3. Nächstliegender Stand der Technik
Nach der ständigen Rechtsprechung (s. z. B. T 2057/12, T 1148/15, T 96/20, T 2443/18) kommt es bei der Wahl des nächstliegenden Stands der Technik vor allem darauf an, dass seine Lösung auf den gleichen Zweck bzw. dieselbe Wirkung gerichtet ist wie die Erfindung; andernfalls kann er den Fachmann nicht in naheliegender Weise zu der beanspruchten Erfindung hinführen. In T 14/17 befand die Kammer wie folgt: Wenn dieser Zweck nicht ausdrücklich dargelegt ist oder den Ansprüchen nicht entnommen werden kann, ist die Frage zu beantworten, was im Lichte der Anmeldung oder des Patents insgesamt mit der beanspruchten Erfindung erzielt werden soll.
In T 606/89 wies die Beschwerdekammer darauf hin, dass der nächstliegende Stand der Technik, anhand dessen die erfinderische Tätigkeit objektiv festgestellt werden könne, im Allgemeinen derjenige sei, der sich auf einen ähnlichen Zweck beziehe, weil er die wenigsten strukturellen und funktionellen Änderungen erforderlich mache (s. auch T 574/88, T 686/91, T 834/91, T 482/92, T 59/96, T 650/01, T 1747/12).
In T 273/92 bestätigte die Beschwerdekammer diese ständige Rechtsprechung, wonach sich ein Dokument in Bezug auf eine Erfindung nicht aufgrund der bloßen Ähnlichkeit in der stofflichen Zusammensetzung der Produkte als nächster Stand der Technik qualifizieren könne; vielmehr müsse auch deren Eignung für den erfindungsgemäß angestrebten Zweck beschrieben sein (s. auch T 327/92). Laut T 506/95 ist nächstliegender Stand der Technik derjenige, der für den erfindungsgemäß angestrebten Zweck am geeignetsten ist und nicht nur äußerlich strukturelle Ähnlichkeiten aufweist. Im Idealfall sollte dieser Zweck schon im Dokument des Stands der Technik als anzustrebendes Ziel erwähnt sein (T 298/93, T 859/03, T 1666/16). Dahinter steht die Absicht, der Beurteilung eine Ausgangssituation zugrunde zu legen, die sich der vom Erfinder vorgefundenen Ausgangssituation annähert. Es gilt den realitätsbezogenen Umständen Rechnung zu tragen. Sollte sich die Wahl des nächstliegenden Stands der Technik nicht als eindeutig erweisen, wäre der Aufgabe-Lösungs-Ansatz mit den alternativ in Frage kommenden Ausgangspunkten zu wiederholen (T 710/97, T 903/04, T 2123/14).
In T 2255/10 erklärte die Kammer (mit Verweis auf T 482/92) Folgendes: Bei der Bestimmung des nächstliegenden Stands der Technik ist zu fragen, was sich durch die in den Ansprüchen definierte Erfindung im Lichte der Anmeldung als Ganzem erreichen lässt. Zweckangaben sind in Verbindung mit den Ansprüchen zu lesen. Die bloße Aufnahme einer solchen Zweckangabe in die Beschreibung berechtigt den Anmelder nicht, sich gegen jeden Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit zu verwehren, der sich auf ein nicht mit diesem Zweck zusammenhängendes Dokument stützt, wenn nicht glaubhaft ist, dass die Erfindung, so wie sie in den Ansprüchen definiert ist, den angegebenen Zweck tatsächlich erfüllt.
In T 53/08 berücksichtigte die Kammer bei der Beurteilung, welches der Dokumente (1) bzw. (10) als nächstliegender Stand der Technik anzusehen war, die Zielrichtung des Patents, welches darin bestand, den hochwirksamen herbiziden Wirkstoff der Formel (A1) so weiterzuentwickeln, dass er in herbizid wirksamer Konzentration Kulturpflanzen nicht nennenswert schädigte. Der natürliche Ausgangspunkt für die Erfindung war daher das Dokument, das den Wirkstoff der Formel (A1) offenbarte.
In T 2571/12 befand die Kammer, dass bei Ansprüchen auf medizinische Verwendungen der nächstliegende Stand der Technik in der Regel ein Dokument ist, in dem dieselbe therapeutische Indikation offenbart ist.
In T 1076/16 war die Kammer der Ansicht, dass eine Entgegenhaltung nicht allein deshalb von vornherein als möglicher geeigneter Ausgangspunkt ausgeschlossen werden kann, weil sie einen im Hinblick auf die Erfindung abweichenden Zweck aufweist oder im Vergleich zu einer anderen, "näherliegenden" Entgegenhaltung weniger technische Merkmale mit der Erfindung gemeinsam hat. Je nachdem, wie die Kriterien "ähnlicher Zweck" und "gemeinsame Merkmale" gegeneinander abgewogen werden, bieten sich der Kammer zufolge oft mehrere vernünftige Ausgangspunkte an, von denen unterschiedliche Lösungswege ohne eine rückschauende Betrachtung zur Erfindung führen können. Die Kammer stimmte der in mehreren Entscheidungen entwickelten Rechtsprechung zu (T 405/14, T 2057/12 und T 1742/12), wonach die erfinderische Tätigkeit schon dann zu verneinen ist, wenn sich die Erfindung für den Fachmann in Bezug auf nur einen dieser Lösungswege in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt.
In T 1148/15 erklärte die Kammer in Reaktion auf ein Missverständnis seitens des Beschwerdeführers bezüglich der Rechtsprechung Folgendes: Wenn der nächstliegende Stand der Technik auch den Zweck oder die Wirkung der Unterscheidungsmerkmale offenbaren müsste, würde das bedeuten, dass nur Stand der Technik, der eine Lehre in Richtung der Unterscheidungsmerkmale enthält, als nächstliegender Stand der Technik in Betracht kommen würde. Dies ist beim Aufgabe-Lösungs-Ansatz nicht verlangt, weil die Lehre in Richtung der Unterscheidungsmerkmale von einem anderen Stand der Technik oder vom allgemeinen Fachwissen des Fachmanns stammen kann. Mit anderen Worten müssen im nächstliegenden Stand der Technik nicht alle durch die beanspruchte Erfindung gelösten Aufgaben offenbart sein. Insbesondere muss dort nicht die objektive technische Aufgabe offenbart sein, die erst im nächsten Schritt des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes ermittelt wird.
- T 553/23
Zusammenfassung
Ex parte Fall T 553/23 betraf die Lokalisierung von Objekten in einem Laderaum eines Transportfahrzeugs mittels einer optischen Positionserkennung. Die Anmeldung wurde von der Prüfungsabteilung im Wesentlichen zurückgewiesen, weil keiner der Anträge die Erfordernisse der Ausführbarkeit erfüllte.
Bezüglich der Prüfung des Hauptantrags (nicht gewährbar), erinnerte die Kammer zunächst daran, dass Art. 83 EPÜ nicht erfüllt sei, wenn eine im Anspruch ausgedrückte Wirkung nicht reproduziert werden könne. Die Prüfungsabteilung habe die Ausführbarkeit der beanspruchten Lehre auf Grund der Problematik eines verdeckten Sichtfelds für die optische Positionsbestimmung zurecht in Frage gestellt. Denn um ein stetes Nachverfolgen der Position eines Objekts im Laderaum zu gewährleisten, musste dieses jederzeit optisch erkennbar sein. Dies trifft vor allem dann bei einer mehrlagigen Beladung nicht zu. Die Beschwerdeführerin argumentierte, dass Anspruch 1 auch den speziellen Fall umfasse, dass genau ein Objekt transportiert wird. Dabei könne die Problematik eines verdeckten Sichtfelds gar nicht auftreten und damit sei die Lehre auf jeden Fall ausführbar. Die Kammer stimmte dem zwar zu, jedoch muss die beanspruchte Lehre in ihrer ganzen Breite ausführbar sein, also auch für den eigentlichen Anwendungsfall der Erfindung, bei dem eine Mehrzahl von Objekten nebeneinander und in mehreren Lagen transportiert werden.
Was den Fall einer mehrlagigen Anordnung von Objekten betrifft, stimmte die Kammer der angefochtenen Entscheidung zu, dass nicht alle Objekte sicher optisch lokalisiert werden können. Dies gilt unabhängig von der räumlichen Anordnung einer Kamera (oder eines Laserscanners) im Laderaum. Damit wird der angestrebte Zweck mit den beanspruchten Mitteln nicht sicher erreicht. Daran können auch Versuche des Fachmanns nichts ändern. Das Argument der angeblich üblichen Messunsicherheit wurde zurückgewiesen. Auch eine Zeugeneinvernahme des Erfinders könne daran nichts ändern, da diese die Offenbarung nicht ersetze.
Im Hilfsantrag (gewährbar) ging es um nebeneinander angeordnete Objekte, nicht mehr um nur ein transportiertes Objekt oder um den problematischen mehrlagigen Fall. Es wurde spezifiziert, dass die Positionsbestimmungsvorrichtung an der Decke des Laderaums angebracht war. Keine eindeutige Aussage konnte darüber getroffen werden, ob ein großes Objekt das Sichtfeld auf ein kleines Objekt verdeckt. In Anspruch 1 fehlten nähere Informationen zur räumlichen Anordnung der Kamera, die eine Ausführbarkeit der Erfindung für alle möglichen unterschiedliche Größen von Objekten gewährleistete. Es könne (anders als beim mehrlagigen Fall mit übereinandergestapelten Objekten) nicht pauschal angenommen werden, dass die beanspruchte Lehre nicht ausführbar sei. Jedoch muss der Fachmann zumindest Versuche durchführen, wozu ihm die Anmeldungsunterlagen abgesehen von dem Ausführungsbeispiel nach Figur 1 keine Hilfestellung boten.
Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist nicht erforderlich, dass eine Reproduktion in jeder denkbaren theoretischen Konstellation gelingt. "In einem Anspruch wird allgemein versucht, eine Vorrichtung unter Idealbedingungen zu definieren. Kann sich der Fachmann unter Berücksichtigung der Offenbarung und des allgemeinen Fachwissens erschließen, was funktioniert und was nicht, ist eine beanspruchte Erfindung hinreichend offenbart, auch wenn eine breite Auslegung einen Gegenstand einschließen könnte, der nicht funktioniert. Im vorliegenden Fall ist der Fachmann in der Lage, Situationen direkt zu erkennen und auszuschließen, die offenkundig die angestrebte Wirkung nicht erzielen (etwa aufgrund einer verdeckten Sicht) und darauf durch eine angepasste Positionsbestimmungsvorrichtung zu reagieren. Die Kammer hat keine Zweifel daran, dass der Fachmann im Rahmen seines allgemeinen Fachwissens das funktionale Merkmal einer optischen Positionsbestimmungsvorrichtung den Größenverhältnissen der zu transportierenden Objekte anpassen würde", so die Kammer in ihrem Orientierungssatz (s. auch Punkt 3.5 der Gründe). Der zweite Absatz des Orientierungssatzes betrifft die Ermittlung des nächstliegenden Stands der Technik für die Bewertung der erfinderischen Tätigkeit.
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”