T 0884/22 23-02-2024
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LANDWIRTSCHAFTLICHES FAHRZEUG
Wilhelm Stoll Maschinenfabrik GmbH
CNH Industrial Belgium nv
Erfinderische Tätigkeit - (nein)
Zurückverweisung - (nein)
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerden richten sich gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, das europäische Patent in geändertem Umfang aufrechtzuerhalten.
II. Die Einspruchsabteilung hatte unter anderem entschieden, dass die Vorbenutzung "Agro" zum Stand der Technik gehört, und dass der Gegenstand von Anspruch 1 des während der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsantrags 1 auf erfinderischer Tätigkeit beruht.
Dabei hat sie unter anderem die folgende Entgegenhaltung berücksichtigt:
RHP I-27: Beweismittelkonvolut zur offenkundigen Vorbenutzung "Agro"
III. Die Beschwerdeführerinnen Einsprechende 1 und 2 beantragen die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Europäischen Patents Nr. 3158842 in vollem Umfang.
IV. Die Patentinhaberin als Beschwerdegegnerin beantragt die Zurückweisung der Beschwerden und somit die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang auf der Grundlage des in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung gestellten Hilfsantrags 1, der in der angegriffenen Entscheidung als gewährbar erachtet wurde, hilfsweise die Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung zur weiteren Prüfung, oder weiter hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang gemäß einem der Hilfsanträge 2-4, die während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereicht wurden.
V. Mit einer Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK als Anlage zur Ladung zur mündlichen Verhandlung teilte die Kammer den Parteien ihre vorläufige Auffassung mit. Die mündliche Verhandlung fand am 23. Februar 2024 in Anwesenheit aller Parteien statt.
VI. Der unabhängige Anspruch 1 der für diese Entscheidung relevanten Anträge hat den folgenden Wortlaut:
Hilfsantrag 1 (aufrecht erhaltene Fassung, Kombination der erteilten Ansprüche 1-3)
"Landwirtschaftliches Fahrzeug (1), insbesondere Traktor (2), mit einer Fahrzeugkarosserie (3), auf dem in Längsrichtung ein Motor (11), ein Schwungmasse-gehäuse (12) sowie ein Getriebegehäuse angeordnet sind, einem vorderen Fahrwerk (6) und einem hinteren Fahrwerk (7) sowie einer Aufnahmevorrichtung (10) zur Anbringung eines Arbeitsgerätes (8), dadurch gekennzeichnet, dass die Aufnahmevorrichtung (10) als zwei sich in Längs-richtung der Fahrzeugkarosserie (3) zwischen dem vorderen Fahrwerk (6) und dem hinteren Fahrwerk (7) erstreckende, im Wesentlichen plattenförmige Rahmen-elemente (13) ausgebildet ist, deren Erstreckung in Längsrichtung des Fahrzeugs (1) ein Mehrfaches ihrer vertikalen Ausdehnung beträgt und dass die Rahmen-elemente (13) einen vorderen Befestigungsabschnitt (14) und einen hinteren Befestigungsabschnitt (15) zur Montage an dem Fahrzeug (1) aufweisen, deren Abstand zueinander so groß ist, dass der Bereich der Längs-erstreckung des Motors (11) berührungslos überbrückt ist, sowie einen zwischen dem vorderen Befestigungs-abschnitt (14) und dem hinteren Befestigungsabschnitt (15) befindlichen Aufnahmeabschnitt (16) zur Anbringung des Arbeitsgerätes (8) wobei der vordere Befestigungs-abschnitt (14) des jeweiligen Rahmenelementes (13) an dem vorderen Fahrwerk (6) und der hintere Befestigungs-abschnitt (15) des jeweiligen Rahmenelementes (13) an dem Schwungmassegehäuse (12) befestigt ist.
Hilfsantrag 2
Wie im Hilfsantrag 1, wobei das folgende Merkmal am Ende des Anspruchs angefügt wurde:
"wobei das jeweilige Rahmenelement (13) einen konkav geformten Abschnitt (17) zwischen dem vorderen Befestigungsabschnitt (14) und dem Aufnahmeabschnitt (16) aufweist."
Hilfsantrag 3
Wie im Hilfsantrag 2, wobei das folgende Merkmal am Ende des Anspruchs angefügt wurde:
"wobei die Rahmenelemente (13) wenigstens einseitig eine zumindest abschnittsweise strukturiere Oberfläche
(19) aufweisen."
Hilfsantrag 4
Wie im Hilfsantrag 3, wobei das folgende Merkmal am Ende des Anspruchs angefügt wurde:
"und die Rahmenelemente (13) als Gussteile ausgeführt sind."
VII. Die Beschwerdeführerinnen Einsprechenden 1 und 2 haben zu den entscheidungserheblichen Punkten Folgendes vorgetragen:
Anspruch 1 aller Anträge beruhe ausgehend von RHP I-27 nicht auf erfinderischer Tätigkeit. Die Sache sei für die Prüfung der Hilfsanträge 2-4 nicht an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.
VIII. Die Patentinhaberin als Beschwerdegegnerin hat zu den entscheidungserheblichen Punkten Folgendes vorgetragen:
Anspruch 1 aller Anträge beruhe ausgehend von RHP I-27 auf erfinderischer Tätigkeit. Die Sache sei für die Prüfung der Hilfsanträge 2-4 an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerden sind zulässig.
2. Anwendungsgebiet der Erfindung
Die Erfindung betrifft ein landwirtschaftliches Fahrzeug, z.B. einen Traktor, mit einem Motor 11, einem Schwungmassegehäuse 12, einem Getriebegehäuse, einem vorderen Fahrwerk 6, einem hinteren Fahrwerk 7 und einer Aufnahmevorrichtung 10 zur Anbringung eines Arbeitsgeräts 8, z.B. eines Frontladers, siehe die Figuren 1 und 2 der Patentschrift. Die Aufnahme-vorrichtung 10 ist als zwei sich in Längsrichtung des Fahrzeugs zwischen dem vorderen und hinteren Fahrwerk erstreckende Rahmenelemente 13 ausgebildet, die z.B. links und rechts beidseits des Motors angeordnet sind. Die Rahmenelemente 13 weisen vordere bzw. hintere Befestigungsabschnitte 14, 15 auf. Dabei ist der Abstand der beiden Befestigungsabschnitte 14, 15 so groß, dass der Bereich der Längserstreckung des Motors 11 berührungslos überbrückt werden kann. Dadurch wird eine Übertragung von Schwingungen des Motors auf die Fahrzeugkarosserie bzw. auf das Arbeitsgerät 8 verhindert, siehe die Absätze 0006 und 0023 der Patentschrift. Der vordere Befestigungsabschnitt 14 ist am vorderen Fahrwerk 6 befestigt, wodurch die Stabilität in Längsrichtung des Fahrzeugs zunimmt, siehe Absatz 0007 der Patentschrift. Der hintere Befestigungsabschnitt 15 wiederum ist am Schwungmassegehäuse 12 befestigt, so dass laut Absatz 0008 der Patentschrift Längskräfte, die z.B. vom Frontlager übertragen werden, in den hinteren Teil des Fahrzeugs eingeleitet werden können.
3. Hilfsantrag 1 - erfinderische Tätigkeit
Die erfinderische Tätigkeit von Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 wurde ausgehend von der offenkundigen Vorbenutzung "Agro" in Kombination mit dem allgemeinen Fachwissen bestritten.
3.1 Die Einspruchsabteilung war zu der Auffassung gelangt, siehe Absatz 9.3 der angefochtenen Entscheidung, dass die offenkundige Vorbenutzung "Agro" zum Stand der Technik gehört. Demnach wurde ein Traktor des Typs "Profi 4125" der Marke Steyr mit einer Aufnahme-vorrichtung für einen Frontlader ohne explizite Geheimhaltungsverpflichtung Anfang August 2015 zu Schulungszwecken im Rahmen der Magdeburger Feldtage an die Firma Agro Bördegrün GmbH & Co KG ausgeliefert, siehe den Lieferschein auf Seite 15 der RHP I-27. Der Traktor besaß einen Antriebsstrang mit einem Vierzylindermotor, einem Zwischengehäuse für die Schwungmasse und einem Getriebegehäuse, siehe die Seiten 9-13 der RHP I-27. Für die Aufnahme des Frontladers war am Traktor eine Aufnahmevorrichtung montiert. Die Aufnahmevorrichtung besaß zwei sich in Längsrichtung der Fahrzeugkarosserie zwischen dem vorderen und hinteren Fahrwerk erstreckende plattenförmige Rahmenelemente, die den Bereich der Längserstreckung des Motors berührungslos überbrückten. Ungefähr in der Mitte besaß jedes Rahmenelement einen Aufnahmeabschnitt für einen Mast zur Montage eines Arbeitsgeräts, siehe die oberen beiden Abbildungen auf Seite 10 der RHP I-27. Dabei waren die Rahmenelemente einerseits am Vorderachsbock des Traktors - dies entspricht unstrittig dem vorderen Fahrwerk im Sinne des Anspruchs 1 - und andererseits am Getriebegehäuse befestigt, siehe die Seiten 10-12 der RHP I-27.
3.2 Die Parteien stimmen darin überein, dass das einzig mögliche Unterscheidungsmerkmal von Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 gegenüber der Vorbenutzung "Agro" darin besteht, dass "der hintere Befestigungsabschnitt des jeweiligen Rahmenelementes an dem Schwungmassegehäuse befestigt ist". Wegen der hinteren Befestigung der Rahmenelemente am Getriebegehäuse des vorbenutzten Traktors teilt die Kammer diese Auffassung.
3.3 Im Hinblick auf die von diesem Unterscheidungsmerkmal gelöste technische Aufgabe verwies die Beschwerde-gegnerin in ihrer Eingabe vom 18. Oktober 2022 darauf, dass die Aufnahmevorrichtung vereinfacht werde, da Quertraversen und Anbaurahmen entbehrlich werden, siehe den Brückenabsatz zwischen den Seiten 9 und 10 der Eingabe. Die Kammer sieht das anders und hat dazu in ihrer Mitteilung, siehe Absatz 7.3, die folgende vorläufige Meinung vertreten:
"Die von der Patentinhaberin als Beschwerdegegnerin genannte Aufgabe, die Aufnahmevorrichtung zu vereinfachen, scheint mangels Merkmalen im Anspruch, die Quertraversen oder einen Anbaurahmen ausschließen, nicht aus der Wirkung des Unterscheidungsmerkmals ableitbar zu sein. Die Kammer ist daher geneigt, die objektive technische Aufgabe darin zu sehen, eine alternative Befestigung des hinteren Befestigungs-abschnitts zu finden". Während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer hat sich die Beschwerde-gegnerin dazu nicht mehr geäußert, so dass für die Kammer keine Veranlassung dafür besteht, von ihrer Aufgabenformulierung abzurücken.
3.4 Die Kammer muss darum nun prüfen, ob der vom vorbenutzten Traktor Steyr "Profi 4125" ausgehende Fachmann den hinteren Befestigungsabschnitt der Rahmenelemente bei der Suche nach einer alternativen Befestigung auf naheliegende Weise am Schwungmasse-gehäuse befestigen würde. Nach Auffassung der Kammer ist das wegen des nachfolgend diskutierten Zusammenhangs zwischen dem Gewicht eines Rahmenelements und der Höhe der an seinem hinteren Befestigungs-abschnitt wirkenden Kraft der Fall:
3.4.1 Der vorbenutzte Traktor Steyr "Profi 4125" besitzt statt eines Rahmens einen als Driveline bezeichneten Antriebsstrang in Blockbauweise, siehe dessen Darstellung in den oberen Abbildungen auf Seite 10 der RHP I-27. Bei dieser Bauweise des Antriebsstrangs sind das Motorgehäuse, das Schwungmassegehäuse und das Getriebegehäuse zur Aufnahme aller auf den Traktor wirkenden Belastungen als massive Gussteile ausgeführt und über verstärkt ausgebildete Flansche an ihren jeweiligen Enden miteinander verschraubt, siehe die Darstellung der Flansche und Verschraubungen des Schwungmassegehäuses auf Seite 13 der RHP I-27. Der Frontlader wiederum ist über jeweils eine mastförmige Aufnahmevorrichtung an jedem der als Siderail bezeichneten Bauteil befestigt, die ihrerseits mit einem vorderen Befestigungsabschnitt am vorderen Fahrwerk bzw. einem hinteren Befestigungsabschnitt am Getriebegehäuse befestigt sind, siehe die Seiten 7 und 8 der RHP I-27.
3.4.2 An den beiden Befestigungsabschnitten werden die vom Frontlader auf den Traktor ausgeübten Belastungen in den Antriebsstrang des Traktors eingeleitet. Dabei ist die (für die vorliegende Entscheidung einzig relevante) Höhe der Belastung am hinteren Befestigungsabschnitt umgekehrt proportional zu dessen Abstand von der Aufnahmevorrichtung des Frontladers. Die Belastung hinten ist also umso kleiner, je größer der Abstand ist. Zudem hängt das Gewicht eines Rahmenelements von dessen Länge ab, es ist also umso schwerer, je weiter sein hinterer Befestigungsabschnitt von der Aufnahme-vorrichtung entfernt ist. Während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer hat die Beschwerdegegnerin bestätigt, dass einem Fachmann dieser Zusammenhang bekannt ist. Deswegen muss nach Auffassung der Kammer stets ein Kompromiss zwischen dem (möglichst geringen) Gewicht eines Rahmenelements und der (nicht zu hohen) in den Antriebsstrang eingeleiteten Belastung eingegangen werden. Im Falle des vorbenutzten Traktors Steyr "Profi 4125" erhöht eine Verlagerung des hinteren Befestigungsabschnitts vom Getriebegehäuse an das näher zur Aufnahmevorrichtung des Frontladers angeordnete Schwungmassegehäuse zwar die in den Antriebsstrang eingeleiteten Belastungen, verringert jedoch wegen der dann kürzeren Rahmenelemente gleichzeitig deren Gewicht. Nach fester Überzeugung der Kammer wird ein Fachmann wegen dieses Vorteils die dann höheren Belastungen auf den Antriebstrang in Kauf nehmen. Dies gilt umso mehr, als auch die Beschwerdegegnerin während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer die Auffassung vertrat, dass ein Fachmann erkennen würde, dass sich bei der Vorbenutzung "Agro" nach dem Motor als erstes das Schwungmassegehäuse für eine Befestigung der hinteren Befestigungsabschnitte anbiete.
3.4.3 Das Gegenargument der Beschwerdegegnerin, wonach das Schwungmassegehäuse beim vorbenutzten Traktor möglicherweise nicht ausreichend stabil gewesen sei, überzeugt die Kammer dagegen nicht. Wegen der Ausgestaltung des Antriebsstrangs des vorbenutzten Traktors Steyr "Profi 4125" in Blockbauweise müssen sein Motorgehäuse, das Schwungmassegehäuse und das Getriebegehäuse alle auf den Traktor wirkenden Belastungen aufnehmen und weiterleiten. Da sich das Schwungmassegehäuse zwischen dem Motorgehäuse und dem Getriebegehäuse befindet, muss es folglich mindestens genauso stabil sein wie die anderen beiden Gehäuse.
3.4.4 Auch das weitere Gegenargument, wonach die von der Beschwerdegegnerin als Rahmenträger bezeichneten Rahmenelemente (Siderails in der Terminologie in RHP I-27) des vorbenutzten Traktors hätten erheblich modifiziert werden müssen, überzeugt die Kammer nicht. Das Schwungmassegehäuse besitzt nämlich bereits an seinem dem Getriebegehäuse zugewandten Ende einen verdickten Flansch zur Aufnahme von Befestigungs-schrauben, siehe die Verschraubung in den beiden Figuren auf Seite 13 der RHP I-27. Daher wird der Fachmann nach fester Überzeugung der Kammer diesen Flansch ebenfalls zur Verschraubung der hinteren Befestigungsabschnitte der Rahmenelemente nutzen. Die dafür nötigen einfachen Modifikationen - eine Verbreiterung des Flanschbereichs des Schwungmasse-gehäuses und/oder weitere Biegungen in den Rahmen-elementen werden bereits durch die Ausbildung des Befestigungsflansches auf dem Getriebegehäuse gezeigt, siehe die untere Figur auf Seite 10 oder die beiden Figuren auf Seite 13 der RHP I-27 unmittelbar links vom Schwungmassegehäuse. Jedenfalls liegen solche Anpassungen im Rahmen dessen, was von einem Fachmann zu erwarten ist.
3.5 Aus diesen Gründen gelangt die Kammer zum Ergebnis, dass der Gegenstand von Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 für die vom vorbenutzten Traktor Steyr "Profi 4125" laut der Vorbenutzung "Agro" ausgehende Fachmann durch das allgemeine Fachwissen nahegelegt wird. Der Hilfsantrag 1 beruht somit nicht auf erfinderischer Tätigkeit, Artikel 56 EPÜ.
4. Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung
Die Beschwerdegegnerin beantragt eine Befassung der Einspruchsabteilung mit den Hilfsanträgen 2-4, da eine sachliche erstinstanzliche Entscheidung über die Hilfsanträge herbeizuführen sei.
4.1 Die Beschwerdekammer wird gemäß Artikel 111 (1) EPÜ entweder im Rahmen der Zuständigkeit des Organs tätig, das die Entscheidung erlassen hat, oder sie verweist die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an dieses Organ zurück. Nach Artikel 11 VOBK verweist eine Kammer die Angelegenheit dann zur weiteren Entscheidung an das Organ zurück, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, wenn besondere Gründe dafür sprechen. Solche liegen in der Regel vor, wenn das Verfahren vor diesem Organ wesentliche Mängel aufweist, oder ungeprüfte Fragen der Patentierbarkeit vorliegen (RSdBK 10. Auflage 2022, V.A.9.3.2.b)). Dies gilt insbesondere dann, wenn die Einspruchsabteilung nicht alle Einspruchsgründe geprüft hat. Denn in diesem Fall würde die Kammer zwangsläufig den rechtlichen Rahmen der erstinstanzlichen Entscheidung überschreiten, da die verschiedenen Einspruchsgründe nach Artikel 100a) bis 100c) EPÜ gegen das Patent als eigenständige Rechtsgrundlagen zu betrachten sind (s. die konsolidierte Entscheidungen G 1/95 und G 7/95, Entscheidungsgrund 4 mit Unterpunkten 4.1-4.6). Dagegen stellen nicht geprüfte Hilfsanträge oder weitere Angriffslinien gegen ein an sich geprüftes Patentierungserfordernis regelmäßig keine besonderen Gründe dar (RSdBK 10. Auflage 2022, V.A.9.6.1., V.A.9.6.2). Ein Rechtsanspruch auf Entscheidung aller Fragen in zwei Instanzen besteht nicht (siehe V.A.9.2.1). Insbesondere, da die Anerkennung eines solchen Anspruchs absehbar zu einer Vielzahl von Zurückverweisungen und anschließenden Beschwerden führen könnte, was die Kammer für ein offensichtlich widersinniges Ergebnis hält. Ziel des Beschwerde-verfahrens soll es sein, zu einer für alle Parteien verbindlichen Entscheidung zu gelangen. In den Fällen, in denen hierfür die erstmalige Behandlung neuen Sachverhaltes oder neuen Sachvortrages erforderlich wird, ist eine Abwägung zwischen der wünschenswerten Behandlung des Stoffes in zwei Instanzen und der ebenfalls wünschenswerten Verfahrenseffizienz erforderlich. Die Praxis der Kammern tendiert dazu, neu eingereichte Hilfsanträge, die bereits in der Einspruchsabteilung behandelte Einspruchsgründe betreffen, ohne eine Zurückverweisung zu behandeln, eine Zurückverweisung aber dann vorzunehmen, wenn es erforderlich würde, in der ersten Instanz nicht behandelte Einspruchsgründe zu diskutieren.
4.2 Die Beschwerdegegnerin Patentinhaberin hat keine besonderen Gründe, geschweige denn wesentliche Mängel des Verfahrens vor der Einspruchsabteilung aufgezeigt. Aus der Tatsache, dass das Patent in geändertem Umfang aufrechterhalten wurde, folgt, dass die Einspruchs-abteilung alle Einspruchsgründe geprüft hat, was auch aus der angefochtenen Entscheidung hervorgeht. Die Tatsache, dass die erst während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung gestellten Hilfsanträge 2-4 dort nicht diskutiert wurden, stellt aus Sicht der Kammer keinen besonderen Grund dar, da keine derartig neuen Tatsachen zu Tage getreten sind, die die Beteiligten hätten überraschen können oder deren Behandlung den Beteiligten unter den gegebenen Umständen nicht zugemutet werden konnte. Da die angefochtene Entscheidung auf Basis des vorliegenden Hilfsantrags 1 erging, mussten die weiteren Hilfsanträge 2-4 nicht von der Einspruchsabteilung behandelt werden. Auch die Tatsache, dass die Mitteilung der Kammer in Absatz 6 nur darauf verweist, dass gegebenenfalls die Hilfsanträge zu prüfen sind, stellt keinen solchen Grund dar. Denn alle Parteien haben bereits im schriftlichen Beschwerdeverfahren zu den Hilfsanträgen 2-4 vorgetragen, siehe insbesondere Kapitel II.8 der Eingabe der Beschwerdegegnerin vom 18. Oktober 2022.
4.3 Daher entschied die Kammer, im Rahmen der Zuständigkeit der Einspruchsabteilung tätig zu werden und sich mit den Hilfsanträgen 2-4 zu befassen, Artikel 111(1) EPÜ. Der Antrag auf Zurückverweisung wird zurückgewiesen.
5. Hilfsanträge 2-4 - erfinderische Tätigkeit
Die erfinderische Tätigkeit von Anspruch 1 der Hilfsanträge 2-4 wurde ebenfalls ausgehend von der Vorbenutzung "Agro" bestritten.
5.1 Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 2 enthält gegenüber Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 das zusätzliche Merkmal, dass das jeweilige Rahmenelement einen konkav geformten Abschnitt zwischen dem vorderen Befestigungsabschnitt und dem Aufnahmeabschnitt aufweist. Die Beschwerde-gegnerin vertritt diesbezüglich die Auffassung, dass dadurch die Lenkfreiheit des vorderen Fahrwerks bzw. ein größerer Einschlagswinkel der gelenkten Vorderräder des Traktors ermöglicht werde, so dass diese Wirkung im Anspruch mitzulesen sei.
Die Kammer sieht das anders, da der Einschlagwinkel bzw. die Lenkfreiheit zwar in Absatz 0013 des Patents im Zusammenhang mit einem derart angeordneten konkav geformten Abschnitt genannt wird, diese Wirkung des konkaven Abschnitts aber mangels Nennung im Anspruch nicht einschränkend ist. Daher umfasst Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 2 jeglichen konkav geformten Abschnitt zwischen dem vorderen Befestigungsabschnitt des Rahmenelements und dem Aufnahmeabschnitt für den Frontlader, ungeachtet seiner tatsächlichen Wirkung. Die Kammer erkennt bereits beim Traktor der Vorbenutzung "Agro" konkav geformte Abschnitte in den Rahmenelementen, siehe in der unteren Abbildung auf Seite 10 der RHP I-27 den Übergang vom entlang des Motorgehäuses waagerechten Verlauf der beiden Siderails in einen schräg nach oben bzw. unten weisenden Verlauf beim Anschluss an den breiteren Vorderachsblock des Traktors. Da sich diese konkaven Abschnitte zudem zwischen den Vorderrädern des Traktors und der Aufnahme für den Frontlader befinden, siehe erneut die untere Abbildung auf Seite 10, kann das zusätzliche Merkmal in Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 kein Unterscheidungs-merkmal gegenüber dem vorbenutzten Traktor bilden; mithin verändert dieses Merkmal im Vergleich zum Hilfsantrag 1 nicht die Basis für den Aufgabe-Lösungs-Ansatz. Folglich beruht der Gegenstand dieses Anspruchs aus denselben Gründen wie Hilfsantrag 1 nicht auf erfinderischer Tätigkeit, Artikel 56 EPÜ.
5.2 Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 3 enthält gegenüber Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 2 das zusätzliche Merkmal, dass die Rahmenelemente wenigstens einseitig eine zumindest abschnittsweise strukturiere Oberfläche aufweisen. Laut Absatz 0012 der Patentschrift betrifft dieses Merkmal die Erhöhung der Steifigkeit der Rahmenelemente. Eine Synergie dieses Unterscheidungs-merkmals mit der Befestigung am Schwungmassegehäuse ist nicht von der Beschwerdegegnerin argumentiert worden und auch aus Sicht der Kammer nicht erkennbar. Nach Überzeugung der Kammer, und ihr aus eigener Anschauung bekannt, ist, wie von den beiden Beschwerdeführerinnen argumentiert, die Versteifung eines Bauteils mit Rippen fachüblich. Durch Rippen wird das Flächenträgheitsmoment des Bauteils deutlich erhöht, sein Gewicht aber nur mässig vergrößert. Solche fachüblichen Rippen sind als Strukturierung der Oberfläche der Rahmenelemente zu verstehen, siehe die Strukturierung in Form eines aus Rippen gebildeten Stabwerks laut Absatz 0025 und Figur 2 der Patentschrift. Der Gegenstand von Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 3 beruht daher nicht auf erfinderischer Tätigkeit.
5.3 Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 4 enthält gegenüber Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 3 das zusätzliche Merkmal, dass die Rahmenelemente als Gussteile ausgeführt sind. Laut Absatz 0011 der Patentschrift ermöglicht das eine kostengünstige Herstellung der Rahmenelemente. Eine Synergie dieses Unterscheidungsmerkmals mit der Befestigung am Schwungmassegehäuse oder mit der abschnittsweise strukturierten Oberfläche laut Hilfsantrag 3 ist nicht von der Beschwerdegegnerin argumentiert worden und auch aus Sicht der Kammer nicht erkennbar. Nach Überzeugung der Kammer, und ihr ebenfalls aus eigener Erfahrung bekannt, ist, wie auch von den beiden Beschwerdeführerinnen argumentiert, die kostengünstige Herstellung eines komplex geformten Metallbauteils durch ein Urformverfahren wie z.B. Druckguss fachüblich. Ein Fachmann ist es gewohnt, je nach der zu fertigenden Stückzahl die Kosten für die Gussform mit den Einsparungen der gegossenen Teile gegenüber den Kosten einer Herstellung des Bauteils z.B. als Biege- und Schweißkonstruktion abzuwägen. Der Gegenstand von Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 4 beruht daher nicht auf erfinderischer Tätigkeit.
5.4 Folglich beruht der Gegenstand von Anspruch 1 der Hilfsanträge 2-4 ausgehend vom vorbenutzten Traktor Steyr "Profi 4125" laut der Vorbenutzung "Agro" nicht auf erfinderischer Tätigkeit, Artikel 56 EPÜ. Mithin kann die Frage der Zulassung dieser Hilfsanträge zum Beschwerdeverfahren dahingestellt bleiben.
6. Die Kammer stellt somit fest, dass der Befund der Entscheidung zur erfinderischen Tätigkeit nicht richtig war. Daher ist die Entscheidung aufzuheben.
Unter Berücksichtigung der von der Patentinhaberin im Einspruchsverfahren vorgenommenen Änderungen gemäß den Hilfsanträgen 2 bis 4 genügt das europäische Patent und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, nicht den Erfordernissen dieses Übereinkommens, Artikel 101 (3) b) EPÜ. Daher ist das Patent zu widerrufen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.