J 0008/94 (Wiedereinsetzung) 07-12-1995
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Sachverhalt und Anträge
I. Die vorliegende Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Eingangsstelle vom 14. Dezember 1993, mit der ein Antrag der Anmelderin der Europäischen Patentanmeldung Nr. 91 105 595.2 auf Wiedereinsetzung in die Frist für die Stellung des Prüfungsantrags nach Artikel 94 (2) EPÜ und/oder in die entsprechende Nachfrist nach Regel 85b EPÜ zurückgewiesen wurde.
II. Der Antrag auf Wiedereinsetzung war eingereicht worden, nachdem der Vertreter der Anmelderin bemerkt hatte, daß die Prüfungsgebühr wegen eines irrtümlichen Vermerks in der Vertreterakte innerhalb der genannten Fristen nicht entrichtet worden war.
III. Mit der angefochtenen Entscheidung wies die erste Instanz diesen Wiedereinsetzungsantrag als unzulässig zurück. Zur Begründung führte sie aus, daß die Bestimmung von Artikel 122 (5) EPÜ eine Wiedereinsetzung sowohl in die Grundfrist gemäß Artikel 94 (2) EPÜ als auch in die entsprechende Nachfrist gemäß Regel 85b EPÜ ausschließe. Sie bezog sich dabei insbesondere auf die Entscheidung J 12/82 (ABl. EPA 1983, 221) der Juristischen Beschwerdekammer.
IV. Gegen die Entscheidung der Eingangsstelle legte die Anmelderin und nunmehr Beschwerdeführerin am 11. Februar 1994 Beschwerde ein und zahlte gleichzeitig die Beschwerdegebühr. In der am 15. April 1994 eingereichten Beschwerdebegründung und während der mündlichen Verhandlung vor der Juristischen Beschwerdekammer vom 7. Dezember 1995 trug die Beschwerdeführerin im wesentlichen folgendes vor:
i) Die von der ersten Instanz herangezogene Entscheidung J 12/82 betreffe noch die alte Fassung der Regel 85b EPÜ, bei welcher sich die Nachfrist unmittelbar an die Grundfrist zur Stellung des Prüfungsantrags angeschlossen habe. Die Entscheidung sei deshalb auf die neue Fassung dieser Regel nicht anwendbar. In der neuen Fassung stelle die Nachfrist eine selbständige, von der Grundfrist völlig unabhängige Frist dar, die demzufolge vom Ausschluß gemäß Artikel 122 (5) EPÜ nicht erfaßt werde.
ii) Dies sei insbesondere deshalb der Fall, weil Artikel 122 (5) EPÜ, in welchem nur die Grundfrist gemäß Artikel 94 (2) EPÜ ausdrücklich erwähnt werde, als Ausnahmebestimmung eng auszulegen sei. Diese Ansicht werde u. a. auch von Singer, Europäisches Patentübereinkommen, Köln etc., 1989, Rdn. 6 zu Artikel 122 EPÜ, vertreten.
iii) Singer weise in diesem Zusammenhang auch darauf hin, daß ein Grund für den Ausschluß der Prüfungsantragsfrist von der Wiedereinsetzung die ursprünglich geplante lange Dauer dieser Frist gewesen sei. Nachdem sich dieser Grund nicht verwirklicht habe, biete sich nun mit der neuen Fassung der Regel 85b EPÜ die Gelegenheit, durch eine entsprechend enge Auslegung von Artikel 122 (5) EPÜ die Härte dieses eigentlich obsoleten Ausschlusses für die Anmelder so weit als möglich zu mildern.
iv) Die Entscheidung G 3/91 (ABl. EPA 1993, 8) der Großen Beschwerdekammer stehe dem nicht entgegen. Diese Entscheidung befasse sich in Ziffer 2 der Gründe lediglich mit den Nachfristen gemäß Regel 85a EPÜ in der neuen Fassung. Sie betreffe damit nur Nachfristen, die sich auf das Anfangsstadium des Anmeldeverfahrens bezögen. Die Entscheidung lasse offen, wie es sich mit der Nachfrist nach Regel 85b EPÜ verhalten solle, die ein späteres Verfahrensstadium betreffe. Damit habe die Große Beschwerdekammer bewußt Raum geschaffen für eine Auslegung von Artikel 122 (5) EPÜ, welche zwischen den Nachfristen der Regeln 85a und 85b EPÜ differenziere.
v) Eine solche Differenzierung sei sachlich insbesondere deshalb gerechtfertigt, weil eine Versäumung der Frist zur Stellung des Prüfungsantrags bzw. der Nachfrist nach Regel 85b EPÜ ein spätes Verfahrensstadium betreffe, in welchem zufolge der vorherigen Veröffentlichung der Anmeldung jede Möglichkeit einer erneuten Einreichung der Anmeldung entfalle. Dies stelle für die Anmelder eine besondere Härte und für die Vertreter ein großes Risiko dar, da der Verlust der Schutzrechte für alle benannten Staaten endgültig sei. Die in Regel 85a EPÜ erwähnten Fristen beträfen dagegen ein frühes Verfahrensstadium, in welchem eine erneute Einreichung der Anmeldung oft noch möglich sei.
vi) Angesichts dieser sachlichen Unterschiede sei eine Gleichbehandlung der Regeln 85a und 85b EPÜ im Hinblick auf den Ausschluß der Nachfristen von der Wiedereinsetzung trotz ihres ähnlichen Wortlauts nicht gerechtfertigt. Daran ändere auch ein entsprechender Hinweis in den Materialien zur Neufassung dieser Regeln nichts.
Insgesamt spreche deshalb vieles dafür, Artikel 122 (5) EPÜ im Hinblick auf die Nachfrist von Regel 85b EPÜ eng auszulegen, so daß diese Nachfrist nicht von der Wiedereinsetzung ausgeschlossen werde.
V. Die Beschwerdeführerin beantragte, daß ihrem Antrag auf Wiedereinsetzung in die Nachfrist gemäß Regel 85b EPÜ stattgegeben werde. Hinsichtlich der Erfüllung der Sorgfaltspflicht verwies sie auf ihre Ausführungen vor der ersten Instanz.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 sowie Regel 1 (1) und Regel 64 EPÜ. Sie ist deshalb zulässig. Die Beschwerdeführerin hat ihr Einverständnis mit der Abfassung der schriftlichen Entscheidung in deutscher Sprache erklärt, was die Abweichung von der Verfahrenssprache Englisch rechtfertigt (vgl. dazu J 18/90, ABl. EPA 1992, 511).
2. Die angefochtene Entscheidung betrifft einen auf Artikel 122 EPÜ gestützten Antrag auf Wiedereinsetzung in die Frist zur Stellung des Prüfungsantrags bzw. in die entsprechende Nachfrist nach Regel 85b EPÜ. Nach Ansicht der ersten Instanz war dieser Wiedereinsetzungsantrag unzulässig, weil er sich auf Fristen bezog, die nach Artikel 122 (5) EPÜ von der Wiedereinsetzung ausgeschlossen sind.
Bezüglich der Grundfrist gemäß Artikel 94 (2) EPÜ wurde dies von der Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung zu Recht nicht mehr in Frage gestellt (vgl. Entscheidung G 5/92, ABl. EPA 1994, 22, der Großen Beschwerdekammer).
3. Zu prüfen bleibt deshalb, ob der in Artikel 122 (5) EPÜ statuierte Ausschluß der Prüfungsantragsfrist von der Wiedereinsetzung auch für die Nachfrist gemäß Regel 85b EPÜ gilt oder nicht.
Für die alte Fassung von Regel 85b EPÜ, die am 4. Juni 1981 in Kraft trat, ist dies von der Juristischen Beschwerdekammer schon bejaht worden (vgl. Entscheidung J 12/82, ABl. EPA 1983, 221). Die Beschwerdeführerin vertritt jedoch die Ansicht, daß diese Entscheidung für die neue Fassung von Regel 85b EPÜ nicht mehr zutreffe, die seit dem 1. April 1989 mit geringfügigen Änderungen in Kraft steht (vgl. ABl. EPA 1989, 1 f.).
4. Vor der Einführung der Nachfristregelung von Regel 85b EPÜ hatte Artikel 122 (5) EPÜ in Verbindung mit Artikel 94 (2) und (3) EPÜ zur Folge, daß jede Nichteinhaltung der Frist zur Stellung des Prüfungsantrags unwiderruflich zum Verlust der Anmeldung führte. Als besonders gravierend trat dabei in Erscheinung, daß der unwiderrufliche Verlust der Anmeldung in einem fortgeschrittenen Stadium des Verfahrens erfolgte, in welchem bereits erhebliche Gebühren entrichtet worden waren und auch eine Neueinreichung der Anmeldung wegen der vorangegangenen Veröffentlichung nicht mehr in Frage kam (vgl. Explanatory Memorandum, Dok. CA/52/80 vom 23. September 1980, Part I, II.1).
Vor diesem Hintergrund bestand der Zweck der ursprünglichen Regel 85b EPÜ in der Schaffung einer Regelung, die es anstelle der ausgeschlossenen Wiedereinsetzung gestattete, das Risiko eines unwiderruflichen Rechtsverlusts auf anderem Weg herabzusetzen. Der Sinn dieser Bestimmung lag demnach nicht darin, unter Umgehung des eindeutigen Ausschlusses von Artikel 122 (5) EPÜ eine neue Wiedereinsetzungsmöglichkeit zu eröffnen (vgl. dazu Entscheidung J 12/82, ABl. EPA 1983, 221, Nr. 7 bis 9 der Gründe).
5. Daran hat sich durch die Neufassung der Regel 85b EPÜ im Jahr 1989 nichts geändert.
Gemäß dieser Fassung schließt die Nachfrist nun nicht mehr unmittelbar an die Frist zur Stellung des Prüfungsantrags an, sondern beginnt erst mit Zustellung einer Mitteilung des Amtes zu laufen, in der auf die Fristversäumung hingewiesen wird.
Die Änderung erfolgte auf Grund der Erfahrung, daß bei einer Versäumung der Grundfrist oft auch die unmittelbar daran anschließende Nachfrist nicht wahrgenommen werden konnte. Dieses Problem ergab sich in gleicher Weise für alle Nachfristen gemäß Regel 85a und 85b EPÜ (vgl Dok. CA/29/88 vom 16. Mai 1988, Part I, Art. 14).
Die Neufassung der Regeln 85a und 85b EPÜ hatte demnach vor allem verfahrenstechnische Gründe. Sie bezweckte in erster Linie eine Erhöhung der Sicherheit für die Anmelder bei der Wahrnehmung der Nachfristen. Am Ausschluß der Nachfristen von der Wiedereinsetzung sollte sich dadurch aber nichts ändern, wie sich aus den vorbereitenden Dokumenten eindeutig ergibt (Dok. CA/79/88/Add.1 vom 21. November 1988, Ziff. 3).
6. Für Regel 85a EPÜ wurde dies von der Großen Beschwerdekammer in der Entscheidung G 3/91 (ABl. EPA 1993, 8, Nr. 2 der Gründe) bestätigt. Danach ist die Nachfrist gemäß Regel 85a EPÜ auch in der neuen Fassung eng an die entsprechenden Grundfristen gebunden und daher ebenso wie diese von der Wiedereinsetzung ausgeschlossen.
Aus dem Umstand, daß die Große Beschwerdekammer in diesem Zusammenhang Regel 85b EPÜ unerwähnt ließ, läßt sich jedoch nicht schließen, daß Raum für eine abweichende Beurteilung dieser Nachfrist geschaffen werden sollte. Vielmehr verhält es sich so, daß die entsprechende Rechtsfrage für den vorgelegten Fall nicht entscheidungserheblich war, weshalb sie von der Großen Beschwerdekammer gemäß ihrer ständigen Praxis auch nicht beantwortet wurde (vgl. G 4/91, ABl. EPA 1993, 339; G 5/92, ABl. EPA 1994, 22; G 6/92, ABl. EPA 1994, 25).
Hingegen läßt die genannte Entscheidung G 3/91 erkennen, daß die Ausnahmebestimmung von Artikel 122 (5) EPÜ nicht generell "eng" auszulegen ist. Zumindest bezüglich der Nachfristregelung von Regel 85a EPÜ kann darüber kein Zweifel bestehen.
7. Was die Nachfrist von Regel 85b EPÜ betrifft, sieht die Kammer keine Gründe für eine andere Auslegung der Bestimmung von Artikel 122 (5) EPÜ.
In der Systematik des Übereinkommens stellen die Regeln 85a und 85b EPÜ verfahrenstechnisch analog ausgestaltete Rechtsbehelfe dar, die sich auf die Versäumung von Fristen beziehen, welche nach Artikel 122 (5) EPÜ gleichermaßen von der Wiedereinsetzung ausgeschlossen sind. Artikel 122 (5) EPÜ selbst sieht ebenfalls keinerlei Differenzierung zwischen den darin erwähnten, von der Wiedereinsetzung ausgeschlossenen Fristen vor.
Auch die Neufassung der Regeln 85a und 85b EPÜ läßt keine unterschiedliche Ausgestaltung der Nachfristen im Hinblick auf die Wiedereinsetzbarkeit erkennen (vgl. oben Ziff. 5). In beiden Regeln sind die Nachfristen in der genau gleichen Weise an die Grundfrist gebunden. Die Folgerungen der Entscheidung G 3/91 treffen damit auch auf Regel 85b EPÜ zu.
8. Schon bei der Schaffung der ursprünglichen Regel 85b EPÜ hatte der Gesetzgeber in Betracht gezogen, daß ein entsprechender Rechtsverlust zufolge der Rücknahmefiktion von Artikel 94 (3) EPÜ schwerere Folgen für den Anmelder haben kann als ein Rechtsverlust, der im Zusammenhang mit der Versäumung einer der in Regel 85a EPÜ genannten Fristen eintritt (vgl. oben Ziff. 4, sowie Explanatory Memorandum, Dok. CA/52/80 vom 23. September 1980, Part I, II.1). Dennoch und im Wissen um die unterschiedlichen Rechtsfolgen wurden für beide Fälle analoge Regelungen eingeführt.
Somit läßt sich auch im Hinblick auf die unterschiedliche Schwere der Rechtsfolgen keine Besonderheit der Auslegung von Artikel 122 (5) EPÜ im Hinblick auf die Nachfrist von Regel 85b EPÜ begründen.
9. Aus alledem folgt, daß die von der Beschwerdeführerin vertretene Auslegung von Artikel 122 (5) EPÜ im Übereinkommen keine Grundlage findet.
Die Kammer kommt damit zum Ergebnis, daß die Nachfrist gemäß der geltenden Fassung von Regel 85b EPÜ ebenso von der Wiedereinsetzung ausgeschlossen ist wie die in Artikel 122 (5) EPÜ genannte Grundfrist zur Stellung des Prüfungsantrags gemäß Artikel 94 (2) EPÜ.
10. Die Kammer hat zwar ein gewisses Verständnis für das Argument der Beschwerdeführerin, daß eine Versäumung der Nachfrist gemäß Regel 85b EPÜ auch bei größter Sorgfalt nie ganz auszuschließen sei, so daß sich für den betroffenen Anmelder bei Versäumung der Frist ein endgültiger Rechtsverlust ergeben kann. Es ist der Beschwerdeführerin zuzugestehen, daß die geltende Regelung nicht jedes Risiko eines Rechtsverlusts auszuschließen vermag. Das war - wie dargelegt - auch nicht die Absicht des Gesetzgebers. Eine Änderung dieser Situation stellt jedoch ein Postulat de lege ferenda dar, das die Kammer im Wege der Rechtsprechung nicht zu verwirklichen vermag, da sie an die bestehende, vom Gesetzgeber geschaffene Rechtslage gebunden ist.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.