 6 Monate später) hat er erwidert, daß die Anmeldung fallengelassen werden solle, und dies am 10. Januar 1985 schriftlich bestätigt. Aus diesem Zusammenhang geht klar hervor, daß sowohl der Formalsachbearbeiter mit seiner Bitte um Bestätigung der telefonischen Rücksprache als auch der Vertreter der Beschwerdeführerin mit der Absendung des Bestätigungsschreibens beabsichtigten, die Sache ohne förmliche Entscheidung zu beenden.
4. Unter diesen Umständen kann das Schreiben des Vertreters der Beschwerdeführerin, das nur aus dem Satz "Die Anmelderin will die Anmeldung fallen lassen" besteht, nicht anders ausgelegt werden. Gemeinhin gilt zwar, daß "Fallenlassen" schlichtweg Untätigkeit ist, durch Unterlassung der erforderlichen Verfahrensschritte also erreicht wird, daß die Anmeldung verfällt; wird jedoch, wie im vorliegenden Fall, der Wunsch nach einem Verzicht auf die Anmeldung dem EPA gegenüber vorbehalts- und bedingungslos geäußert und schriftlich mitgeteilt, so kann diese Handlung zu Recht als uneingeschränkte, unzweideutige Mitteilung der Zurücknahme angesehen werden. Obwohl die Formulierung das Wort "Zurücknahme" nicht enthält, ist die Absicht der Anmelderin von ihrem bevollmächtigten Vertreter deutlich zum Ausdruck gebracht worden und damit unwiderruflich. Diese Auffassung wird dadurch erhärtet, daß der Vertreter der Beschwerdeführerin gegen die Zurücknahmebestätigung vom 4. Februar 1985 nicht unverzüglich Einwand erhoben, sondern sein Fernschreiben vom 20. Februar 1985 erst abgesandt hat, nachdem er von seiner Mandantin angewiesen worden war, die Sache wieder aufleben zu lassen.
5. Die Tatsache, daß in einem anderen Fall ein Formalsachbearbeiter der Prüfungsabteilung etwa zur selben Zeit die Formulierung "Der Anmelder hat beschlossen, diese Anmeldung fallenzulassen. Bitte erstatten Sie die Erteilungs- und die Druckkostengebühr ..." als für eine förmliche Zurücknahme unzureichend erachtete, kann nicht als Präzedenzfall oder als Verfahrenspraxis gelten, auf die sich der Vertreter der Beschwerdeführerin im vorliegenden Fall berufen könnte.
6. Die Beschwerdeführerin hat auf verschiedene Kommentare zum nationalen Recht verwiesen und auch eine Entscheidung des deutschen Bundespatentgerichts vom 21. Dezember 1970* zitiert, die die Beschwerdekammer ihres Erachtens aufgrund des Artikels 125 EPÜ hätte berücksichtigen müssen. Die Kammer ist der Auffassung, daß Artikel 125 EPÜ seinem Wortlaut nach und aus dem Gesamtzusammenhang des EPÜ heraus nur dann zur Anwendung kommt, wenn einschlägige Verfahrensvorschriften im Übereinkommen fehlen. Im vorliegenden Fall handelt es sich bei der der Kammer vorgelegten Frage nicht um eine verfahrensrechtliche Frage, sondern ausschließlich um die Auslegung einer bestimmten Erklärung, die lautete: "Die Anmelderin will diese Anmeldung fallenlassen." Für die Auslegung dieser Erklärung gibt es keinen allgemein anerkannten Grundsatz des Verfahrensrechts im Sinne des Artikels 125 EPÜ.
7. Die Kammer ist daher der Auffassung, daß der Leiter der Formalprüfungsstelle der Generaldirektion 2 des EPA das Schreiben des Vertreters der Beschwerdeführerin vom 10. Januar 1985 zu Recht als verbindliche Mitteilung der Zurücknahme der europäischen Patentanmeldung ausgelegt hat.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die Beschwerde gegen die Entscheidung des Leiters der Formalprüfungsstelle der Generaldirektion 2 des Europäischen Patentamts vom 11. Oktober 1985 wird zurückgewiesen.