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T 1845/16 10-03-2020
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VERRIEGELUNG FÜR AUSSENSCHWINGTÜR
Patentansprüche - Klarheit
Patentansprüche - Hauptantrag (nein)
Reformatio in peius - Ausnahme vom Verschlechterungsverbot - Hilfsantrag 1 (ja)
Erfinderische Tätigkeit - Hilfsantrag 1 (ja)
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) legte Beschwerde gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung ein, wonach unter Berücksichtigung der von der Patentinhaberin im Einspruchsverfahren vorgenommenen Änderungen gemäß dem damaligen Hilfsantrag 1 das europäische Patent Nr. 2268526 und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, den Erfordernissen des EPÜ genügen.
II. Am 10. März 2020 fand eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer statt. An deren Ende lautete die Antragslage wie folgt:
Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage des Hauptantrags oder eines der Hilfsanträge 1 bis 7, die alle mit Schreiben vom 7. Februar 2020 eingereicht wurden.
III. Die folgende Entgegenhaltung wird in der vorliegenden Entscheidung verwendet:
D4: EP 0 280 677 A2
IV. Anspruch 1 des Hauptantrags hat folgenden Wortlaut (die Merkmalsbezeichnungen A-K wurden durch die Kammer hinzugefügt):
"A: Türsystem für ein Fahrzeug des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs mit einer Tür (2), einem Türportal (1) und einer Türdichtung (8),
B: wobei die Tür (2) beim Öffnen und Schließen im Wesentlichen parallel zur Fahrzeugaußenwand bewegt wird und wobei die Tür (2)
C: - eine vertikal verlaufende, in Schließrichtung vorne angeordnete Hauptschließkante (31) aufweist, die im geschlossenen Zustand der Tür (2) an einer vertikal im Türportal (1) verlaufenden Portalhauptkante (32) anliegt, und
D: - eine in Schließrichtung hinten angeordnete Nebenschließkante (33) aufweist, die im geschlossenen Zustand der Tür (2) an einer vertikal im Türportal (1) verlaufenden Portalnebenkante (34) anliegt,
E: - eine Türkinematik aufweist, in der Mittel vorgesehen sind, über die die Tür (2) derart geöffnet und geschlossen werden kann, dass die Hauptschließkante (31) beim Öffnen und Schließen entlang einer s-förmigen Bewegungsbahn (10) und die Nebenschließkante (33) entlang einer bogenförmigen Bewegungsbahn (10) bewegt wird,
F: und an der Hauptschließkante (31) mindestens ein Arretierungsbolzen (4) vorgesehen ist, der in ein Gegenlager (3), das an der Portalhauptkante (32) angeordnet ist, eingreift,
G: und an der Nebenschließkante (33) mindestens ein erstes Verschlusselement (36) angeordnet ist, das mit einem zweiten Verschlusselement (38), das an der Portalnebenkante (34) angeordnet ist, zusammenwirkt und die Tür (2) verschließt,
H/J: wobei der Arretierungsbolzen (4) an seiner nach außen weisenden Seite eine Arretierungsbolzenkante (28) aufweist, die beim Schließvorgang der Tür (2) zuerst mit einer in Richtung des Fahrzeuginneren weisenden Gegenlagerkante (27) des Gegenlagers (3) in Kontakt kommt,
I: wobei die Gegenlagerkante (27) als Abstützpunkt wirkt, so dass auf die Tür (2) eine in Richtung des Fahrzeuginneren gerichtete Kraft wirkt, wobei
K: das Türsystem derart ausgestaltet ist, dass die Türkinematik die Tür (2) beim weiteren Schließvorgang gegen den Abstützpunkt schiebt, so dass die von der Türkinematik während des Schließvorgangs der Tür (2) aufgebrachte hohe und in der Fahrzeuglängsachse wirkende Kraft in die in das Fahrzeuginnere gerichtete Kraft umgelenkt wird, so dass die Türdichtung (8) fest eingedrückt wird."
Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 unterscheidet sich vom Hauptantrag dadurch, dass in Merkmal K das Adjektiv "hohe" gestrichen und der Ausdruck "fest eingedrückt" durch "komprimiert" ersetzt wurde.
Die übrigen Anträge spielen für die vorliegende Entscheidung keine Rolle.
V. Die für die vorliegende Entscheidung relevanten Argumente der Beschwerdeführerin lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Hauptantrag - Artikel 123 (2) EPÜ
Die Mittel der Türkinematik nach Merkmal E seien der Ursprungsanmeldung auf Seite 3, dritter Absatz, entnommen. Dort sei jedoch auch spezifiziert, dass die Mittel entweder getriebetechnisch aufgebaut seien oder über Führungselemente verfügten. Da dies in Anspruch 1 nicht mit aufgenommen sei, liege eine unerlaubte Zwischenverallgemeinerung vor.
Hauptantrag - Klarheit
Die Ausdrücke "hohe" Kraft und "fest" eingedrückt in Merkmal K seien nicht klar, da aus dem Anspruch nicht hervorgehe, wann eine Kraft "hoch" und die Dichtung "fest" eingedrückt sei. Auch aus dem Streitpatent lasse sich dies nicht klar ableiten.
Hilfsantrag 1 - Verschlechterungsverbot
Die Streichung der Begriffe "hohe" und "fest" in Anspruch 1 des Hilfsantrags 1, beziehungsweise das Ersetzen von "fest eingedrückt" durch "komprimiert", hebe eine, wenn auch unklare, Beschränkung des Anspruchsgegenstands auf und führe so zur Erweiterung des Schutzumfangs gegenüber der im Einspruchsverfahren aufrechterhaltenen Fassung. Damit werde die Beschwerdeführerin schlechter gestellt, was gegen das Verbot einer reformatio in peius verstoße.
Eine Abweichung von diesem Grundsatz sei gemäß der Entscheidung G 1/99 nur möglich, wenn das Patent andernfalls als unmittelbare Folge einer unzulässigen Änderungen, nicht aber wegen eines Klarheitsmangels, widerrufen werden müsste. Die Entscheidung G 1/99 sei daher im vorliegenden Fall nicht anwendbar, und der Hilfsantrag 1 sei wegen des Verschlechterungsverbots zurückzuweisen.
Hilfsantrag 1 - Erfinderische Tätigkeit
Dokument D4 offenbare ein Türsystem (Figur 1) mit den Merkmalen A-F von Anspruch 1 mit Ausnahme der konkreten Form der Bewegungsbahnen in Merkmal E.
D4 beschreibe denselben grundsätzlichen Mechanismus wie in den Merkmalen H-K definiert: die Anlauffläche 7 wirke beim Kontakt mit der Steuerfläche 8 als Abstützpunkt, wodurch eine in der Fahrzeuglängsachse auf die Tür wirkende Kraft in eine in das Fahrzeuginnere gerichtete Kraft umgelenkt werde, mit der die Türdichtung komprimiert werde.
Dieser Mechanismus sei zwar für eine von der Türkinematik völlig unabhängige, zusätzliche "Dichtvorrichtung" (Spalte 2, Zeilen 30ff.) mit Drehhebeln 4 (Figur 1) beschrieben, komme aber implizit auch beim Schließvorgang der Tür durch die Türkinematik zum Tragen. Denn gemäß Spalte 2, Zeilen 52-63, funktioniere das Schließen der Tür auch ohne die Dichtvorrichtung einwandfrei, was das Abdichten der Tür einschließe. Daher werde die Türdichtung bereits beim Schließvorgang durch die Türkinematik über den in der D4 offenbarten Mechanismus zumindest in gewissem Maße komprimiert.
Figur 1 zeige das Türsystem zwar im durch die Drehhebel der Dichtvorrichtung voll druckertüchtigten Zustand. Es sei aber klar, dass die Drehhebel beim Verpressen der bereits vorkomprimierten Türdichtung nur noch eine geringfügige weitere Bewegung der Tür entlang der Führung der Flächen 7 und 8 bewirkten, und diese schon beim Schließvorgang durch die Türkinematik miteinander in Kontakt kämen.
Daher offenbare D4 auch sämtliche Merkmale H-K.
Die übrigen geringfügigen etwaigen Unterschiede in den Merkmalen E und G beträfen naheliegende konstruktive Maßnahmen, so dass Anspruch 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe.
VI. Die entscheidungsrelevanten Argumente der Beschwerdegegnerin lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Hauptantrag - Artikel 123 (2) EPÜ
Die Verwendung des Verbs "können" im dritten Absatz auf Seite 3 der ursprünglich eingereichten Anmeldung offenbare den getriebetechnischen Aufbau und die Führungselemente als fakultative Möglichkeiten. Sie in Anspruch 1 wegzulassen stelle daher keine Zwischenverallgemeinerung dar.
Hauptantrag - Klarheit
Die Ausdrücke "hohe" Kraft und "fest" eingedrückt seien im Kontext des Streitpatents auszulegen, wo sie im Rahmen der erfindungsgemäßen Aufgabenstellung (Absatz 7) einen klaren Bezug zur Vermeidung von Windgeräuschen und dem Klappern der Tür hätten. Die hierzu benötigten Anpresskräfte seien dem Fachmann in Abhängigkeit vom jeweiligen Fahrzeug, für das die Tür ausgelegt sei, bekannt, und der Anspruch daher nicht unklar sondern höchstens breit.
Hilfsantrag 1 - Verschlechterungsverbot
Sollte eine Aufrechterhaltung des Patents mit den im Einspruchsverfahren eingeführten und weder von der Einsprechenden noch von der Einspruchsabteilung bemängelten Änderungen nicht möglich sein, so wäre es unbillig, der Patentinhaberin die Behebung der erst im Beschwerdeverfahren beanstandeten Mängel wegen des Verschlechterungsverbots zu verwehren und ihr damit das einzige Mittel zu nehmen, das Patent zu verteidigen. Diese Situation sei vergleichbar mit derjenigen, die der formell nur den Fall unzulässiger Änderungen betreffenden Entscheidung G 1/99 zugrunde lag, und dieselbe Ausnahme sei daher auch für den vorliegenden Fall anzuwenden.
Hilfsantrag 1 - Erfinderische Tätigkeit
Die D4 offenbare unstreitig die Merkmale A-F mit Ausnahme der Form der Bewegungsbahnen von Merkmal E.
Die D4 offenbare auch einen Mechanismus wie in den Merkmalen H-K von Anspruch 1 angegeben, jedoch für die vom Schließvorgang der Tür durch die Türkinematik ausdrücklich völlig unabhängige (Spalte 2, Zeilen 52-63) nachgelagerte Druckertüchtigung der Tür durch Drehhebel 4 einer separaten Dichtvorrichtung. Die Flächen 7 und 8 kämen daher, anders als in Merkmal H/J, nicht "beim Schließvorgang der Tür" in Kontakt, und das Schieben, die Kraftumlenkung und Kompression der Türdichtung finde, anders als in Merkmal K gefordert, nicht durch die Türkinematik statt.
Figur 1 der D4 zeige das Türsystem im druckertüchtigten Zustand unter Einwirkung der Drehhebel 4 und offenbare daher nicht, ob sich die Flächen 7 und 8 bereits während des Schließvorgangs berührten. Es sei zwar anzunehmen, dass die Türdichtung bereits beim Erreichen der "Schließendlage" durch die Türkinematik in gewissem Maße abdichte. Dies erfordere aber nicht die Kraftumlenkung über den Kontakt der bei gewöhnlichen Türsystemen gar nicht vorhandenen Flächen 7 und 8. Es lasse sich daher aus der D4 auch nicht implizit entnehmen, dass der Kontakt nach Merkmal H/J bereits beim Schließvorgang der Tür aufträte, und die Kraft der Türkinematik wie in Merkmal K gefordert über das Zusammenspiel der Flächen 7 und 8 auf die Türdichtung umgelenkt werde.
Somit unterscheide sich Anspruch 1 auch in den Merkmalen H-K von dem Türsystem der D4.
Die D4 lehre, dass für das Verpressen der Türdichtung durch die erzwungene Bewegung zwischen der Anlauffläche 7 und der Steuerfläche 8 über die gesamte Höhe der Tür ein gesonderter, von der Türkinematik unabhängiger Antrieb in Form der Drehhebel 4 erforderlich sei. Es sei ja gerade erst der Grundgedanke der Erfindung des Streitpatents, die Druckertüchtigung bereits mit der Türkinematik erreichen zu können. Ohne Rückschau fehle dem Fachmann daher eine Anregung, die Tür der D4 so auszugestalten, dass die Flächen 7 und 8 sich bereits beim Schließvorgang der Tür durch die Türkinematik aufeinander abstützten, um eine Kraftumlenkung auf die Dichtung zu erzielen.
Der Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 beruhe daher auf einer erfinderischen Tätigkeit.
Entscheidungsgründe
1. Hauptantrag
1.1 Artikel 123 (2) EPÜ
Das Merkmal E ist auf Seite 3, zweiter Absatz, erster Satz in Verbindung mit dem dritten Absatz auf Seite 3 ursprünglich offenbart. Der letzte Nebensatz des dritten Absatzes besagt, dass die Mittel "getriebetechnisch aufgebaut sein oder über Führungselemente verfügen" können. Aufgrund des Verbs "können" werden diese spezifischen Ausführungsformen der Mittel als fakultativ verstanden. Folglich führt das Weglassen der spezifischen Ausführungsformen nicht zu einer Zwischenverallgemeinerung, und Anspruch 1 des Hauptantrags erfüllt die Erfordernisse von Artikel 123 (2) EPÜ.
1.2 Mangelnde Klarheit
Die Erfordernisse von Artikel 84 EPÜ beziehen sich auf die Ansprüche, die den Gegenstand angeben müssen, für den Schutz begehrt wird. Die Anspruchsmerkmale müssen daher in sich für den Fachmann und im Kontext des gesamten Anspruchs deutlich sein, ohne dass hierzu ein Rückgriff auf die Beschreibung erforderlich ist.
Mit der Qualifizierung als "hohe" Kraft und "fest" eingedrückt verwendet Anspruch 1 vage und relative Begriffe, die im beanspruchten Zusammenhang eines Türsystems für ein Fahrzeug des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs keine an sich fachbekannte Bedeutung haben.
Es ist daher aus dem Anspruch heraus nicht klar, welche Kraft die Türkinematik aufbringen muss und wann eine Türdichtung fest genug eingedrückt ist, um dem Anspruch zu genügen. Anspruch 1 erfüllt daher nicht die Erfordernisse von Artikel 84 EPÜ.
2. Hilfsantrag 1
2.1 Artikel 84
In Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 wurden gegenüber dem Hauptantrag die unklaren Qualifizierungen "hohe" und "fest" gestrichen, wobei "fest eingedrückt" durch "komprimiert" ersetzt wurde. Diese Änderungen beheben die Klarheitsmängel des Anspruchs 1 des Hauptantrags.
2.2 Artikel 123 (2) und (3) EPÜ
Von der Beschwerdeführerin wurden kein Einwände bezüglich Artikel 123 (2) und (3) EPÜ erhoben.
Die Änderungen in Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 gehen in der Tat nicht über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Anmeldung hinaus.
Die Ausdrücke "hohe" Kraft und "fest eingedrückt" in Merkmal K von Anspruch 1 des Hauptantrags entstammen der ursprünglich eingereichten Anmeldung auf Seite 6, zweiter Absatz. Im zweiten Absatz auf Seite 8, auf den sich der Wortlaut von Merkmal K ebenfalls stützt, wird jedoch der im Wesentlichen gleiche Sachverhalt nochmal in anderen Worten dargestellt, wobei die Kraft der Türkinematik nicht als "hohe" Kraft qualifiziert ist, und für die Wirkung der resultierenden Kraft ins Fahrzeuginnere auf die Dichtung der Ausdruck "komprimiert" statt "fest eingedrückt" gewählt wurde. Die Änderungen in Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 sind daher durch die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung gestützt.
Die Voraussetzungen von Artikel 123 (2) EPÜ sind daher erfüllt.
Der Schutzbereich der Ansprüche ist zudem gegenüber dem erteilten Patent eingeschränkt, so dass auch die Erfordernisse von Artikel 123 (3) EPÜ erfüllt sind.
2.3 Verschlechterungsverbot
2.3.1 Die aus dem Anspruch gestrichenen Begriffe "hohe" und "fest" besitzen, auch wenn sie nicht deutlich sind, im Kontext des Streitpatents eine technische Bedeutung. Die Streichung dieser Ausdrücke hebt deren Einschränkung auf und stellt daher eine Verbreiterung des Gegenstands und Schutzbereichs von Anspruch 1 gegenüber der Fassung dar, die der angefochtenen Entscheidung zugrunde lag, wodurch die Einsprechende und alleinige Beschwerdeführerin schlechter gestellt wird, als wenn sie keine Beschwerde eingelegt hätte.
2.3.2 Grundsätzlich ist ein solchermaßen geänderter Anspruch daher zurückzuweisen, weil er gegen das in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern etablierte Verschlechterungsverbot verstößt (vgl. G 9/92, ABl. EPA 1994, 875).
2.3.3 Von diesem Grundsatz kann nach der Entscheidung G 1/99 (ABl. EPA 2001, 381, Entscheidungsformel) "jedoch ausnahmsweise abgewichen werden, um einen im Beschwerdeverfahren erhobenen Einwand auszuräumen, wenn andernfalls das in geändertem Umfang aufrechterhaltene Patent als unmittelbare Folge einer unzulässigen Änderung, die die Einspruchsabteilung in ihrer Zwischenentscheidung für gewährbar erachtet hatte, widerrufen werden müsste" (Hervorhebung durch die Kammer). Da sich die Entscheidung ausdrücklich auf den Fall unzulässiger Änderungen im Sinne von Artikel 123 (2) EPÜ bezieht, ist sie für den vorliegenden Fall, bei dem das Patent als Folge eines Klarheitsmangels zu widerrufen wäre, nicht unmittelbar anwendbar.
2.3.4 Allerdings sind in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts (9. Auflage 2019, V.A.3.1.6 und 3.1.8; T 1843/09, ABl. EPA 2013, 508, Leitsatz, zweiter Absatz) dieselben Billigkeitsbetrachtungen, die zur Entscheidung G 1/99 geführt haben, auch über den Fall unzulässiger Änderungen hinaus anwendbar.
Insbesondere wäre es generell, wie unter Nr. 12 der Entscheidungsgründe der G 1/99 ausgeführt, unbillig, "dem Einsprechenden/Beschwerdeführer oder der Kammer [im Beschwerdeverfahren] neue Angriffe zu erlauben, während man dem Patentinhaber/Beschwerdegegner eine Verteidigungsmöglichkeit vorenthält". Zwar ist der Patentinhaber gemäß der Entscheidung G 9/92 "primär darauf beschränkt, das Patent in der Fassung zu verteidigen, die die Einspruchsabteilung für gewährbar erachtet hatte", doch "insbesondere wenn der Aufrechterhaltung des Patents Gründe entgegenstehen, die in der ersten Instanz nicht vorgebracht wurden, verdient der nicht beschwerdeführende Patentinhaber aus Gründen der Billigkeit Schutz" (G 1/99, Entscheidungsgründe, Nr. 12). Diese Erwägungen gelten in allgemeiner Weise und sind nicht auf den Fall einer unzulässigen Änderung begrenzt.
Den Entscheidungsgründen der mit der vorliegenden Beschwerde angefochtenen Entscheidung sowie der Niederschrift über die mündliche Verhandlung im Einspruch ist zu entnehmen, dass gegenüber dem erst in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsantrag, der der Zwischenentscheidung zugrunde lag, keine Einwände unter Artikel 84 EPÜ erhoben, und dessen Erfordernisse nicht überprüft wurden. Da die Patentinhaberin daher erst mit der Beschwerdebegründung auf mögliche Probleme mit den Begriffen "hoch" und "fest" aufmerksam gemacht wurde, liegt im vorliegenden Fall eine mit der G 1/99 vergleichbare Situation vor.
2.3.5 Somit ist im vorliegenden Fall eine Übertragung der in der G 1/99 getroffenen Ausnahmeregelung vom Verbot einer reformatio in peius angebracht.
2.3.6 Unter Nr. 15 der Entscheidungsgründe mahnt die G 1/99 an, eine solche Ausnahmeregelung vom ansonsten verbindlichen Grundsatz des Verschlechterungsverbots aus Billigkeitserwägungen zwar zuzulassen, aber eng auszulegen. Sie fordert, dass die Streichung eines unzulässigen Merkmals nur dann vorgenommen werden darf, wenn es keine andere Möglichkeit der Änderung gibt, die die Einsprechende weniger schlechter stellt. Im vorliegenden Fall vermag die Kammer keine solche Möglichkeit zu erkennen und auch von der Beschwerdeführerin wurde diesbezüglich nichts vorgetragen.
2.3.7 Folglich rechtfertigen im vorliegenden Fall die Änderungen in Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 eine Ausnahme vom Grundsatz des Verschlechterungsverbots und es ist der Patentinhaberin somit gestattet, die Klarheitsmängel des Hauptantrags wie im Hilfsantrag 1 beantragt auszuräumen.
2.4 Erfinderische Tätigkeit
2.4.1 D4 offenbart unstreitig:
Ein Türsystem für ein Fahrzeug des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs (Figur 1; Spalte 1, Zeilen 20-28) mit einer Tür (1), einem Türportal (10) und einer Türdichtung (9),
wobei die Tür beim Öffnen und Schließen im Wesentlichen parallel zur Fahrzeugaußenwand bewegt wird ("Schwenkschiebetür", Titel) und wobei die Tür
- eine vertikal verlaufende, in Schließrichtung vorne angeordnete Hauptschließkante (6) aufweist, die im geschlossenen Zustand der Tür an einer vertikal im Türportal verlaufenden Portalhauptkante anliegt, und
- eine in Schließrichtung hinten angeordnete Nebenschließkante (2) aufweist, die im geschlossenen Zustand der Tür an einer vertikal im Türportal verlaufenden Portalnebenkante anliegt,
- eine Türkinematik ("Bewegungsvorrichtung", Spalte 2, Zeilen 52-56) aufweist, in der Mittel vorgesehen sind, über die die Tür derart geöffnet und geschlossen werden kann, dass die Hauptschließkante beim Öffnen und Schließen entlang einer Bewegungsbahn und die Nebenschließkante entlang einer Bewegungsbahn bewegt wird,
und an der Hauptschließkante mindestens ein Arretierungsbolzen (Vorsprung mit Steuerfläche 8, Figur 1) vorgesehen ist, der in ein Gegenlager (Ausbuchtung mit Anlauffläche 7), das an der Portalhauptkante angeordnet ist, eingreift.
Daher sind die Merkmale A-F mit Ausnahme der konkreten Form der Bewegungsbahnen in Merkmal E aus D4 bekannt.
2.4.2 Kern des Türsystems der D4 ist eine Dichtvorrichtung, die die Tür zur Druckertüchtigung gegen die Türdichtung verpresst.
Gemäß Spalte 2, Zeilen 52-63, ist die Dichtvorrichtung völlig unabhängig von der Türkinematik. Sie wird erst nach Erreichen der Schließendlage der Türkinematik aktiviert, und das bekannte Schließen und Verriegeln der Tür durch die Türkinematik funktioniert auch bei einem eventuellen Ausfall der Dichtvorrichtung einwandfrei. Figur 1 zeigt das Türsystem im druckertüchtigten Zustand, also mit aktivierter Dichtvorrichtung.
Dazu übt die Dichtvorrichtung über Drehhebel 4 in der Nähe der Portalnebenkante eine Kraft in Richtung der Fahrzeuglängsachse auf die Anpressfläche 3 an der Nebenschließkante der Tür aus, wobei diese Kraft durch In-Kontakt-Kommen einer Arretierungsbolzenkante (Steuerfläche 8) an der nach außen weisenden Seite des Arretierungsbolzens mit einer als Abstützpunkt dienenden ins Fahrzeuginnere weisenden Gegenlagerkante (Anlauffläche 7) des Gegenlagers und durch Schieben der Arretierungsbolzenkante gegen die Gegenlagerkante in eine in Richtung des Fahrzeuginneren wirkende Kraft umgelenkt wird, durch die die Türdichtung (9) komprimiert wird.
D4 offenbart daher einen Mechanismus der Kraftumlenkung ähnlich wie in den Merkmalen H-K, wobei die Kraftumlenkung im Türsystem der D4 jedoch ausdrücklich beim Druckertüchtigungsvorgang unter der Krafteinwirkung der Dichtvorrichtung stattfindet, nicht wie in den Merkmalen H-K gefordert beim Schließvorgang der Tür unter der Krafteinwirkung der Türkinematik.
2.4.3 Der entscheidende Streitpunkt war, ob implizit bereits die Türkinematik beim Schließvorgang der Tür die Steuerfläche und die Anlauffläche miteinander in Kontakt bringt und über den beschriebenen Mechanismus die Dichtung komprimiert.
2.4.4 Wie von der Beschwerdegegnerin vorgetragen, ist zwar anzunehmen, dass die Türdichtung beim Erreichen der Schließendlage durch die Türkinematik bereits abdichtet und dabei zumindest in gewissem Maße komprimiert wird - denn so versteht der Fachmann ein "einwandfreies Funktionieren der Verriegelungs- und Bewegungsmechanismen" (Spalte 2, Zeilen 61-63). Es gibt jedoch keine unmittelbare und eindeutige Offenbarung, dass dies über einen Kontakt der Flächen 7 und 8 und eine anspruchsgemäße Kraftumlenkung geschieht.
Zum einen offenbart die D4 keine Details zur Türkinematik und es gibt daher keinen Anlass, davon auszugehen, dass diese Gebrauch von der nur im Zusammenhang mit der Druckertüchtigung beschriebene Kraftumlenkung macht.
Zum anderen lässt sich aus Figur 1 der D4, die die Tür im druckertüchtigten Zustand zeigt, nicht schließen, ob bereits vor Aktivierung der Drehhebel ein Kontakt der Flächen 7 und 8 vorliegt. Ob bei der Druckertüchtigung mittels der Drehhebel nur noch eine geringe Bewegung der Tür auftritt, und ob diese so gering ist, dass die Flächen 7 und 8 bereits vorher miteinander in Kontakt stehen müssen, lässt sich der D4 nicht unmittelbar und eindeutig entnehmen. Für ein reibungsloses Funktionieren der Dichtvorrichtung ist es zwar zwingend erforderlich, dass die Türkinematik die Tür so vorpositioniert, dass die Drehhebel in Eingriff mit der Anpressfläche 3 kommen können, und die Steuerfläche 8 dabei auf die Anlauffläche 7 trifft. Dazu ist es aber nicht notwendig, dass die Flächen 7 und 8 bereits beim Schließvorgang der Tür durch die Türkinematik in Kontakt kommen.
Da ein solcher Kontakt sich somit nicht unmittelbar und eindeutig, weder explizit noch implizit, aus der D4 ableiten lässt, unterscheidet sich der Gegenstand von Anspruch 1 von dem Türsystem der D4 zumindest dadurch, dass die Arretierungsbolzenkante und die Gegenlagerkante bereits beim Schließvorgang der Tür durch die Türkinematik miteinander in Kontakt kommen (Merkmal H/J), und dass dabei die Kraft der Türkinematik zur Kompression der Türdichtung umgelenkt wird (Merkmal K).
2.4.5 Zu der Frage, ob und aus welchen Gründen der Fachmann den fehlenden Kontakt dennoch auf naheliegende Weise herstellen würde, hat die Beschwerdeführerin keine Argumente vorgetragen.
2.4.6 Wie von der Beschwerdegegnerin vorgetragen, können die Merkmale H-K nur bei rückschauender Betrachtung als naheliegend erscheinen. Durch ihre Lehre eines separaten Antriebs für die Dichtvorrichtung führt die D4 den Fachmann davon weg, die Türkinematik anstelle der Drehhebel für die Druckertüchtigung einzusetzen. Für die Möglichkeit, beim Vorpositionieren der Tür in der Schließendlage bereits ein Kontakt zwischen der Steuerfläche und der Anlauffläche vorzusehen, gibt es in der D4 keine Anregung, so dass der Fachmann eine solche Maßnahme zwar realisieren könnte, aber nicht unbedingt würde. Die Kammer ist daher der Ansicht, dass der Fachmann bereits die Merkmale H-K nicht auf naheliegende Weise verwirklichen würde.
Da der Gegenstand von Anspruch 1 somit bereits aufgrund der Merkmale H-K auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht, kann dahingestellt bleiben, ob sich noch in weiteren Anspruchsmerkmalen Unterschiede zur Lehre der D4 ergeben, und ob diese naheliegend sind.
2.4.7 Folglich beruht der Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 ausgehend von D4 auf einer erfinderischen Tätigkeit.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen mit der Anordnung das Patent aufrechtzuerhalten mit folgenden Unterlagen:
Ansprüche:
1 bis 6 gemäß Hilfsantrag 1 eingereicht mit Schreiben vom 7. Februar 2020,
Beschreibung:
Paragraphen 1-5, 7-33 der Patentschrift,
Paragraph 6 eingereicht in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung,
Zeichnungen:
Blätter 1/4-4/4 der Patentschrift.