T 0009/81 (Cytostatische Kombination) 25-01-1983
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Anspruchskategorie
Zweckbestimmung
Kit-of-parts
Sachverhalt und Anträge
I. Die am 6. Dezember 1978 angemeldete und am 21. Juni 1979 veröffentlichte Patentanmeldung 78 101 583.9 mit der Veröffentlichungsnummer 0 002 495, für welche die Priorität der Voranmeldungen in der Bundesrepublik Deutschland vom 14. Dezember 1977 und 23. Juni 1978 in Anspruch genommen wird, wurde durch die Entscheidung der Prüfungsabteilung des Europäischen Patentamts vom 29. Oktober 1980 zurückgewiesen. In der Entscheidung wurde zwar die Patentfähigkeit des Gegenstands der Ansprüche 6 bis 10 anerkannt, jedoch wurden die Ansprüche 1 bis 5, die auf Verwendungen von Stoffen bei einer cytostatischen Therapie gerichtet waren, als nicht gewährbar angesehen. Die Ansprüche 1 und 6 haben folgenden Wortlaut:
"1. Verwendung von pharmakologisch annehmbaren Salzen einer Mercaptoalkansulfonsäure der allgemeinen Formel
HS-alk-SO3H,
worin alk ein geradkettiger oder verzweigter Alkylenrest mit 2 bis 6 Kohlenstoffatomen ist, bei der cytostatischen Therapie mit Alkylantien.
6. Pharmazeutische Produkte, enthaltend ein pharmakologisch annehmbares Salz einer Mercaptoalkansulfonsäure der allgemeinen Formel
HS-alk-SO3H,
worin alk ein geradkettiger oder verzweigter Alkylenrest mit 2 bis 6 Kohlenstoffatomen ist, und ein Alkylans-Cytostatikum."
II. Gegen diese Entscheidung richtet sich die am 19. Dezember 1980 unter Einzahlung der Beschwerdegebühr eingelegte Beschwerde der Anmelderin, die am 26. Februar 1981 begründet wurde. Mit Schriftsatz vom 10. Dezember 1982 wurde das Schutzbegehren auf Mittel zur Verhinderung von Schädigungen durch Oxazaphosphorin-Metaboliten beschränkt, die 2-Mercaptoethansulfonsäure entweder als alleinigen Wirkstoff (Ansprüche 1 und 2) oder zusammen mit einen Oxazaphosphorincytostatikum enthalten (Ansprüche 3 bis 6). Im Verlauf der mündlichen Vorhandlung am 25. Januar 1983 wurden drei Patentansprüche mit folgendem Wortlaut vorgelegt:
"1. Erzeugnisse, enthaltend ein Oxazaphosphorin-Cytostatikum und das Natriumsalz der 2-Mercaptoethansulfonsäure als Kombinationspräparat zur gleichzeitigen, getrennten oder zeitlich abgestuften Anwendung in der cytostatischen Therapie.
2. Erzeugnis gemäß Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, daß es als Oxazaphosphorin - Cytostatikum 2-/N,N - Bis - (2-chlorethyl) - amino/ - 3 - (2 - chlorethyl)-2 - oxo - 1,3,2 - oxazaphosphorinan (Trofosfamid), 2 - /N - (2 - chlorethyl) - amino/-3 - (2 - chlorethyl)-2-oxo-1,3,2-oxazaphosphorinan (Ifosfamid), 2 - /N,N - Bis-(2 - chlorethyl) - amino/ - 2 - oxo - 1,3,2-oxazaphosphorinan (Cyclophosphamid) oder 2 - (2 - Mesyloxyethylamino) - 3 - (2-chlorethyl) - 2 - oxo - 1,3,2 - oxazaphosphorinan (Sufosfamid) enthält.
3. Erzeugnisse gemäß Patentansprüchen 1 und 2, dadurch gekennzeichnet, daß sie das Natriumsalz der 2-Mercaptoethansulfonsäure und das Oxazaphosphorin-Cytostatikum in einem Gewichtsverhältnis von mindestens 0,2:1 enthalten." Die Beschwerdeführerin beantragt, den Zurückweisungsbeschluß aufzuheben und ein Patent auf der Grundlage dieser drei Ansprüche zu erteilen.
III. Zur Beschwerdebegründung wurde zuletzt folgendes vorgetragen: Die vorliegende Erfindung sei für die häufig angewendete Chemotherapie von Krebs mit Oxazaphosphorin-Cytostatika von großer Bedeutung. Eine Behandlung von Patienten mit solchen Cytostatika führe zu schweren Schäden an Niere, Harnwegen und Harnblase, so daß die Therapie in der Regel unterbrochen oder gänzlich abgebrochen werden müsse. Die Erfindung basiere auf der Erkenntnis, daß diese Schäden bei Mitverabreichung von 2-mercaptoethansulfonsaurem Natrium nicht auftreten. Die Entgiftungsfunktion dieses Salzes auf die Oxazaphosphorin-Metaboliten könne z. B. bei gleichzeitiger Gabe beider Komponenten beobachtet werden, es sei aber auch günstig, diese Komponenten getrennt oder zeitlich abgestuft anzuwenden. Das beanspruchte Erzeugnis könne daher auch das Nebeneinander der beiden Wirkstoffe in Ampullen für die intravenöse Injektion enthalten. Im Hinblick auf diese umfassende neue, unstreitig erfinderische Lehre müsse ein adäquater Schutz für alle diese Varianten, wenigstens in Form von Erzeugnisschutz gefordert werden.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 und Regel 64 EPÜ; sie ist daher zulässig.
2. Im vorliegenden Fall bestehen keine verfahrensrechtlichen Bedenken (R. 86(3) i. V. m. R. 66(1)EPÜ), die erst in der mündlichen Verhandlung am 25. Januar 1983 vorgelegten Patentansprüche anzunehmen, weil sie sich im Rahmen der Anspruchskategorie bewegen, auf die sich die Kammer im Hinblick auf die Erklärung im Schriftsatz vom 10. Dezember 1982 (Seite 1) zur Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung ausschließlich einstellen mußte.
3. Die derzeit geltende Fassung der Ansprüche ist in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden, weil sie in der ursprünglich eingereichten Beschreibung ihre Stütze findet (siehe insbesondere Anspruch6; Seite 5, Zeilen 19-29; Seite 1, Zeilen 1-5, Seite 6, Zeile 1 und Ansprüche 9 und 10). Zudem sind die Ansprüche in der durch Artikel 54(5) EPÜ vorgesehenen Form abgefaßt.
4. Der geltende Anspruch bezieht sich auf ein Kombinationspräparat, das ein Oxazaphosphorin-Cytostatikum und das Natriumsalz der 2-Mercaptoethansulfonsäure als therapeutische Wirkstoffe enthält. Der erstgenannte Bestandteil des Erzeugnisses ist bekannt (siehe Seite 1 der vorliegenden Anmeldung), der zweite ist nach DE-A-1 620 629 ein bekanntes Mucolytikum. Cytostatika werden normalerweise intravenös appliziert, das Natrium - 2 - mercaptoethansulfonat wird bevorzugt in der Form eines Aerosols unmittelbar an der Schleimhaut angewendet, kann aber auch oral und parenteral verabreicht werden. Die beiden Wirkstoffe wurden jedoch nach dem der Kammer vorliegenden druckschriftlichen Stand der Technik niemals zusammen für einen neuen gemeinsamen Effekt verwendet und waren als Gemisch unbekannt. Die erfindungsgemäß vorzugsweise gleichzeitig verabreichten Wirkstoffe (vergleiche Seite 5, Zeilen 14 und 15 der Anmeldung) stellen daher auch keine bloße Aggregation bekannter Mittel, sondern eine neue Kombination dar mit der überraschenden wertvollen Eigenschaft, daß die bei der Verabreichung der Cytostatika zu erwartenden schweren Nebenwirkungen infolge der entgiftenden Wirkung des Natrium-2-mercaptoethansulfonates ausbleiben.
5. Die Kombination der beiden Bestandteile ist deshalb bereits von der Prüfungsabteilung zu Recht als erfinderisch anerkannt worden (ursprüngliche Ansprüche 6 bis 10). Diese Kombination hätte wegen des unbeschränkten Anspruchs auf das pharmazeutische Präparat absoluten Erzeugnisschutz, wenigstens für alle Verwendungen im therapeutischen Bereich, genossen. Allerdings hätte man sich ein solches Präparat als enge physische Kombination der Bestandteile, d. h. eine Vereinigung oder ein Gemisch, vorzustellen, um das Erzeugnis von einem Stand der Technik zu unterscheiden, der die Möglichkeit einer medizinischen Ausrüstung, Kollektion oder Packung einschließt, welche die beiden Mittel gesondert, jedoch nebeneinander für deren bekannte unabhängige Anwendungen in der Medizin enthält.
6. Der derzeit geltende Anspruch 1 bezieht sich jedoch auf ein Erzeugnis, welches auf gleichzeitige, getrennte oder zeitlich abgestufte Anwendung in der cytostatischen Therapie beschränkt ist. Aus dieser Zweckbestimmung folgt, daß die Bestandteile nicht mehr zwangsläufig als eine Vereinigung, z. B. bei Gemisch, vorliegen, da sonst die Bestandteile nicht zur getrennten oder zeitlich abgestuften Anwendung verfügbar wären. Eine derartige nebeneinandergestellte Darbietung bekannter Medikamente kann dennoch als ein Erzeugnis zum therapeutischen Einsatz nach Artikel 52(4) (2. Satz) gewerblich anwendbar sein. Als eine Kollektion ("kit-of-parts") ist sie aber noch nicht zwangsläufig eine echte Kombination in Anbetracht der räumlich getrennten einzelnen Bestandteile. Das bloße lockere Zusammenfügen der bekannten Bestandteile verschweißt diese noch nicht zu einer Funktionseinheit, in welcher eine notwendige und unmittelbare Wechselwirkung zwischen den Teilen miteinander eine Vorbedingung der zielgerichteten Verwendung ist (siehe z. B. Schloß und Schlüssel, Zündholz und Reibfläche, Zweikomponentenkleber). Obwohl die Bestandteile der beanspruchten Kombination in keine solche unmittelbare Wechselwirkung miteinander treten, kann die Zweckbestimmung für die Kombinationstherapie die Einheit des Erzeugnisses im Sinne einer funktionellen Verschmelzung seiner beiden Bestandteile wiederherstellen, wenn die Zweckbestimmung eine wahre Beschränkung auf die angegebene Verwendung repräsentiert.
7. Eine Zweckbestimmung in Ansprüchen wird im allgemeinen als technisch bedeutungsvoll angesehen, wenn hierdurch für den Fachmann erkennbare weitere, nicht ausdrücklich spezifizierte oder zu spezifizierende Merkmale eines Erzeugnisses oder zusätzliche Bedingungen eines Verfahrens verdeutlicht werden, die für die gezielte Brauchbarkeit oder Ausführbarkeit notwendig sind (z. B. eine bestimmte Auswahl, Qualität oder Zwischenbeziehung der verschiedenen Bestandteile). Ohne solche körperliche Relevanz kann die Zweckbestimmung völlig bedeutungslos und nicht beschränkend bleiben. Im Gegensatz dazu sind Indikationen zur therapeutischen Nutzung nach Artikel 54(5) EPÜ zwangsläufig bedeutungsvoll und können sogar die Neuheit eines bekannten Erzeugnisses unter bestimmten Bedingungen begründen, ohne daß es irgendwelcher zusätzlicher erkennbarer oder nachprüfbarer körperlicher Merkmale bedarf. Solche Bedingungen müssen aber den Gegenstand entsprechend beschränken, so daß bereits bekannte Anwendungen des Gegenstandes vom Anspruch ausgeschlossen sind. Da die einzelnen Bestandteile des Kombinationserzeugnisses nach den geltenden Ansprüchen schon für sich bekannte therapeutische Anwendungen haben, sind die geltenden Ansprüche, die die getrennte Darbietung dieser Bestandteile ausdrücklich erfassen, in der Tat als auf die gemeinsame Anwendung der Kombinationserzeugnisse beschränkt anzusehen, so daß die Einzelanwendungen nach dem Stande der Technik ausgeschlossen sind. Diesem Zweck dient die nach Artikel 54(5) EPÜ für solche Erzeugnisse vorgesehene Zweckbestimmung, sofern deren Formulierung der Bedingung dieses Artikels entspricht.
8. Der Artikel 54(5) EPÜ bezieht sich auf Fälle, in denen Stoffe oder Stoffgemische bereits zum Stand der Technik gehören. Dies gestattet es, bestimmte Arten bekannter Erzeugnisse zu beanspruchen; die Kammer vertritt aber auch die Auffassung, daß dem Anmelder solche Ansprüche nach Artikel 54(5) EPÜ dann nicht verweigert werden können, wenn des Erzeugnis als solches neu ist, wie hier zum Teil der Fall (siehe Gemische), da diese Kategorie von Ansprüchen als Auffangposition dienen kann und z. B. gegen die Folgen zufälliger vorheriger Bekanntmachungen des Erzeugnisses auf einem nichtmedizinischen Gebiet schützt.
9. Artikel 54(5) EPÜ in deutscher Fassung spricht zwar von Stoffgemischen", während der englische oder französische Text den weiteren Begriff "composition" wählt. Nach dem Oxford English Dictionary (Bd. III, S. 736) ist "composition" als Produkt folgendermaßen charakterisiert: "A condition consisting in a combination or union of several things; a combination, aggregate or mixture". Nach Le Robert, Dictionnaire Alphabétique et Analogique de la Langue Française (1980, Seite 862 und 830) kann "composition" auch die Bedeutung von "combinaison" - besonders in der Chemie - oder im allgemeinen "assemblage" haben. Da jeder der drei Texte gleichermaßen verbindlich ist (Art. 177(1) EPÜ) und nach dieser Bestimmung nur ein einziger Wille der Vertragsstaaten zum Ausdruck kommen kann, vertritt die Kammer die Auffassung, daß dieser Wille durch die beiden genannten Texte am klarsten formuliert wird. Die Kammer ist auch der Auffassung, daß Kombinationserzeugnisse, die nach Artikel 54(5) EPÜ für therapeutische, chirurgische und diagnostische Verfahren bestimmt sind, auch Kompositionen umfassen, in denen die Bestandteile nebeneinandergestellt sind und deshalb gleichzeitig, getrennt oder zeitlich abgestuft an ein und demselben menschlichen oder tierischen Körper angewendet werden können. Soweit die Bestandteile die erfindungsgemäße vorteilhafte Wirkung nicht unabhängig voneinander erzielen können, begründet die gemeinsame Wirkung den einheitlichen Charakter des Kombinationserzeugnisses infolge der zweckbestimmenden Beschränkungen des Schutzbereiches des Anspruches unter den Voraussetzungen von Artikel 54(5) EPÜ, auch wenn die Bestandteile nebeneinander und nicht als eine Vereinigung dargeboten werden. Im vorliegenden Falle erfüllt der Gegenstand von Anspruch 1 diese Bedingungen.
10. Der Schutz des Kombinationserzeugnisses als einer Kollektion wesentlicher Bestandteile mit einer entsprechenden Indikation und mit dem Hinweis zum gemeinsamen Gebrauch ist übrigens auf therapeutischem Gebiet ausnahmsweise auch dadurch gerechtfertigt, daß bestimmte wirksame Substanzen nicht notwendigerweise gleichzeitig oder unmittelbar ihren gemeinsamen Wirkungseffekt zustande bringen. Bei der oralen Verabreichung kann zum Beispiel ein Bestandteil schon im Magen absorbiert werden, wohingegen der andere Teil nur im Darm aufgenommen wird. Das Nebeneinander der wesentlichen Komponenten der Kombination braucht daher nicht gemäß der erfinderischen Lehre in molekularen oder mikroskopischen Dimensionen in Erscheinung zu treten. Es würde nicht gerechtfertigt sein, wenn solche vorteilhafte Formen der Problemlösung nicht von Schutz erfaßt wären. Die moderne Medizin kann sich mehr und mehr in der Richtung der Kombinationstherapien bewegen, die spezielle Erzeugnisse mit flexiblen Verabreichungsmöglichkeiten verlangen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird wie folgt entschieden:
1. Die Entscheidung der Prüfungsabteilung des Europäischen Patentamts vom 29. Oktober 1980 wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an die Vorinstanz zurückverwiesen mit der Auflage, ein europäisches Patent aufgrund der am 25. Januar 1983 eingereichten Beschreibung und Ansprüche zu erteilen.