T 0002/89 (Einspruchsbegründung) 03-07-1989
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1. Die zur Begründung eines Einspruchs vorgebrachten Tatsachen müssen so ausreichend angegeben sein, daß EPA und Patentinhaber das Vorbringen ohne weitere Ermittlungen verstehen können (Bestätigung von T 222/85, "Unzulässigkeit/PPG" ABl. EPA 1988, 128).
2. Ein Einspruch entspricht der Regel 55 c) EPÜ auch dann, wenn er nicht alle Merkmale des angegriffenen Anspruchs behandelt.
Einspruchsbegründung - ausreichende
Einspruch - Zulässigkeit
Zulässigkeit eines Einspruchs
I. Das europäische Patent Nr. 59 895 wurde am 17. April 1985 auf die am 26. Februar 1982 unter Inanspruchnahme der Priorität einer deutschen Voranmeldung vom 4. März 1981 eingereichte europäische Patentanmeldung Nr. 82 101 469.3 erteilt. Es bezieht sich auf Bindemittel für kationische Elektrotauchlacke, die durch Umsetzung von vier bestimmten Komponenten erhalten werden.
II. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) legte mit Schriftsatz vom 15. Januar 1986 gegen dieses europäische Patent Einspruch ein und berief sich zur Begründung auf zwei Entgegenhaltungen, nämlich auf einen Artikel in der Zeitschrift "Kollidnyi Zhurnal", Band 35, Seiten 1100-1103 und die europäische Patentschrift 4 090. Ferner führte die Beschwerdeführerin aus, daß sie auch gegen das deutsche Patent, dessen Priorität vom europäischen Patent beansprucht werde, Einspruch eingelegt habe. Daher übersende sie der Einfachheit halber zur weiteren Begründung ihren fünfseitigen Einspruchsschriftsatz gegen das deutsche Patent und mache dessen Inhalt zum Gegenstand des Einspruchs gegen das europäische Patent.
III. Das deutsche und europäische Patent unterscheiden sich insofern, als die Komponente C nach dem deutschen Patent fakultativ ("gegebenenfalls") eingesetzt wird, nach dem europäischen Patent jedoch obligatorisch ist.
IV. Mit Schriftsatz vom 3. Juni 1986 beantragte die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin), den Einspruch zurückzuweisen und das Patent in der erteilten Fassung aufrechtzuerhalten, und setzt sich im einzelnen mit den von der Einsprechenden genannten Entgegenhaltungen und ihrem Einspruchsvorbringen sachlich auseinander, wobei sie unter anderem auch darauf hinwies, daß nach der derzeitigen Fassung des Anspruchs 1 des erteilten Patents die Komponente C mit einem Anteil von 10 bis 50 Gew.-% obligatorischer Bestandteil des erfindungsgemäßen Bindemittels sei.
V. Nachdem die damalige Einsprechende mit Schriftsatz vom 31. Oktober 1986 zum Vorbringen der Patentinhaberin ausführlich sachlich Stellung genommen hatte und die Patentinhaberin darauf mit Schriftsatz vom 19. Dezember 1986 geantwortet hatte, erließ die Einspruchsabteilung einen Bescheid gemäß Art. 101 (2) und Regel 58 (1) bis (3) EPÜ vom 24. März 1987. Darin wird mit näherer Begründung die Auffassung vertreten, daß der Gegenstand der Patentansprüche 1 bis 3, 9, 11 sowie die entsprechenden Herstellungsverfahren gegenüber dem zitierten Stand der Technik nicht neu und daher gemäß Art. 54 EPÜ nicht patentfähig seien. Daher wäre nach dem jetzigen Stand des Akteninhalts das Patent zu widerrufen. Die Patentinhaberin wurde aufgefordert, innerhalb von vier Monaten Stellung zu nehmen.
VI. Die Patentinhaberin reichte zum Bescheid der Einspruchs- abteilung eine sachliche Stellungnahme vom 7. Juli 1987 ein, die sie durch einen neunseitigen Versuchsbericht untermauerte.
VII. Die Einspruchsabteilung führte in einem weiteren Bescheid vom 27. November 1987 aus, daß ihr die vorgelegten Vergleichsversuche bedeutungsvoll erschienen, so daß nicht ausgeschlossen sei, daß das Patent aufrechterhalten werden könne. Die Parteien wurden zu einer mündlichen Verhandlung am 20. April 1988 geladen, zu deren Vorbereitung beide Parteien ausführliche Stellungnahmen einreichten.
VIII. In der mündlichen Verhandlung und in einem weiteren Bescheid vom 9. Mai 1988 wurde darauf hingewiesen, daß mit einer Verwerfung des Einspruchs als unzulässig gerechnet werden müsse, da der Einspruch nicht mit Gründen versehen sei. Das europäische Patent enthalte die Komponente C als zwingende, das entsprechende deutsche Patent aber als fakultative Maßnahme. Daher gehe die zur Begründung des Einspruchs gegen das europäische Patent eingereichte Einspruchsschrift gegen das deutsche Patent an der Sache vorbei.
IX. Durch die angefochtene Entscheidung vom 19. Oktober 1988 wies die Einspruchsabteilung den Einspruch gemäß Regel 56 EPÜ als unzulässig zurück. Wegen der unterschiedlichen Bedeutung der Komponente C im deutschen und europäischen Patent sei die Begründung des Einspruchs mangelhaft, weil die angeführten Tatsachen sich nicht auf den Gegenstand des europäischen Patents bezögen. Ein kausaler Zusammenhang zwischen Einspruchsvorbringen und dem geltenden Patentanspruch bestehe nicht, so daß die Begründung und deren Stichhaltigkeit nicht unmittelbar verstanden werden könnten. Daher sei der Einspruch entsprechend der Entscheidung T 222/85 (ABl. EPA 1988, 128) als unzulässig zurückzuweisen. Die Tatsache, daß diese Entscheidung erst in einem späten Stadium des Verfahrens getroffen wurde, stehe nicht entgegen, da Regel 56 (1) EPÜ keinen Zeitpunkt für die Entscheidung über die Zulässigkeit eines Einspruchs vorschreibe.
X. Gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung richtet sich die Beschwerde der Einsprechenden, mit der sie geltend macht, daß ihr Einspruch vom 15. Januar 1986 alle Voraussetzungen der Regel 55 c) EPÜ erfülle und daher zulässig sei. Entsprechend dieser Bestimmung habe sie auf zwei Entgegenhaltungen hingewiesen und ausgeführt, warum diese dem angegriffenen Patent entgegenstünden. Dieser Vortrag sei sowohl von der Patentinhaberin wie von der Einspruchsabteilung auch richtig verstanden worden, da beide ohne weitere Ermittlungen sachlich auf die Einspruchsbegründung eingegangen seien und keinen Anlaß zu irgendwelchen Zweifeln gehabt hätten.
XI. Die Beschwerdeführerin beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben, und das Verfahren an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen. Die Beschwerdegegnerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen, hilfsweise das Verfahren an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 und der Regel 64 EPÜ; sie ist zulässig.
2. Nach Regel 56 (1) EPÜ verwirft die Einspruchsabteilung den Einspruch als unzulässig, wenn sie feststellt, daß der Einspruch der Regel 55 c) EPÜ nicht entspricht. Nach Regel 55 c) EPÜ muß die Einspruchsschrift eine Erklärung darüber enthalten, in welchem Umfang gegen das europäische Patent Einspruch eingelegt und auf welche Einspruchsgründe der Einspruch gestützt wird, sowie die Angabe der zur Begründung vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel. Dieses letzte Erfordernis erfüllt nach Auffassung der Einspruchsabteilung der Einspruch vom 15. Januar 1986 nicht.
3. Die Kammer hat in ihrer Entscheidung T 222/85 (ABl. EPA 1988, 128) ausgeführt, daß das Erfordernis der Angabe der zur Begründung des Einspruchs vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel nur dann erfüllt ist, wenn die relevanten Tatsachen und Beweismittel so ausreichend angegeben sind, daß die angeführten Einspruchsgründe und ihre Stichhaltigkeit von der Einspruchsabteilung und vom Patentinhaber ohne weitere Ermittlungen richtig verstanden werden können. Daran fehle es, wenn der Einsprechende 16 Entgegenhaltungen nenne, ohne darauf hinzuweisen, welche Angaben in den Entgegenhaltungen gegenüber der beanspruchten Erfindung neuheitsschädlich oder nicht erfinderisch seien. In einem solchen Fall wisse die Einspruchsabteilung und die Beschwerdegegnerin nicht, wo sie bei der Prüfung der Behauptungen der Einsprechenden ansetzen solle. Eine solche Begründung liefe darauf hinaus, die Einspruchsabteilung aufzufordern, von Amts wegen weitere Recherchen in den Entgegenhaltungen in der Hoffnung durchzuführen, daß die Einspruchsabteilung aufgrund ihrer Erkenntnis eigene Argumente gegen die Patentfähigkeit formulieren werde. Dies sei aber eine Aufgabe des Einsprechenden, nicht des EPA.
4. Die Kammer möchte ausdrücklich betonen, daß sie an ihrer Entscheidung T 222/85 festhält. Die Einspruchsabteilung beruft sich bei ihrer Entscheidung jedoch zu Unrecht auf diese Entscheidung, da der vorliegende Sachverhalt mit dem der Entscheidung T 222/85 nicht vergleichbar ist. Im vorliegenden Fall bezieht sich die Einsprechende zur Begründung ihres Einspruchs auf zwei Entgegenhaltungen. Anders als im Fall der Entscheidung T 222/85 begnügt sich die Einsprechende jedoch nicht mit dem Hinweis auf die beiden Entgegenhaltungen, sondern setzt sich mit diesen Entgegenhaltungen im einzelnen auf fünf Seiten ausführlich auseinander, wobei sie die nach ihrer Auffassung wesentlichen Stellen der jeweiligen Entgegenhaltung speziell nach Seite, Zeile, Figur oder Tabelle zitiert. Eine solche Begründung erfüllt das Erfordernis der Angabe der zur Begründung vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel gemäß Regel 55 c) EPÜ.
5. Die Tatsache, daß die Begründung des Einspruchs sich nicht mit der Komponente C des beanspruchten Bindemittels befaßt, weil die Einsprechende zur Begründung ihres Einspruchs eine Kopie ihres Einspruchsschriftsatzes gegen das deutsche Patent einreichte, bei dem auch ohne diese Komponente gearbeitet werden kann, berührt nicht die Zulässigkeit des Einspruchs, sondern könnte bei der materiellrechtlichen Beurteilung des Einspruchs - also der Begründetheit des Einspruchs - von Bedeutung sein. Die Kammer wiederholt ihren Hinweis in der Entscheidung T 222/85, daß die Frage, ob ein Einspruch die Voraussetzungen der Regel 55 c) EPÜ erfüllt, von der Frage der Begründetheit des Einspruchsvorbringens zu unterscheiden ist. Diese Unterscheidung hat die Einspruchsabteilung in diesem Fall nicht beachtet. Es ist das gute Recht eines Einsprechenden, ein Patent für einen Stoff, der aus der Umsetzung von vier Komponenten erhalten wird, dadurch anzugreifen, daß er versucht, die Komponenten A, B und D als bekannt oder nicht erfinderisch nachzuweisen, um daraus den Schluß zu ziehen, daß das Patent insgesamt zu widerrufen sei. Wenn ein solcher Einspruch - wie im vorliegenden Fall - ausreichend mit Tatsachen belegt ist, nämlich daß sich die Behauptung der mangelnden Neuheit oder erfinderischen Tätigkeit aus bestimmten Dokumenten unter Hinweis auf die einschlägigen Stellen des Dokuments ergebe, so besteht gegen die Zulässigkeit eines solchen Einspruchs kein Zweifel. Eine ganz andere Frage ist es, ob dieser Vortrag gemäß dem Antrag des Einsprechenden auch ausreicht, das Patent zu widerrufen. Diese Frage gehört zur Begründetheit des Einspruchs; denn es mag sein, daß es für den Erfolg des Einspruchs nicht erforderlich war, auf die Komponente C überhaupt einzugehen. Andererseits könnte es aber auch sein, daß die Patentfähigkeit nicht in Zweifel zu ziehen ist, selbst wenn man die Richtigkeit des Einspruchsvorbringens unterstellt, weil gerade in der obligatorischen Hinzufügung der Komponente C die Erfindung besteht. Dies sind Fragen der Begründetheit des Einspruchs, die dessen Zulässigkeit nicht berühren, denn ein Einspruch ist nicht deshalb unzulässig, weil die vorgetragenen Tatsachen nicht schlüssig sind und daher den Widerruf des Patents nicht begründen können.
Die angefochtene Entscheidung war daher aufzuheben.
6. Nach Regel 67 EPÜ wird die Rückzahlung der Beschwerdegebühr angeordnet, wenn die Beschwerdekammer der Beschwerde stattgibt und die Rückzahlung wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels der Billigkeit entspricht. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt. Zur Begründung der Unzulässigkeit des Einspruchs hat die Einspruchsabteilung ausgeführt, daß ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Einspruchsvorbringen, das die Komponente C als fakultatives Merkmal behandele, und dem erteilten Patent nicht bestehe, so daß die Begründung nicht unmittelbar verstanden werden könnte. Diese Feststellung ist schon in sich unrichtig, weil, wie oben ausgeführt, es für die Zulässigkeit im Sinne der Regel 55 c) EPÜ nicht darauf ankommt, daß ein Einsprechender sich mit sämtlichen Merkmalen eines Anspruchs auseinanderzusetzen hat.
Zudem setzt sich die Einspruchsabteilung mit ihrer Feststellung in dem angefochtenen Beschluß, daß der Einspruchsvortrag nicht unmittelbar verstanden werden könne, in einen auffälligen Gegensatz zu ihrem eigenen Verhalten während des bereits über zwei Jahre vor ihr geführten Einspruchsverfahrens. Der Kammer ist schlicht unbegreiflich, wie man ein Einspruchsverfahren über mehr als zwei Jahre sachlich durchführen kann - wie die auf die Sache eingehenden Bescheide vom 24. März und 27. November 1987 zeigen - ohne angeblich verstanden zu haben, was der Inhalt des Vortrags des Einsprechenden ist. Auch die Patentinhaberin hatte keine Schwierigkeiten, das Vorbringen der Einsprechenden in der Sache zu verstehen und auch für die Kammer sind solche Verständnisschwierigkeiten nicht ersichtlich.
Schließlich hat die Kammer schon in der Entscheidung T 222/85 darauf hingewiesen, daß es im Interesse der Öffentlichkeit liegt, daß ein Einspruchsverfahren so zügig wie möglich abgewickelt werde. Diesem Zweck dient auch die Bestimmung der Regel 55 c) EPÜ. Die Anwendung dieser Vorschrift, um das Verfahren aus formellen Gründen zu beenden, nachdem es in der Sache bereits bis zur Entscheidungsreife geführt worden war, verkehrt den Sinn dieser Vorschrift in ihr Gegenteil; denn Verfahrensrecht ist nicht Selbstzweck sondern dient dem Ziel und Zweck, Verfahren schnell und möglichst gerecht zu entscheiden. Aus diesen Gründen erscheint der Kammer auch ohne einen entsprechenden Antrag der Beschwerdeführerin die Anordnung der Rückzahlung der Beschwerdegebühr als billig.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 19. Oktober 1988 wird aufgehoben.
2. Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird angeordnet.