T 0485/89 (Einreichung von Schriftstücken per Telekopie) 14-08-1991
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Einspruchsfrist
Zulässigkeit eines absichtlich beim Deutschen Patentamt in München per Telekopie eingelegten Einspruchs
Anwendbarkeit der Verwaltungsvereinbarung vom 29. Juni 1981
Sachverhalt und Anträge
I. Am 3. Juni 1987 legte die Beschwerdeführerin/Einsprechende gegen die Erteilung des am 3. September 1986 veröffentlichten europäischen Patents 0 086 567 Einspruch ein. Die Einspruchsschrift wurde per Telekopie beim Deutschen Patentamt in München eingereicht, von wo aus sie am folgenden Tag, dem 4. Juni 1987, an das Europäische Patentamt weitergeleitet wurde. Die Einspruchsgebühr wurde am 1. Juni 1987 entrichtet. Die ersten Seiten der Telekopie enthielten Bezugnahmen auf das europäische Patent, und als Empfänger war das Europäische Patentamt ("An das Europäische Patentamt") mit der richtigen Anschrift angegeben.
II. Am 5. Mai 1989 verwarf die Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts den Einspruch mit der Begründung als unzulässig, er sei beim EPA nach Ablauf der neunmonatigen Einspruchsfrist eingelegt worden. Die Beschwerdeführerin legte gegen diese Entscheidung Beschwerde ein und entrichtete am 21. Juni 1989 die Beschwerdegebühr. Eine Beschwerdebegründung wurde am 5. September 1989 eingereicht.
III. Die Beschwerdeführerin verwies in ihrem Vorbringen auf die am 29. Juni 1981 zwischen dem Präsidenten des Europäischen Patentamts und dem Präsidenten des Deutschen Patentamts geschlossene Verwaltungsvereinbarung über den Zugang von Schriftstücken und Zahlungsmitteln ("Verwaltungsvereinbarung", ABl. EPA 1981, 381). Sie machte geltend, daß die Anwendbarkeit der Vereinbarung von 1981 in Fällen, in denen die Zustellung an die falsche Anschrift nicht irrtümlich erfolge, nicht ausgeschlossen sein dürfe. Ferner müsse aus Gründen des Vertrauensschutzes die bewußte Übersendung der Einspruchsschrift an das Deutsche Patentamt hingenommen werden.
IV. Am 16. November 1990 erließ die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts in drei Fällen (G 5/88, G 7/88 und G 8/88) eine Entscheidung, in denen es jeweils um Fragen im Zusammenhang mit der Gültigkeit und der Auslegung der Verwaltungsvereinbarung ging (ABl. EPA 1991, 137). Die für den vorliegenden Fall zuständige Beschwerdekammer verwies in einer Mitteilung an die Beteiligten vom 26. März 1991 auf die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer; sie erklärte, daß sie bestimmte Grundsätze dieser Entscheidung auf den vorliegenden Fall anwenden wolle, und forderte die Beteiligten zur Stellungnahme auf. Es gingen jedoch keine Stellungnahmen ein.
V. Die Beschwerdeführerin hat beantragt, die Entscheidung der Einspruchsabteilung aufzuheben und den Einspruch für zulässig zu erklären. Die Beschwerdegegnerin/Patentinhaberin hat erklärt, daß sie mit der angefochtenen Entscheidung voll und ganz einverstanden sei, und somit implizit die Zurückweisung der Beschwerde beantragt.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Die Verwaltungsvereinbarung bezieht sich eindeutig auf alle an das EPA gerichteten und dem Deutschen Patentamt in München oder Berlin zugegangenen Schriftstücke. Den Bestimmungen der Vereinbarung zufolge werden solche Schriftstücke unmittelbar an die jeweils nächste Dienststelle des Europäischen Patentamts weitergeleitet, wobei bestimmte Formerfordernisse, beispielsweise das Vermerken des Eingangsdatums und die Nichtannahme von Schriftstücken, die durch Überbringer abgegeben werden sollen, eingehalten werden müssen (vgl. Art. 1 (1), (2) und (4) der Vereinbarung).
3. In ihrer Entscheidung vertrat die Große Beschwerdekammer die Auffassung, daß der Präsident des EPA insoweit nicht befugt gewesen sei, die Verwaltungsvereinbarung von 1981 zu schließen, als sie Bedingungen über die Behandlung von an das EPA gerichteten und dem Deutschen Patentamt in Berlin zugegangenen Schriftstücken enthalte. Was München anbelangt, so hieß es in der Entscheidung in dieser Sache wie folgt: "Soweit die Vereinbarung die Frage der irrtümlichen Zustellung von Schriftstücken in München (beim EPA oder beim Deutschen Patentamt) betrifft, ließe sich nach Ansicht der Großen Beschwerdekammer durchaus die Auffassung vertreten, daß die Schließung der Vereinbarung mit dem Deutschen Patentamt eine Maßnahme war, die der Präsident treffen mußte, um ungerechtfertigte Rechtsverluste der Beteiligten zu verhindern, und die somit für die ordnungsgemäße Tätigkeit des EPA zweckmäßig war" (Nr. 2.6 und Art. 10 (2) a) EPÜ). Die Große Beschwerdekammer vertrat ferner die Auffassung, daß aus dem Wortlaut der Vereinbarung eindeutig hervorgehe, daß sie mit dem eigentlichen Ziel geschlossen worden sei, das Problem der irrtümlichen Zustellung von Schriftstücken zu lösen (Nr. 2.9).
4. Es besteht keine Veranlassung, die Gültigkeit der Vereinbarung für Zustellungen in München anzuzweifeln, sofern die entsprechenden Formerfordernisse und Bedingungen erfüllt sind. Die in der Entscheidung genannten Gründe, die den Sonderfall Berlin betreffen, sind für München nicht von Bedeutung. Die Kammer geht daher davon aus, daß der Präsident des EPA befugt war, in dieser Angelegenheit eine gültige Vereinbarung für das Dienstgebäude in München zu schließen.
5. Die Große Beschwerdekammer ist zwar davon ausgegangen, daß die Vereinbarung für irrtümliche Zustellungen gilt, aber in der Vereinbarung selbst werden Schriftstücke, die absichtlich bei einem anderen Amt als dem eigentlichen Empfänger zugestellt werden, nicht ausdrücklich ausgenommen; dies stimmt auch mit der Auffassung der Großen Beschwerdekammer hinsichtlich der bewußten Einreichung in Berlin überein; siehe Nummer 3.4. Daß in der im Amtsblatt des EPA veröffentlichten Vereinbarung ausdrücklich bestimmt ist, daß sie auch für Telekopien gilt, untermauert diese Feststellung. Erstens würde die Verwendung einer Telekopie als Kommunikationsmittel eher für eine überlegte Wahl des Zustellungsorts sprechen, denn der Absender steuert das Zustellungsmittel selbst, indem er die Telefaxnummer des beabsichtigten Empfängers wählt. Zweitens, und das ist vielleicht noch wichtiger, hätte die Gültigkeit der Vereinbarung auch für Telekopien die Beteiligten unter den gegebenen Umständen natürlich zu einer Zustellung beim Deutschen Patentamt ermutigt, solange dieses technische Zustellungsmittel vom Europäischen Patentamt noch nicht angeboten wurde.
Vertrauensschutz genießen auch diejenigen, die demgemäß von der Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, Schriftstücke per Telekopie beim deutschen Amt einzureichen, auch wenn dieser Sonderfall in der Vereinbarung nicht ausdrücklich vorgesehen war.
In diesem Zusammenhang ist schließlich festzustellen, daß durch die Vereinbarung die neunmonatige Einspruchsfrist keinesfalls verlängert wird.
Ein Einsprechender muß seinen Einspruch unabhängig davon, für welche der beiden Möglichkeiten er sich entscheidet, spätestens am letzten Tag dieses Zeitraums einlegen.
6. Infolgedessen ist die Kammer zu der Auffassung gelangt, daß Einsprüche, die fristgerecht per Telekopie beim Deutschen Patentamt in München eingelegt werden, obwohl sie an das EPA gerichtet sind, unter die Verwaltungsvereinbarung vom 29. Juni 1981 über den Zugang von Schriftstücken und Zahlungsmitteln fallen und vom Europäischen Patentamt unabhängig davon, ob sie beim Deutschen Patentamt irrtümlich zugestellt wurden, so zu behandeln sind, als seien sie unmittelbar beim EPA eingegangen.
Der vorliegende Einspruch erfüllt auch die übrigen Bedingungen der Verwaltungsvereinbarung, denn als Eingangsdatum wurde auf der Einspruchsschrift vom Deutschen Patentamt der 3. Juni 1987, der letzte Tag der Einspruchsfrist, vermerkt, und er wurde nicht durch Überbringer abgegeben. Der Einspruch wurde somit wirksam eingelegt.
7. Da der Einspruch von der ersten Instanz in sachlicher Hinsicht noch nicht geprüft worden ist, macht die Kammer von ihrer Befugnis nach Artikel 111 (1) EPÜ Gebrauch und verweist die Sache an diese Instanz zurück.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Der von der Beschwerdeführerin am 3. Juni 1987 beim Deutschen Patentamt in München gegen das europäische Patent 0 086 567 eingelegte Einspruch wird für zulässig erklärt.
3. Die Sache wird zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen.