T 1309/21 18-04-2023
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Flurförderzeug mit Anzeige- und Bedienvorrichtung
Spät eingereichte Beweismittel - Ermessensfehler in erster Instanz (nein)
Spät eingereichte Beweismittel - Umstände der Beschwerdesache rechtfertigen Zulassung (nein)
Neuheit - (ja)
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, mit der der Einspruch gegen das europäische Patent 2889253 zurückgewiesen worden ist.
II. Folgende Entgegenhaltungen sind für diese Entscheidung relevant:
D1: GB 2 360 500 A;
D2: US 2009/312900 A1;
D3: DE 10 2010 010 441 A1;
D4: WO 00/21765 A1;
D11: EKS/EKX 513/515k/515 "Operating instructions";
D11a: Flurförderzeug EKX515 Ser.No. FN422796:
Elektronischer Ersatzteilkatalog von EKX515
FN422796;
D11b: Flurförderzeug EKX515 Ser. No. FN422796:
Lieferung Spezifikation eines Jungheinrichs
EKX515 von 16. August 2011;
D11c: Flurförderzeuge EKX515 Ser. No. FN422796:
Liste der demontierten Komponenten,
unterzeichnet;
D11d: Flurförderzeuge EKX515 Ser. No. FN422796:
Rundgang durch das Jungheinrich SAP-System;
D11e: Eidesstattliche Erklärung von Herrn Fendrl;
D11fEN: Eidesstattliche Erklärung von Herrn Stubbe
auf Englisch;
D11fDE: Eidesstattliche Erklärung von Herrn Stubbe
auf Deutsch;
D12: JP2008-63115 A;
D12a: Maschinen0bersetzung der JP2008-63115 A;
D13: EFXac 100/125 "Operating instructions";
D14: Entscheidung der Einspruchsabteilung
zum EP99850213.2;
D15: Betriebsanleitung ETX-Kombi; und
D16: Directive 2006/42/EC of the European
Parliament and of the Council.
Die Dokumente D11a bis D11e und D16 reichte die Einsprechende erstmals mit der Beschwerdebegründung ein und die Dokumente D11fEN, D11fDE mit Eingabe von 16. November 2021.
III. Die Einspruchsabteilung befand in ihrer Entscheidung unter anderem, dass der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 neu gegenüber D1 und D3 sei und auf einer erfinderischen Tätigkeit ausgehend von D1 in Kombination mit D2 oder D4 beruhe.
Weiterhin hat die Einspruchsabteilung unter Ausübung ihres Ermessens die Dokumente D11 bis D15 in das Verfahren nicht zugelassen.
IV. Am 18. April 2023 wurde vor der Beschwerdekammer mündlich verhandelt.
Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde (Hauptantrag), hilfsweise die Aufrechterhaltung des europäischen Patents in geänderter Form gemäß einem der mit der Beschwerdeerwiderung am 1. März 2022 eingereichten Hilfsanträge 1 bis 3.
V. Der Anspruch 1 gemäß Hauptantrag, d.h. der erteilten Fassung, lautet wie folgt (Merkmalsgliederung gemäß der angefochtenen Entscheidung):
M1 "Flurförderzeug mit
M2 einem Steuerungsrechner zur Ansteuerung von Fahr- und
Arbeitsfunktionen
M3 sowie mit mindestens einer Anzeige- und
Bedienvorrichtung (2), die zur Anzeige von Informationen zu den Fahr-und Arbeitsfunktionen durch den Steuerungsrechner einen Bildschirm (1) aufweist und
M4 mit Schaltelementen (3), die mit dem Bildschirm (1)
verknüpft sind und durch die Eingaben erfolgen können,
M5a wobei die Schaltelemente (3) dem Rand des Bildschirms
(1) und
M5b jeweils einer Symbol- und/oder Textanzeige (4) für eine
Unterauswahl am Rand des Bildschirms (1) zugeordnet sind,
M6 so dass bei Betätigung des Schaltelements (3) die
Unterauswahl zur Steuerung sekundärer Funktionen mit weiteren Eingabemöglichkeiten auf dem Bildschirm (1) angezeigt wird,
dadurch gekennzeichnet, dass
M7 die sekundären Funktionen die Ansteuerung einer
Beleuchtung des Flurförderzeugs und/oder Funktionen von Scheibenwischern und/oder Steuerungsfunktionen einer Heizung und/oder Steuerungsfunktionen einer Klimatisierung umfassen."
Entscheidungsgründe
1. Beweismittel - Zulassung
1.1 Die Dokumente D11 bis D15 sowie D11a bis D11e, D11fEN, D11fDE und D16 sind nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen (Artikel 12(6) VOBK 2020; Verfahrensordnung der Beschwerdekammern, Amtsblatt EPA 2019, A63).
1.2 Die Einspruchsabteilung hat die Dokumente D11 bis D15 nicht zugelassen. Nach einer prima facie Prüfung ihrer Relevanz ist die Einspruchsabteilung zum Schluss gekommen, dass keines der Dokumente D11, D13, D14 und D15 die Zugänglichkeit des in D11 und D13 offenbarten Gegenstands vor den Prioritätsdaten des strittigen Patents nachweisen könnten.
Hinsichtlich D12 hat die Einspruchsabteilung festgestellt, dass aus der Argumentation der Einsprechenden nicht zu erkennen war, dass - wie behauptet - D1 in Kombination mit D12 in naheliegender Weise zum Gegenstand des Anspruchs 1 führen würde. Aus diesem Grund hat die Einspruchsabteilung das Dokument D12 als nicht prima facie relevant angesehen.
1.3 Die Beschwerdeführerin brachte zunächst vor, dass die Dokumente D11, D12, D13 sowie D14 und D15 als prima facie relevant zu bezeichnet wären und zwar aus denselben Gründen wie in ihrem während des Einspruchsverfahrens eingereichten Schreiben vom 8. April 2020 näher erläutert war. Die Einspruchsabteilung hätte daher diese Dokumente unter Berücksichtigung des von der Beschwerdeführerin im Einspruchsverfahren eingereichten Vorbringens zulassen sollen, auch unter Berücksichtigung dass diese Dokumente ihr nicht früher zur Verfügung als zum Zeitpunkt seiner Einreichung während des Einspruchsverfahren stand.
1.3.1 Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Beschwerdekammern ist es bei einer angefochtenen Ermessensentscheidung der ersten Instanz nicht Aufgabe der Beschwerdekammer, die Sachlage nochmals wie ein erstinstanzliches Organ zu prüfen, um zu entscheiden, ob sie das Ermessen in der selben Weise ausgeübt hätte.
Die Kammer sollte sich daher nur dann über die Art und Weise, in der die erste Instanz das Ermessen ausgeübt hat, hinwegsetzen, wenn sie zu dem Schluss gelangt, dass die erste Instanz ihr Ermessen nach Maßgabe der falschen Kriterien, unter Nichtbeachtung der richtigen Kriterien oder in willkürlicher Weise ausgeübt hat, vgl. "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 10. Auflage, V.A.3.4.1 b).
1.3.2 Die Beschwerdeführerin stellt jedoch die Richtigkeit der Ausübung des Ermessens der Einspruchsabteilung nicht in Frage. Sie wiederholt lediglich ihr Vorbringen aus dem Verfahren vor der Einspruchsabteilung und erklärt, dass die Einspruchsabteilung anders entscheiden hätte müssen.
Aus Sicht der Kammer hat die Einspruchsabteilung die prima facie Relevanz von D11 bis D15 geprüft und ist zum Schluss gekommen, dass diese zu verneinen war. Somit hat sie ihr Ermessen nach Maßgabe der richtigen Kriterien und nicht in unangemessener Weise ausgeübt. Somit ergibt sich auch aus Sicht der Kammer kein Fehler in der Ausübung des Ermessens und somit keinen Grund die Ermessensentscheidung der Einspruchsabteilung aufzuheben.
1.4 Des weiteren beantragte die Beschwerdeführerin die Zulassung von D11 und D13 in das Beschwerdeverfahren aus folgenden Gründen.
Die erstmals im Beschwerdeverfahren eingereichten Dokumenten D11a-D11e, D11fEN/DE und D16 rechtfertigten eine Zulassung von D11 und D13, weil diese Dokumente die Zugänglichkeit von D11 und D13 zweifelsfrei bewiesen. Diese Dokumente stammten von einer dritten Firma, die ein Mitbewerber der Beschwerdeführerin und Beschwerdegegnerin sei. Die Beschwerdeführerin habe auf die Antwort der Firma nach ihrer Anfrage lange warten müssen. Deshalb habe sie weder vorherige Kenntnis noch Zugang zu den nun vorgelegten Dokumenten und konnte sie nicht rechzeitig einreichen. Diese Umstände rechtfertigten nun eine Zulassung erst im Beschwerdeverfahren.
1.4.1 Gemäß Artikel 12(6), Absatz 1 VOBK 2020 lässt die Kammer Anträge, Tatsachen, Einwände oder Beweismittel, die in dem Verfahren, das zu der angefochtenen Entscheidung geführt hat, nicht zugelassen wurden, nicht zu, es sei denn, die Entscheidung über die Nichtzulassung war ermessensfehlerhaft oder die Umstände der Beschwerdesache rechtfertigen eine Zulassung.
1.4.2 Dass die Entscheidung über die Nichtzulassung nicht ermessensfehlerhaft war, hat die Kammer bereits festgestellt, siehe oben, Punkt 1.3.2 ff.
1.4.3 Auch die Umstände der Beschwerdesache rechtfertigen die Zulassung von D11 bis D15 nicht, da sich aus Sicht der Kammer der Sachverhalt nicht verändert hat. Es ist immer noch das erteilte Patent angegriffen.
1.4.4 Weiterhin ändert die Einreichung der Dokumente D11a-D11e, D11fEN/DE und D16 (die die Zugänglichkeit von D11 und D13 vor den Prioritätsdaten des strittigen Patents beweisen sollen) die Umstände im Beschwerdeverfahren nicht, da diese schon mit der Einspruchsschrift hätten eingereicht werden sollen, mindestens aber im Verlaufe des Verfahrens vor der Einspruchsabteilung.
1.4.5 Für die Behauptungen, dass die Dokumente D11a-D11e, D11fEN/DE und D16 nicht früher hätten eingereicht werden können, hat die Beschwerdeführerin keine Beweise vorgelegt, insofern bleibt dieses Argument unberücksichtigt.
Eine bloße Unkenntnis dieser Dokumente reicht aber als Grund für eine Zulassung in diesem Stadium des Verfahrens nicht aus.
Die Umstände der Beschwerdesache rechtfertigten daher weder die Einreichung der Dokumente D11a-D11e, D11fEN/DE und D16 noch eine Zulassung von D11 und D13 nach Artikel 12(6) Absatz 1 VOBK 2020, letzter Halbsatz.
2. Neuheit - Artikel 54 EPÜ
2.1 Der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 ist neu gegenüber die Offenbarungen von D1 und D3.
2.2 Die Beschwerdeführerin brachte hinsichtlich der Neuheit des Gegenstands von Anspruch 1 gegenüber D1 die gleiche Argumente vor, die sie bereits im Einspruchsverfahren vorgetragen hatte. Insbesondere sei aus D1 eine Steuerung einer Heizungsanlage/eines Gebläses implizit, da das Flurförderzeug von D1 eine Kabine hat. Das Kriterium der eindeutigen Ableitbarkeit sei jedoch vielleicht etwas weit hergeholt.
2.3 Die Einspruchsabteilung hat diese in der angefochtenen Entscheidung ausführlich berücksichtigt und darüber entschieden. Die Beschwerdeführerin hat es versäumt vorzutragen, weshalb die Entscheidung der Einspruchsabteilung diesbezüglich inkorrekt sein soll. Die Kammer teilt die Ansicht der Einspruchsabteilung in der Entscheidung und macht sich die Begründung der Einspruchsabteilung in diesem Aspekt zu eigen (Artikel 15(8) VOBK 2020). Zudem stellt die Kammer fest - wie von der Beschwerdegegnerin vorgetragen - dass eine Kabine des Flurförderzeugs auch nicht unmittelbar und eindeutig aus der Figur 1 von D1 offenbart ist. Ob die gezeichnete Linien den Umfang einer Kabine darstellen, lässt sich aus der schematische Figur von D1 nicht eindeutig und unmittelbar erschließen.
D1 offenbart somit zumindest Merkmal M7 des erteilten Anspruchs 1 nicht.
2.4 Hinsichtlich D3 ist die Entscheidung der Einspruchsabteilung auch korrekt. D3 betrifft ein Belüftungs- und Klimasystem eines unspezifizierten Kraftfahrzeugs. Es geht aus D3 nicht unmittelbar und eindeutig, explizit oder implizit, hervor, dass das Kraftfahrzeug ein Flurförderzeug ist.
2.5 Die Beschwerdeführerin brachte vor, dass das in D3 beschriebene Kraftfahrzeug mit einem Flurförderzeug gleichzusetzen sei. Weiterhin sei die Offenbarung von D3 geeignet für einen Flurförderzeug.
2.6 Selbst wenn ein Flurförderzeug eine Untergruppe eines Kraftfahrzeuges darstellen sollte, ist trotzdem im Streitpatent ein Flurförderzeug (spezielle Offenbarung) und eben kein Kraftfahrzeug (allgemeine Offenbarung) beansprucht. Dass die in D3 offenbarten System geeignet für Flurförderzeuge sei - wie von der Beschwerdeführerin vorgetragen - ändert daran nichts. Es folgt daraus, dass D3 keinen Flurförderzeug offenbart (Merkmal M1).
3. Erfinderische Tätigkeit - Artikel 56 EPÜ
3.1 Der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 wird nicht durch die Kombination von D1 mit D2 oder D4 nahegelegt.
3.2 Beide Parteien waren sich einig, dass sich der Gegenstand des Anspruchs 1 zumindest durch Merkmal M7 gegenüber dem in D1 offenbarten Flurförderzeug unterscheidet.
Das Merkmal M7 enthält mehrere "und/oder" Formulierungen. Demnach werden im breitesten Sinn vier unabhängige Flurförderzeuge definiert, nämlich ein Flurförderzeug in dem die sekundären Funktionen umfassen die Ansteuerung:
i) einer Beleuchtung des Flurförderzeugs;
ii) Funktionen von Scheibenwischern;
iii) Steuerungsfunktionen einer Heizung; und
iv) Steuerungsfunktionen einer Klimatisierung.
Die sekundären Funktionen in D1 umfassen die Einstellungen zum Fahrbetrieb (54), Hubmodus (56), Computer/Wartung (58) und Daten/Mobilfunk (60).
3.3 Die Beschwerdeführerin formulierte die aus diesem Unterschied resultierende objektive technische Aufgabe als ein Flurförderzeug zu entwickeln, das an einen bestimmten Verwendungszweck angepasst sei, wo der Platz für die Anpassung begrenzt sei.
Da der Flurförderzeug von D1 für den Einsatz im Freien vorgesehen sei (Kommunikationssysteme "out-of house"; Seite 9, Zeilen 14 bis 18 von D1), erfolge eine Anpassung an die Nutzung in warmen/kalten Umgebungen. Der Fachmann würde dementsprechend die Fachliteratur nach Anpassungen durchsuchen. Dabei würde er auf D2 oder D4 stoßen.
D2, das sich auf Kraftfahrzeuge mit einer Vielzahl von Steuerungseinrichtungen beziehe, offenbare unter anderem Klimasteuerungssysteme. Der Fachmann würde diese Klimasteuerungssysteme von D2 bei der Anpassung des Industrielastwagens von D1 verwenden. Hierbei würde er die Anzeige- und Bedienvorrichtung von D1 nutzen und Unterhauswahlen für die Klimasteuerung mit einem neuen Schaltelement zur Adressierung der zusätzlichen Funktionalität hinzufügen, um so zu dem beanspruchten Gegenstand nach Anspruch 1 zu gelangen.
D4, das ebenfalls mit Kraftfahrzeugen zusammenhänge, offenbare ein Klimasteuerungssystem, das einen Touchscreen-Display mit integrierten Schaltern verwende, der je nach von den Schaltern gewählten Funktionen das Aussehen ändern könne. Der Fachmann würde auf die gleiche Weise wie für D2, D1 mit D4 kombinieren, um zu der Erfindung gemäß Anspruch 1 zu gelangen.
3.4 Die Argumente der Beschwerdeführerin überzeugen nicht. D1 offenbart keine Beleuchtung, Scheibenwischern, Heizung oder Klimatisierung des Flurförderzeugs. Um die von der Beschwerdeführerin formulierte objektive technische Aufgabe zu lösen, müsste der Fachmann dann ausgehend von D1 zum einen das darin offenbarte Flurförderzeug mit einem von diesen Systemen (insbesondere Klimasysteme) versehen und darüber hinaus seine Ansteuerung genau über die Anzeige- und Bedienvorrichtung 52 von D1 derart durchführen, wie beansprucht. Weder D2 noch D4 geben jedoch dem Fachmann einen derartigen Hinweis, da sie kein Flurförderzeug offenbaren, das mit einem von diesen Systemen ausgestattet ist. Die Argumentationslinie der Beschwerdeführerin scheitert bereits aus diesem Grund.
Darüber hinaus, selbst wenn der Fachmann die Systeme für Kraftfahrzeuge aus D2 oder D4 in den Flurförderzeug in Betracht ziehen würde, fehlt ihm jegliche Hinweis, sich zusätzlich die Funktionen der in D2 und D4 offenbarten Anzeige-Bedienvorrichtung in die in D1 gezeigte Anzeige-Bedienvorrichtung zu implementieren.
4. Daraus folgt, dass die Beschwerde der Einsprechenden unbegründet ist.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.