T 0202/89 (Beschwerdefähigkeit der Beitretenden) 07-02-1991
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Der Großen Beschwerdekammer wird die folgende Rechtsfrage vorgelegt:
Steht dem Beitretenden, der seinen Beitritt zum Einspruchsverfahren (Art. 105 EPÜ) während der Beschwerdefrist nach Erlaß der Entscheidung der Einspruchsabteilung wirksam erklärt, die Beschwerde im Sinne des Artikels 107 EPÜ zu?
Beschwerdeberechtigung der Beitretenden
Vorlage an die Große Beschwerdekammer
Sachverhalt und Anträge
I. Auf den Gegenstand der europäischen Patentanmeldung Nr. 83 111 805.4, die am 25. November 1983 unter Inanspruchnahme einer deutschen Priorität vom 6. Dezember 1982 angemeldet worden war, ist am 29. Oktober 1986 das europäische Patent Nr. 0 110 342 erteilt worden.
II. Gegen das erteilte Patent hat die Arova-Mammut AG (Einsprechende) am 26. März 1987 Einspruch eingelegt und den Antrag gestellt, das Patent zu widerrufen.
III. Mit Entscheidung vom 4. Januar 1989 hat die Einspruchsabteilung den Einspruch aufgrund des Artikels 102 (2) EPÜ zurückgewiesen. Die Abgabe dieser Entscheidung zur Post als eingeschriebener Brief mit Rückschein erfolgte am gleichen Tag.
IV. Mit Schreiben vom 17. Februar 1989, eingegangen am 18. Februar 1989, hat die Firma Westdeutscher Drahtseil-Verkauf Dolezych GmbH & Co.KG (Beitretende) gemäß Artikel 105 EPÜ den Beitritt zum Einspruchsverfahren erklärt und gleichzeitig Beschwerde eingelegt. Ferner hat die Beitretende am 18. Februar 1989 die Einspruchs- und die Beschwerdegebühr entrichtet. Die Beschwerdebegründung wurde am 31. März 1989 eingereicht. Die Einsprechende hat es dagegen unterlassen, Beschwerde einzulegen.
V. Zur Begründung des Beitritts hat die Beitretende vorgetragen, daß die Inhaberin des angefochtenen Patents (SPANSET INTER AG) am 25. Januar 1989 gegen sie eine Verletzungsklage erhoben habe. Eine Kopie der Klageschrift war ihrem Schreiben vom 17. Februar 1989 beigelegt.
VI. Mit Bescheid gemäß Artikel 110 (2) EPÜ vom 17. November 1989 hat die Kammer den Beteiligten ihre vorläufige Auffassung mitgeteilt, daß die Beitretende nicht Verfahrensbeteiligte geworden sei und die Entscheidung der Einspruchsabteilung nach Ablauf der Beschwerdefrist Rechtskraft erlangt habe. Zur Begründung wurde darin u. a. folgendes ausgeführt: Der Beitritt sei erst während der Beschwerdefrist nach Erlaß der Entscheidung der Einspruchsabteilung im Sinne von Artikel 105 (2) EPÜ wirksam geworden. Da die Beitretende somit die Voraussetzungen des Artikels 107, Satz 1 EPÜ nicht erfülle, sei sie nicht zur Beschwerde berechtigt. Auf der anderen Seite habe es die Einsprechende, die - im Gegensatz zu der Beitretenden - an dem zu der Entscheidung führenden Verfahren im Sinne von Artikel 107 Satz 1 EPÜ beteiligt war, unterlassen, innerhalb der Frist gemäß Artikel 108 EPÜ Beschwerde einzulegen. Nach Ablauf dieser Frist sei die Entscheidung der Einspruchsabteilung somit rechtskräftig geworden, weil der Beitretenden die Beschwerde nicht zustand.
VII. Mit Schreiben vom 29. November 1989, eingegangen am 2. Dezember 1989, hat die Beitretende zu dem Bescheid der Kammer Stellung genommen. Darin wird insbesondere folgendes ausgeführt: - Die Auffassung der Kammer, daß ein Beitretender dann nicht zur Beschwerde berechtigt ist, wenn die Beitrittserklärung innerhalb der Beschwerdefrist nach Erlaß der Entscheidung der Einspruchsabteilung erfolgt und im übrigen kein anderer Verfahrensbeteiligter eine zulässige Beschwerde eingelegt hat, finde in Artikel 107 Satz 1 EPÜ keine Stütze. Das Einspruchsverfahren ende nämlich erst dann, wenn die Entscheidung einer Einspruchsabteilung Rechtskraft erlangt hat. Der Beitritt erfolgte somit im vorliegenden Fall während des noch anhängigen Verfahrens. Die Beitretende sei deshalb an dem Einspruchsverfahren beteiligt und durch die Entscheidung der Einspruchsabteilung auch beschwert.
- Weder Artikel 105 noch 107 EPÜ verlangten ausdrücklich den Beitritt vor der Entscheidung einer Einspruchsabteilung. Das lasse sich auch nicht aus dem Wortlaut des Artikels 107 EPÜ herleiten. Wenn der Gesetzgeber tatsächlich gewollt hätte, daß der Beitritt nach Artikel 105 EPÜ vor der Entscheidung einer Einspruchsabteilung erfolgen muß, hätte er das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch im Wortlaut zum Ausdruck gebracht.
- Nach deutschem Recht (§ 81 Absatz 2 des Patentgesetzes) könne eine Klage auf Erklärung der Nichtigkeit eines Patents nicht erhoben werden, solange ... ein Einspruchsverfahren anhängig ist. Wenn also der Beitritt gemäß Artikel 105 EPÜ nach der vorläufigen Auffassung der Kammer bereits vor dem 4. Januar 1989 hätte erfolgen müssen (was wegen der erst später zugestellten Verletzungsklage gar nicht möglich war), dann wäre die vermeintliche Patentverletzerin bis zum Ablauf der Beschwerdefrist zur Tatenlosigkeit verurteilt. Sie hätte weder im Rahmen des EPÜ noch des deutschen Patentgesetzes eine Möglichkeit, das Klagepatent anzugreifen. Im Extremfall würde danach der Inhaberin eines europäischen Patents ein für den Zeitraum der zweimonatigen Beschwerdefrist von einer vermeintlichen Patentverletzerin unangreifbares Patent zur Verfügung stehen, jedenfalls soweit sich dessen Wirkung auf die Bundesrepublik Deutschland erstreckt und die vermeintliche Patentverletzerin nicht Einsprechende ist. Das kann der europäische Gesetzgeber nicht gewollt haben. Auch aus diesem Grunde müsse daher der Beitritt nach Artikel 105 EPÜ auch noch nach der Entscheidung einer Einspruchsabteilung mit der Einlegung des Rechtsmittels bzw. der Beschwerde möglich sein.
VIII. Die Beitretende hat hilfsweise den Antrag gestellt, die Rechtsfrage, ob ein Beitretender zur Beschwerde berechtigt ist, wenn der Beitritt zum Einspruchsverfahren erst während der Beschwerdefrist erfolgt, der Großen Beschwerdekammer vorzulegen, falls die Kammer dem Vortrag der Beitretenden nicht folgen sollte.
Die Patentinhaberin und die Einsprechende enthielten sich einer sachlichen Stellungnahme.
Entscheidungsgründe
1. Der Beitritt entspricht den Vorschriften des Artikels 105 EPÜ; er ist seit dem 18. Februar 1989 wirksam (Artikel 105 (2) Satz 2 EPÜ).
Die von der Beitretenden eingelegte Beschwerde entspricht zwar den Artikeln 106 bis 108 und Regeln 1 (1) und 64 EPÜ; es stellt sich jedoch die Frage, ob sie im vorliegenden Fall überhaupt zur Beschwerde berechtigt ist.
2. Es dürfte unbestritten sein, daß der Beitretende, der seinen Beitritt vor Erlaß der Entscheidung der Einspruchsabteilung erklärt, beschwerdeberechtigt ist (vgl. unten Abschnitt 5). Grundsätzlich herrscht auch Einigkeit darüber, daß aufgrund von Artikel 105 in Verbindung mit Regel 66 (1) EPÜ der Beitritt auch noch während des Beschwerdeverfahrens erklärt werden kann (vgl. Singer, Kommentar zum europäischen Patentübereinkommen, Carl Heymanns Verlag KG, Köln, Berlin, Bonn, München 1989, Art. 105, Rdn. 4; Schulte, Patentgesetz, 4. Auflage, Carl Heymanns Verlag KG, Köln, Berlin, Bonn, München 1987, § 59, Rdn. 83; Entscheidung T 338/89 v. 10.12.1990, Abschnitt 4). Kontrovers ist dagegen die Frage, ob dem Beitretenden die Beschwerde auch dann zusteht, wenn der Beitritt während der Beschwerdefrist erfolgt (vgl. unten Abschnitt 6).
3. Die Antwort auf die Frage, ob der Beitretende zur Beschwerde auch dann berechtigt ist, wenn der Beitritt erst während der Beschwerdefrist rechtswirksam erklärt wird, hängt in entscheidendem Maße von der Auslegung des Artikels 107 EPÜ ab.
4. Gemäß Artikel 107 EPÜ steht die Beschwerde nur denjenigen zu, die einerseits an dem Verfahren beteiligt waren, das zu der Entscheidung geführt hat, und andererseits durch diese Entscheidung beschwert sind. Verfahrensbeteiligung und Beschwer sind mithin für die Beschwerdelegitimation konstitutiv. Im Zuge der Auslegung dieser Begriffe sollte jedoch auch der "ratio legis" des Artikels 105 EPÜ hinreichend Beachtung geschenkt werden.
5. Artikel 105 (1) EPÜ bestimmt, daß der Verletzungsbeklagte auch nach Ablauf der Einspruchsfrist dem Einspruchsverfahren beitreten kann. Gemäß Artikel 105 (2) EPÜ wird der Beitritt im übrigen als Einspruch behandelt, soweit in der Ausführungsordnung nichts anderes festgelegt ist. Das bedeutet, daß der Beitretende grundsätzlich auch berechtigt ist, das Rechtsmittel der Beschwerde zu ergreifen. Regel 57 (4) EPÜ (als einzige Vorschrift der Ausführungsordnung, die sich auf den Beitritt bezieht) steht dem nicht entgegen. Im übrigen ist der Sinn ("ratio legis") des Artikels 105 EPÜ darin zu sehen, dem Verletzungsbeklagten die Möglichkeit zu eröffnen, zur Wahrung seiner legitimen Interessen gegenüber dem Verletzungskläger und Patentinhaber einem bereits anhängigen Einspruchsverfahren beizutreten, um dadurch gegebenenfalls auf die Durchführung von in der Regel viel kostspieligeren Nichtigkeitsverfahren auf nationaler Ebene verzichten zu können.
6. Hinsichtlich der Frage, welche Voraussetzungen bezüglich des Zeitpunkts des Beitritts sowie der Beschwer erfüllt sein müssen, damit dem Beitretenden aufgrund von Artikel 107 EPÜ die Beschwerde zusteht, ist folgendes auszuführen:
6.1. Singer (a.a.O., Art. 105, Rdn. 4, letzter Abschnitt) vertritt die Auffassung, daß dem Beitretenden die Beschwerde dann nicht zusteht, wenn er den Beitritt während der Beschwerdefrist erklärt (vgl. auch Prüfungsrichtlinien des EPA, Teil D, Abschnitt VII.7, wo dieselbe Meinung vertreten wird). Im Gegensatz dazu ist Schulte (a.a.O., § 59, Rdn. 83) der Ansicht, daß die Beschwerdelegitimation in diesem Fall besteht. Beide Autoren unterließen es jedoch, soweit ersichtlich, ihre Meinungen näher zu begründen.
6.2. In der Lehre wird zwischen formeller und materieller Beschwer unterschieden. Formelle Beschwer besteht dann, wenn beispielsweise die angefochtene Entscheidung der Einspruchsabteilung von dem im Einspruchsverfahren gestellten Antrag abweicht. Dagegen genügt es im Falle der materiellen Beschwer, daß die Entscheidung der Einspruchsabteilung in ihrer Wirkung für einen Beteiligten am Einspruchsverfahren nachteilig ist, ohne daß dabei auf dessen im Einspruchsverfahren gestellten Antrag abgestellt wird.
6.3. Ganz allgemein ist davon auszugehen, daß der Einsprechende nur dann im Sinne von Artikel 107 EPÜ beschwert und mithin zur Beschwerde legitimiert ist, wenn die angefochtene Entscheidung der Einspruchsabteilung von dem im Einspruchsverfahren gestellten Antrag abweicht (formelle Beschwer; vgl. Abschnitt 6.2 oben). Im Gegensatz dazu kann der Patentinhaber beschwert sein, ohne daß er im Einspruchsverfahren einen Antrag gestellt hat, von dem die angefochtene Entscheidung abweicht (materielle Beschwer, vgl. Abschnitt 6.2 oben). Tatsächlich ist im Falle eines Widerrufs des europäischen Patents durch die Einspruchsabteilung realistischerweise von der Existenz eines "stillschweigenden" Antrags des Patentinhabers im Einspruchsverfahren auszugehen, das Patent in seiner erteilten Form aufrechtzuerhalten (sog. konkludentes Verhalten, das eine Willenserklärung in Form eines schriftlichen Antrags ersetzt).
6.4. Die rechtliche Situation des Beitretenden, der seinen Beitritt erst während der Beschwerdefrist erklären kann (weil die Verletzungsklage nicht früher erhoben worden ist), schließt eine formelle Beschwer aus, weil der Beitretende unter diesen Umständen nicht in der Lage ist, im Einspruchsverfahren vor Erlaß der Entscheidung einen Antrag zu stellen. Wird jedoch im Einspruchsverfahren das europäische Patent in einer Form aufrechterhalten, die den Verletzungsprozeß - oder genauer gesagt die Klagebegehren des Verletzungsklägers und Patentinhabers - nicht gegenstandslos macht, so wäre es andererseits abwegig zu behaupten, der Beitretende und Verletzungsbeklagte sei nicht im Sinne von Artikel 107 EPÜ beschwert. Da der Beitretende gleichzeitig Beklagter in dem vom Patentinhaber angestrengten Verletzungsprozeß ist, kann dessen rechtliche Situation durchaus mit derjenigen des Patentinhabers im Falle eines Widerrufs des europäischen Patents (vgl. Abschnitt 6.3 oben) verglichen werden.
Daraus folgt aber, daß materielle Beschwer (vgl. Abschnitt 6.2 oben) als Erfordernis der Beschwerdelegitimation auch in diesem Fall genügen sollte.
6.5. Geht man davon aus, daß dem Beitretenden die Beschwerde auch dann zusteht, wenn lediglich materielle Beschwer vorliegt, so stellt sich ferner die Frage, wie der in Artikel 107 EPÜ genannte Begriff "... an dem Verfahren beteiligt waren, das zu der Entscheidung geführt hat ..." auszulegen ist. Den Materialien zu diesem Artikel ist in dieser Hinsicht nichts zu entnehmen. Zieht man jedoch den Sinn und Zweck von Artikel 105 EPÜ (vgl. Abschnitt 5 oben) in Betracht, und berücksichtigt man ferner, daß das Einspruchsverfahren erst nach Ablauf der Beschwerdefrist endet, so läßt sich durchaus die Meinung vertreten, daß dem Beitretenden, der den Beitritt nicht vor Erlaß der Entscheidung der Einspruchsabteilung, sondern erst während der Beschwerdefrist erklären kann, die Beschwerde ebenfalls zustehen sollte. Auf der anderen Seite ist einzuräumen, daß der Wortlaut des Artikels 107 EPÜ ("... an dem Verfahren beteiligt war, das zu der Entscheidung geführt hat ...") die Beschwerdeberechtigung des Beitretenden, der am Einspruchsverfahren vor Erlaß der Entscheidung der Einspruchsabteilung nicht beteiligt war, eher auszuschließen scheint.
7. Aus diesen Ausführungen erhellt, daß der Rechtsfrage, ob dem Beitretenden, der seinen Beitritt zum Einspruchsverfahren erst während der Beschwerdefrist erklärt, die Beschwerde ebenfalls zusteht, grundsätzliche Bedeutung zukommt. Die Kammer hält daher eine Prüfung und autoritative Entscheidung dieser Rechtsfrage durch die Große Beschwerdekammer für notwendig.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Gestützt auf Artikel 112 (1) a) EPÜ wird der Großen Beschwerdekammer die folgende Rechtsfrage vorgelegt:
"Steht dem Beitretenden, der seinen Beitritt zum Einspruchsverfahren (Artikel 105 EPÜ) während der Beschwerdefrist nach Erlaß der Entscheidung der Einspruchsabteilung wirksam erklärt, die Beschwerde im Sinne des Artikels 107 EPÜ zu?"