T 0590/96 (Datenreduktion/FRAUNHOFER-GESELLSCHAFT) 27-08-1998
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Verfahren zur Datenreduktion bei der Speicherung und/oder Übertragung digitaler Audiosignale für Studioanwendungen mit perzeptiver Codierung und Code variabler Länge
Deutliche und vollständige Offenbarung (ja)
Sufficiency of disclosure - yes
Sachverhalt und Anträge
I. Der Beschwerdeführer (Anmelder) hat gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung über die Zurückweisung der Anmeldung Nr. 93 905 148.8 Beschwerde eingelegt. Die Prüfungsabteilung war zur Auffassung gekommen, daß die Anmeldung den Erfordernissen der Artikel 83 EPÜ nicht genüge. Folgende in der Patentanmeldung zitierten Dokumente wurden in der Entscheidung genannt:
D1: DE-A-3 912 605
D3: ISO/MPEG Standard 11172-3.
II. Der Beschwerdeführer beantragt,
1) die angefochtene Entscheidung aufzuheben,
2) festzustellen, daß die Anmeldung die Erfordernisse des Artikels 83 EPÜ erfüllt, und
3) die Sache an die Prüfungsabteilung mit der Auflage zurückzuverweisen, das Prüfungsverfahren aufgrund Ansprüche 1 bis 9, eingereicht mit Schreiben vom 24. März 1998, fortzusetzen.
Der Beschwerdeführer stützt seine Argumente unter anderem durch folgende Dokumente:
A1: IEEE Transactions on Acoustics, Speech, and Signal Processing, Vol. ASSP-35, Nr. 4, April 1987; P.P. Vaidyanathan: "Theory and design of M-Channel maximally decimated quadrature mirror filters with arbitrary M, having the perfect-reconstruction property".
Zwicker, E., "Psychoakustik", 1982, Springer-Verlag:
A2: Seiten 31 bis 41 (Kapitel 2 und 3, bis 3.1.2)
A6: Seiten 112 bis 120 (Kapitel 13).
III. Die zum Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung maßgebende Fassung des Anspruchs 1 lautet wie folgt:
1. Verfahren zur Datenreduktion bei der Speicherung und/oder Übertragung digitaler Audiosignale, bei welchem ein digitales Audiosignal vor der Speicherung und/oder Übertragung mit Hilfe einer Filterbank aus dem Zeitbereich in den Frequenzbereich abgebildet wird und aus dem Signal im Frequenzbereich unter Ausnutzung des psychoakustischen Verdeckungseffektes irrelevante bzw. redundante Informationen ausgeschieden werden, bei welchem das Signal qauntisiert und mit variabler Wortlänge codiert wird, und bei welchem das Signal nach Auslesen aus dem Speicher und/oder Übertragung decodiert und aus dem Frequenzbereich in den Zeitbereich abgebildet wird,
dadurch gekennzeichnet,
daß die Abbildung des Audiosignals mit einer Filterbank mit perfekter Rekonstruktion erfolgt, daß der psychoakustische Verdeckungseffekt maximal zur Hälfte ausgenutzt wird, und
daß als Code variabler Wortlänge eine Codierung mit verschiedenen Huffman-Code-Tabellen verwendet wird, wobei zunächst entschieden wird, in welchen Bereich der zu codierende Wert fällt, und entsprechend diesem Bereich das Codewort mittels der geeigneten Huffman-Code-Tabelle zugeordnet wird, und daß, falls der quantisierte Wert eine vorgegebene Schwelle überschreitet, der die Schwelle übersteigende Anteil skalar codiert wird."
IV. Der Beschwerdeführer hat folgendes vorgetragen:
Die zur Erreichung der Aufgabe verwendeten Merkmale sind entweder in der Beschreibung ausreichend erklärt oder dem Fachmann aus vorveröffentlichten Literaturstellen bekannt. Da alle Begriffe zum Zeitpunkt der Anmeldung geläufig waren, verstößt deren Verwendung nicht gegen die Erfordernisse von Artikel 83 EPÜ.
Entscheidungsgründe
1. Vollständigkeit der Offenbarung (Artikel 83 EPÜ)
1.1. Die Prüfungsabteilung war der Auffassung, daß die Erfindung anhand verschiedener Begriffe beschrieben wird, in der angefochtenen Entscheidung als a), b), c), e) und f) bezeichnet, die nicht verständlich seien. Damit sei keine nacharbeitbare Darstellung einer Realisierung der Erfindung erkennbar, so daß die Anmeldung nicht die Anforderungen des Artikels 83 EPÜ erfülle. Die Ansprüche wurden dementsprechend auch als unklar betrachtet (Artikel 84 EPÜ).
1.2. Artikel 83 EPÜ verlangt, daß die Erfindung in der Patentanmeldung so deutlich und vollständig offenbart wird, daß ein Fachmann sie ausführen kann. Im europäischen Patentsystem ist es nicht nötig, daß die Anmeldung jedes Detail angibt, da zu unterstellen ist, daß der Fachmann über das allgemeine Fachwissen und die normalen Mittel und Fähigkeiten zur Durchführung routinemäßiger Arbeiten und Versuche verfügt. Das allgemeine Fachwissen schließt normalerweise nur den Inhalt von Fachbüchern ein, die am Anmeldedatum der Öffentlichkeit zugänglich waren.
1.3. In T 611/89 (nicht veröffentlicht) wurde ferner festgestellt, daß eine Bezugnahme auf ein bereits in der ursprünglichen Beschreibung genanntes Dokument die Offenbarung vervollständigen kann. Diese Entscheidung bezieht sich auf einen Fall, der mit dem vorliegenden vergleichbar ist, weil die vermeintliche Erfindung als eine Verbesserung zweier in der Beschreibung zitierten Systeme dargestellt ist. Deshalb kann im vorliegenden Fall das in der Anmeldung genannte Dokument, nämlich
D2: "ASPEC Coding", Proceedings of the 10th International AES Conference, London 1991, Seiten 81 bis 90 (die Seiten 71 bis 80 sind fehlerhaft in der Anmeldung genannt)
herangezogen werden und als eine vorveröffentlichte Literaturstelle im Sinne des Beschwerdeführers (vgl. Beschwerdebegründung, Seite 1) in Betracht gezogen werden, um die Vollständigkeit der Offenbarung (Artikel 83 EPÜ) zu beurteilen.
1.4. Ausgehend von D1 oder D2 ist die der Anmeldung zugrundeliegende Aufgabe offenbart in der Verbesserung des Verdeckungseffekts bei der Nachbearbeitung des kodierten Signals zu sehen. Diese Aufgabe wird gemäß Anspruch 1 durch die Filterbank, die teilweise Ausnützung des Verdeckungseffekts und die Auswahl der Huffman-Code-Tabelle gelöst.
1.5. Die Kammer ist überzeugt, daß die Hauptidee der Erfindung, nämlich daß der psychoakustische Verdeckungseffekt nicht voll ausgenutzt wird, der Patentanmeldung zu entnehmen ist. Es ist allgemein bekannt (siehe A2, Seite 35, Zeilen 12 bis 15 und Abbildung 3.1), daß die Mithörschwelle denjenigen Schalldruckpegel eines Schalles angibt, den dieser haben muß, damit er neben einem Störschall gerade noch wahrgenommen werden kann. Es wird auch aus der Patentanmeldung, Seite 3, Absatz 4, sowie aus D1 oder D2 deutlich, daß die Mithörschwelle ausgenutzt wird, indem das durch die Quantisierung verursachte Rauschen unterhalb der Mithörschwelle liegt, damit es von dem Musiksignal verdeckt wird. Die Verbesserung der Erfindung, durch die nur ein Teil des verfügbaren Verdeckungseffektes ausgenutzt wird, ist daher verständlich. Die Frage ist daher, ob ein Fachmann in der Lage wäre, die in den Ansprüchen beanspruchte Lösung im Hinblick auf die Offenbarung der Patentanmeldung, gegebenenfalls durch D2 und das allgemeine Fachwissen vervollständigt, auszuführen.
2. Anspruch 1
2.1. Im einzigen Ausführungsbeispiel auf Seite 7, Absatz 1, beträgt der Abstand zwischen dem verdeckenden Signal und dem verdeckten Rauschen für rauschähnliche Signale 20dB. Da die Mithörschwelle normalerweise ungefähr um den Pegel des verdeckenden Signals liegt (siehe A2, Ende Seite 40 und Abbildung 3.4), bedeutet dies, daß der Maximalwert des durch die Quantisierung verursachten Rauschens ungefähr 20dB unterhalb der Mithörschwelle liegt. Da 20dB einer Reduktion von 10 Mal entspricht, fällt dies unter dem in Anspruch 1 beanspruchten Bereich, der definiert, daß "der psychoakustische Verdeckungseffekt maximal zur Hälfte ausgenutzt wird".
2.2. Der Begriff a), "Filterbank mit perfekter Rekonstruktion", wird wohl in der Beschreibung als auch im Anspruch 1 benutzt. Die Prüfungsabteilung argumentierte, daß es unmöglich sei, einen solchen Filter zu realisieren. Dies ist bei wortwörtlicher Auslegung sicherlich richtig. Die Kammer ist allerdings der Auffassung, daß der Fachmann diesen Ausdruck in einem weiteren Sinn auslegen würde. Diese Art von Filter ist in D2 auf Seite 84, Zeilen 4 bis 10 dargestellt. Da D2 in der Beschreibung als Stand der Technik genannt ist, und da D2 den Filter für denselben Zweck benutzt, kann der Fachmann dieses Dokument heranziehen, um die Offenbarung zu vervollständigen (vergleiche T 611/89). Darüber hinaus ist diese Art von Filter in dem allgemeinen Dokument A1 beschrieben, so daß er auch als allgemeines Fachwissen betrachtet werden könnte.
2.3. Der in Anspruch 1 ursprünglich benutzte Begriff b), "mehrdimensionaler kaskadierter Huffman-Code", wurde durch die Funktion des Huffman-Codes im Hinblick auf die Beschreibung (Seite 4, Absätze 1 und 2 und Seite 7, Absatz 2) ersetzt. Dieser Text beschreibt, daß bei bekannten Verfahren (z. B. D2) überwiegend niedrige Werte auftreten, denen mittels einer Huffman-Code-Tabelle Codeworte zugeteilt werden. Die Codierung sehr großer quantisierter Werte erfolgt mit Hilfe einer Kennung, die einen weiteren Codierschritt einleitet. Im Unterschied dazu erfolgt bei dem Code der Erfindung, bei dem viel mehr hohe Werte codiert werden müssen, die Codierung mit verschiedenen Huffman-Code-Tabellen. Zunächst wird entschieden, in welchem Bereich der Wert fällt. Entsprechend diesem Bereich wird das Codewort mittels der geeigneten Huffman-Code-Tabelle zugeordnet. Ein ähnliches Beispiel scheint auch in D2 auf Seite 86, Zeilen 19 bis 23 offenbart zu sein. Die Kammer ist daher der Auffassung, daß der Fachmann eine solche Codierung realisieren könnte.
2.4. Zusammenfassend ist die Kammer der Auffassung, daß die Idee der Erfindung, der übriggebliebene angegriffene Begriff a) und der geänderte Begriff b) verständlich sind, so daß der Fachmann, der die Funktion des im D1 oder D2 angegebenen Verfahrens versteht, tatsächlich diese Verfahren ändern könnte, um die Lösung zu realisieren. Ferner ist die Kammer der Auffassung, daß Anspruch 1 klar ist.
3. Unteransprüche
3.1. Die Kammer stimmt dem Beschwerdeführer zu, daß der im Anspruch 2 benutzte Begriff c), "wenigstens zweifacher Flankensteilheit", eine bekannte Bedeutung im bezug auf die Mithörschwelle hat. Auf Seite 116, Abbildung 13.3 und dem zugehörigen Text des Lehrbuchs A6 ist zu entnehmen, daß die Kurve der Mithörschwellen eine konstante Steilheit an den unteren und den oberen Flanken besitzt. Wenn nun von Anspruch 2 gefordert wird, daß anstelle der üblichen Kurve der Mithörschwelle eine Kurve mit wenigstens zweifacher Flankensteilheit eingesetzt wird, bedeutet dies, daß Störsignale nicht nur unterhalb der normalen Mithörschwelle liegen müssen, sondern auch unterhalb der neuen darunter verlaufenden Kurve mit zweifacher Flankensteilheit. Der Fachmann muß eine solche Kurve an die Bedingung des Anspruchs 1 nämlich, daß der psychoakustische Verdeckungseffekt maximal zur Hälfte ausgenutzt wird, anpassen.
3.2. Da der zurückgewiesene Anspruch 4, der die unklaren Begriffe e) und f) enthielt, gestrichen wurde, ist die Kammer der Auffassung, daß die Unteransprüche jetzt klar sind.
4. Weiteres Verfahren
4.1. Die Prüfungsabteilung hat sich weder im Laufe des Prüfungsverfahrens noch in ihrer Zurückweisungsentscheidung mit der Frage einer eventuell aufgrund des Gegenstands der Anmeldung anzuerkennenden Patentfähigkeit auseinandergesetzt. Deshalb erachtet es die Kammer für angebracht, die Sache zur weiteren Prüfung an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen (Artikel 111 (1) EPÜ).
4.2. Wie aus dem oben Gesagten hervorgeht, mußten die in der Patenanmeldung zitierten Dokumente D1 und D2 berücksichtigt werden, um beurteilen zu können, ob die Offenbarung der Erfindung vollständig war. Es scheint der Kammer deshalb auch angemessen zu sein, nochmals darauf hinzuweisen, daß die Filterbank und der mehrdimensionale Huffman-Code an sich aus D2 bekannt sein dürften. Außerdem scheint die der Anmeldung zugrundeliegende Aufgabe in D1 (Seite 10, Zeilen 1 bis 3) explizit beschrieben zu sein. Auch die in D1 beschriebene Lösung, nämlich "einen zusätzlichen Sicherheitsabstand" zu schaffen, scheint auf das Merkmal des Anspruchs 1, den Verdeckungseffekt nicht voll auszunützen, hinzudeuten. Bei der weiteren Prüfung sollten also auch diese Gesichtspunkte von der Prüfungsabteilung berücksichtigt werden.
4.3. Die Literaturstellen A2 und A6 sind in der Beschreibung zu nennen und ihre einschlägigen Beiträge zum allgemeinen Fachwissen sind zu beschreiben. Aus demselben Grund ist die Zusammenfassung des Dokuments D2 zu ergänzen. Schließlich, da Dokument D3 nicht vorveröffentlicht zu sein scheint, ist es in der Beschreibung als solches zu bezeichnen. Bei jeder Überarbeitung der Anmeldung, insbesondere des einleitenden Teils und der Darstellung der Aufgabe oder der Vorteile der Erfindung, ist selbstverständlich darauf zu achten, daß ihr Gegenstand nicht über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht (Artikel 123 (2) EPÜ).
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz zur weiteren Prüfung zurückverwiesen.