T 0680/16 05-03-2020
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STABILISIERTES, REINES LITHIUMMETALLPULVER UND VERFAHREN ZU DESSEN HERSTELLUNG
Spät eingereichter Hauptantag - zugelassen (ja)
Neuheit - Hauptantrag (ja)
Neuheit - Neuheit der Verwendung
Neuheit - zweite (bzw. weitere) nicht medizinische Verwendung
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung, mit der die Europäische Anmeldung Nr. 11 767 963.9 zurückgewiesen wurde.
II. In ihrer Entscheidung hat die Prüfungsabteilung festgestellt, dass der Gegenstand der unabhängigen Ansprüche 1, 6 und 10 des zugrundeliegenden Antrags nicht erfinderisch ist (Artikel 56 EPÜ).
III. Hiergegen hat die Anmelderin (im Folgenden: Beschwerdeführerin) Beschwerde eingelegt.
IV. In der als Anlage zur Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern 2007 (VOBK 2007) teilte die Kammer der Beschwerdeführerin ihre vorläufige Einschätzung der Beschwerde mit.
V. Die mündliche Verhandlung fand am 5. März 2020 statt. Während der mündlichen Verhandlung nahm die Beschwerdeführerin ihre mit der Beschwerdebegründung eingereichten Anträge zurück und reichte einen neuen Hauptantrag ein.
VI. Am Ende der Verhandlung bestand folgende Antragslage.
Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Erteilung eines Patents auf der Basis der Ansprüche 1 und 2 gemäß Hauptantrag eingereicht während der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer am 5. März 2020.
VII. Anspruch 1 gemäß Hauptantrag lautet:
"Verwendung von ungesättigte Fettsäuren, ausgewählt aus der Gruppe bestehend aus Ölsäure, Stearinsäure, Palmitinsäure, Laurinsäure, Myristinsäure, Margarinsäure, Palmitoleinsäure, Linolsäure, Linolensäure, in reiner Form oder Mischungen daraus eingesetzt werden oder deren Ester, beispielsweise die Triglyceride, Ethylate, Propanolate oder Butylate oder natürliche Öle, ausgewählt aus der Gruppe bestehend aus Rapsöl, Olivenöl, Sonnenblumenöl oder Leinsamenöl als Passivierungsmittel bei der Herstellung eines stabilisierten Lithiummetallpulvers, wobei reines Lithiummetall mit einem Natriumgehalt < 100 ppm oberhalb 180 °C unter Dispergierbedingungen mit dem Passivierungsmittel in Mengen von 1 g bis 10 g pro kg Lithiummetall in einem inerten organischen Lösungsmittel umgesetzt wird."
Anspruch 2 betrifft eine bevorzugte Ausführungsform der Verwendung gemäß Anspruch 1.
VIII. In der angefochtenen Entscheidung sind folgende Entgegenhaltungen genannt:
D1: US 2008/0283155 A1;
D2: CN 101522343 A;
D3: CN 101418406 A.
Die folgenden Dokumente wurden von der Kammer gemäß Artikel 114(1) EPÜ in das Verfahren aufgenommen.
D4: US 2003/228251 A1;
D5: US 6 207 126 B1;
D6: US 2004/0005267 A1.
IX. Vorbringen der Beschwerdeführerin
Die Dokumente D1 und D2 beschreiben ein Verfahren zur Herstellung eines Lithiumpulvers, dessen Stabilisierung mittels Phosphorsäure oder Kohlendioxid erfolge. Die in diesen Dokumenten eingesetzten Fettsäuren dienen lediglich als Dispergiermittel und nicht als Passivierungsmittel.
Die in Anspruch 1 definierte Verwendung sei gemäß den in G6/88 aufgestellten Prinzipien neu und werde durch den zitierten Stand der Technik auch nicht nahegelegt.
Entscheidungsgründe
1. Anwendbare Verfahrensordnung der Beschwerdekammern
1.1 Die Beschwerde ist am 22. Dezember 2015 eingereicht worden, d. h. vor dem Inkrafttreten der revidierten Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK 2020) am 1. Januar 2020. Diese ist für am Tag des Inkrafttretens bereits anhängige Beschwerden ebenso anwendbar wie für danach eingelegte Beschwerden (Artikel 25 (1) VOBK 2020).
1.2 Da die Ladung zur mündlichen Verhandlung am 27. März 2019 und damit vor dem Inkrafttreten der VOBK 2020 zugestellt wurde, war in der mündlichen Verhandlung am 5. März 2020 gemäß Artikel 25 (1) und (3) VOBK 2020 für Fragen der Änderung des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten Artikel 13 (1) und (3) VOBK 2020 anzuwenden, nicht aber Artikel 13 (2) VOBK 2020.
1.3 Die in Artikel 13 (1) VOBK 2020 enthaltenen Kriterien der Ermessensausübung bei der Zulassung geänderten Vorbringens beruhen im Wesentlichen auf der in der ständigen Rechtsprechung im Hinblick auf Artikel 13 (1) und (3) VOBK 2007 Entwickelten, wobei auch auf Artikel 12(4) bis 12(6) VOBK 2020 verwiesen wird.
2. Zulässigkeit des Hauptantrags
2.1 Der Hauptantrag wurde während der mündlichen Verhandlung am 5. März 2020 eingereicht.
Die Zulassung dieses Antrags steht daher gemäß Artikel 13(1) VOBK 2020 im Ermessen der Kammer.
2.2 Nach ständiger Rechtsprechung (Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9. Auflage, 2020, Kapitel V.A.4.2.2) ist die Zulassung neuer Anträge in einem späten Verfahrensstadium nur dann verfahrensökonomisch, wenn sie von vornherein geeignet sind, die Zweifel an der Gewährbarkeit der Ansprüche auszuräumen.
Unter Ausübung ihres Ermessens hat die Beschwerdekammer daher im vorliegenden Fall zu prüfen, ob der Hilfsantrag prima facie geeignet ist, die Zweifel an der Gewährbarkeit der Ansprüche auszuräumen.
Anspruch 1 gemäß Hauptantrag ist im Gegensatz zu dem der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Anspruch 1 nicht mehr auf ein Verfahren zur Herstellung eines stabilisierten Lithiumpulvers gerichtet, sondern auf eine Verwendung von ungesättigten Fettsäuren oder deren Ester als Passivierungsmittel.
Diese Änderung der Anspruchskategorie grenzt den beanspruchten Gegenstand auf Anhieb erkennbar von dem in der angefochtenen Entscheidung beschriebenen Stand der Technik D1 und D2 ab.
Folglich ist dieser Antrag von vornherein dazu geeignet, die in der angefochtenen Entscheidung diskutierten Zweifel an der Gewährbarkeit der Ansprüche auszuräumen.
Weiterhin beruht der Gegenstand des geänderten Anspruchs 1 auf der technischen Lehre der ursprünglichen Ansprüche 7 bis 9, wirft in Bezug auf die Klarheit keine unmittelbar erkennbaren Probleme auf und ist durch die Lehre der Beispiele der Anmeldung gestützt.
Unter Berücksichtigung dieser besonderen Umstände lässt die Kammer diesen Antrag unter Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 13 (1) VOBK 2020 in das Verfahren zu.
3. Artikel 54 EPÜ
3.1 D1 offenbart in Beispiel 1 die Herstellung eines stabilisierten Lithiumpulvers, das eine für Batterien erforderliche Reinheit ("battery grade lithium metal") aufweist. Dazu werden 411 g Li-Metall-Stücke in 1078 g eines inerten Mineralöls bei ca. 200°C geschmolzen und nach Zugabe von 8,22 g Ölsäure unter Rühren suspendiert. Die eingesetzte Menge an Ölsäure entspricht einem Einsatz von 20 g Ölsäure auf 1 kg Lithium.
In Hinblick auf den Einsatzzweck der Ölsäure wird in D1 offenbart, dass diese im Dispergierungsschritt eingesetzt wird. Die eigentliche Passivierung des Lithiumpulvers erfolgt gemäß Beispiel 1 der D1 mittels Phosphorsäure, die eine Lithiumphosphatschutzschicht erzeugt, siehe Absatz [0021] der D1.
Die weiteren Beispiele der D1 offenbaren ebenfalls den Einsatz von Phosphorsäure bzw. alternativ den Einsatz von Fluorierungsmitteln zur Passivierung des Lithiumpulvers.
3.2 D2 offenbart in Beispiel 11 ein zu dem in Beispiel 1 der D1 ähnliches Herstellungsverfahren für ein stabilisiertes Lithiumpulver, bei dem ebenfalls Lithium in einer für Batterien erforderlichen Reinheit mit Ölsäure als Dispergiermittel im geschmolzenen Zustand in einem inerten Mineralöl dispergiert wird.
Die Passivierung erfolgt mit Wachs und Kohlendioxid.
3.3 D1 und D2 offenbaren daher zwar den Einsatz einer Fettsäure zur Herstellung eines stabilisierten Lithiummetallpulvers. Allerdings wird die Fettsäure in diesem Verfahren nicht für den in Anspruch 1 definierten, nicht-medizinischen weiteren Einsatzzweck verwendet.
Der Gegenstand des Anspruchs 1 unterscheidet sich von der Offenbarung in D1 und D2 daher unter Anwendung der in G6/88 entwickelten Grundsätze jeweils dadurch, dass die Fettsäure selbst als Passivierungsmittel eingesetzt wird. Weiterhin unterscheidet sich der Gegenstand gemäß Anspruch 1 dadurch, dass die Einsatzmenge des Passivierungsmittels zwischen 1 g und 10 g pro 1 kg Lithiummetall liegt.
4. Artikel 56 EPÜ
4.1 D1 und D2 offenbaren ähnlich der Anmeldung ein Verfahren zur Herstellung eines stabilisierten Lithiummetallpulvers und stellen daher jeweils einen geeigneten nächstliegenden Stand der Technik dar.
Unter Berücksichtigung der in Punkt 3.3 festgestellten Unterscheidungsmerkmale kann die objektive technische Aufgabe darin gesehen werden, eine alternative Methode zur Passivierung von Lithiummetallpulver bereitzustellen.
In den Dokumenten D1 und D2 werden Fettsäuren wie Ölsäure zwar als Dispergiermittel für die Herstellung eines stabilisierten Lithiummetallpulvers beschrieben. Eine technische Lehre dahingehend, dass Fettsäuren wie Ölsäure auch direkt selbst zur Passivierung des Lithiummetallpulvers verwendet werden können, ist aus D1 oder D2 weder bekannt noch daraus ableitbar.
Der Gegenstand des Anspruchs 1 ist daher ausgehend von D1 oder D2 nicht naheliegend und erfüllt daher die Erfordernisse des Artikels 56 EPÜ.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen mit der Anordnung, ein Patent in folgender Fassung zu erteilen:
- Ansprüche 1 und 2 des in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hauptantrags,
- Beschreibung, Seiten 1, 2, 4, 6, 7 und 9 der ursprünglich eingereichten Anmeldung und Seiten 3, 3a, 5 und 8 eingereicht in der mündlichen Verhandlung und
- Figuren 1 bis 5 der ursprünglich eingereichten Anmeldung.