T 0514/88 (Infusionsgerät) 10-10-1989
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1. Unter dem Inhalt einer Patentanmeldung im Sinne der Artikel 76(1) und 123(2) EPÜ ist der gesamte Informationsgehalt der Offenbarung zu verstehen (vgl. Nr. 2.2 der Entscheidungsgründe).
2. Die Prüfungen, die bei einer vor der Erteilung durch Weglassen eines Merkmals erfolgten Anspruchserweiterung durchzuführen sind, nämlich die Prüfung auf Wesentlichkeit (oder Unwesentlichkeit) und die Neuheitsprüfung, widersprechen einander nicht, sondern beruhen auf dem gleichen Grundsatz. In beiden Fällen geht es um die Kernfrage, ob die Änderung mit der ursprünglichen Offenbarung vereinbar ist (vgl. T 260/85, T 331/87, T 201/83 und T 194/84) (vgl. Nr. 2.3 und 2.4 der Entscheidungsgründe). Das heißt, sie muß unmittelbar und eindeutig aus der gesamten ursprünglichen Offenbarung ableitbar sein und darf nicht im Widerspruch zu ihr stehen (vgl. Nr. 2.7 der Entscheidungsgründe).
Teilanmeldung (nicht zulässig - über den Inhalt der Stammanmeldung hinausgehend
Streichung wesentlicher Merkmale (nicht zulässig)
Zusammenhängende Teilaufgaben
Berichtigung nach Regel 88 (abgelehnt)
I. Die europäische Patentanmeldung Nr. 85 200 079.3, die als Teilanmeldung der Anmeldung Nr. 81 300 074.2 eingereicht wurde und die Priorität der US-Anmeldung Nr. 113 224 vom 18. Januar 1980 in Anspruch nimmt, wurde durch Entscheidung der Prüfungsabteilung vom 30. Juni 1988 zurückgewiesen. Der Entscheidung lagen die am 27. November 1987 eingereichten Ansprüche 1 bis 5 zugrunde.
II. Als Zurückweisungsgrund wurde angegeben, daß der Gegenstand der Teilanmeldung über den Inhalt der früheren (Stamm-)Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehe und damit gegen Artikel 76 (1) EPÜ verstoße.
III. Gegen diese Entscheidung legte die Beschwerdeführerin am 24. August 1988 Beschwerde ein. Die Beschwerdebegründung wurde zusammen mit einer geänderten Seite 11 des Anspruchs 1 am 26. September 1988 eingereicht.
IV. Anspruch 1 lautet wie folgt:
"Infusionsgerät (11), das an der Infusionsstelle eine Flüssigkeit unter Druck mit vorgegebener Durchflußgeschwindigkeit abgibt, bestehend aus einem röhrenförmigen Gehäuse (12), einem Stopfen (13) mit durchgehender Öffnung, der an einem Gehäuseende angebracht ist, einem im Gehäuse axial verschiebbaren Kolben (14), einer röhrenförmigen Elastomerblase (15) zur Aufnahme und Speicherung der unter Druck stehenden Flüssigkeit, wobei die Enden der Blase (56, 57) mit dem Stopfen bzw. dem Kolben dicht verbunden sind und der Hohlraum der Blase mit dem Stopfen kommuniziert, und einem in den Flüssigkeitsweg eingesetzten Durchflußregler (27), damit die Flüssigkeit mit einer vorgegebenen Durchflußgeschwindigkeit aus der Blase durch eine Röhre (17) zur Infusionsstelle fließen kann, gekennzeichnet durch mindestens einen axial angeordneten Stempel (44, 22, 73) im Hohlraum der Blase (15) mit einer axialen Öffnung (47, 25), die mit der Öffnung im Stopfen (13) in Verbindung steht; dieser Stempel erstreckt sich bei Entleerung der Blase zwischen dem Stopfen (13) und dem Kolben (14), wodurch die entleerte Blase eine Axialkraft ausübt, die den Kolben zum Stopfen hin treibt und dadurch den Stempel in axialen Kontakt bringt, so daß die Stempel die entleerte Blase im wesentlichen ausfüllen"
V. Der Anspruch unterscheidet sich von Anspruch 1 der Stammanmeldung in der eingereichten Fassung, der wie folgt lautet:
"Infusionsgerät zur Abgabe einer Flüssigkeit unter Druck mit vorgegebener Durchflußgeschwindigkeit, bestehend aus einem röhrenförmigen Gehäuse, einem Stopfen mit durchgehender Öffnung, der an einem Gehäuseende angebracht ist, einem im Gehäuse axial verschiebbaren Kolben, einer röhrenförmigen Elastomerblase zur Aufnahme und Speicherung der unter Druck stehenden Flüssigkeit, wobei die Enden der Blase mit dem Stopfen bzw. dem Kolben dicht verbunden sind und der Hohlraum der Blase mit der Öffnung im Stopfen kommuniziert, einer Röhre, die von der Stopfenöffnung zur Infusionsstelle verläuft, und einem in den Flüssigkeitsweg eingesetzten Durchflußregler, damit die Flüssigkeit mit vorgegebener Durchflußgeschwindigkeit aus der Blase zur Infusionsstelle fließen kann, dadurch gekennzeichnet, daß
(a) im Blasenhohlraum mindestens ein axialer Stempel angebracht ist, der den genannten Hohlraum bei entleerter Blase im wesentlichen ausfüllt, wobei der (die) genannte(n) Stempel eine axiale Öffnung besitzt (besitzen) und sich zwischen der Innenseite des Kolbens und der Innenseite des Stopfens erstreckt (erstrecken), wobei die zum Stopfen hin gerichtete Axialkraft, die bei entleerter Blase auf den Kolben einwirkt, über den (die) Stempel auf den Stopfen übertragen wird;
(b) der Kolben eine axiale Öffnung besitzt, die mit der axialen Öffnung des (der) genannten Stempel(s) kommuniziert, wobei die genannten Öffnungen zusammen einen Einfüllkanal bilden, der so ausgeführt ist, daß er eine Einfüllkanüle aufnehmen kann; und
(c) im Einfüllkanal ein Septum bzw. ein selbstdichtendes Einwegventil angebracht ist"
VI. In der Beschwerdebegründung und in der mündlichen Verhandlung, die am 10. Oktober 1989 auf Antrag der Beschwerdeführerin stattfand, brachte die Beschwerdeführerin die folgenden Argumente vor:
- Die Stammanmeldung habe zwei Aufgaben zu lösen: erstens die vollständige Entleerung der Flüssigkeit aus der axial dehnbaren, röhrenförmigen Blase und zweitens das Nachfüllen der Blase, ohne sie zu durchstechen, während das Infusionsgerät mit dem Patienten verbunden bleibe. Die erste Aufgabe werde durch das Merkmal a, die zweite durch die Merkmale b und c gelöst, die in Anspruch 1 der Stammanmeldung in der eingereichten Fassung angegeben seien.
- Bei Durchsicht der Stammanmeldung und vom englischen Sprachgebrauch her sei nicht eindeutig erkennbar, ob die in der Beschreibung und in Anspruch 1 der Stammanmeldung in der eingereichten Fassung erwähnten Merkmale a, b und c, die durch das Wort "und" miteinander verknüpft seien, als zusammengehörig zu betrachten seien oder jeweils eine gesonderte Erfindung darstellten.
- Bei korrekter Anwendung der Regel 88 EPÜ sollte es zulässig sein, daß das Wort "und", das die Merkmale a, b und c miteinander verknüpfe, in der Stammanmeldung durch "oder" ersetzt werde. Entsprechend der Entscheidung J 04/85 (vgl. "Berichtigung der Zeichnungen/Etat français", ABl. EPA 1986, 205) sei es zulässig, bei der Anwendung der Regel 88 EPÜ zur Beseitigung einer Unklarheit die Prioritätsunterlage heranzuziehen. In der Prioritätsunterlage US-113 224 werde in den Ansprüchen 1 und 2 und der entsprechenden Textpassage über die Merkmale b und c nichts ausgesagt, sondern nur das Merkmal a erörtert.
- Auch sollte die Streichung der Merkmale b und c im Hinblick auf den der Entscheidung T 151/84 (vom 28. August 1987, unveröffentlicht) zugrunde liegenden Fall zugelassen werden, bei dem ein unwesentliches Merkmal aus Anspruch 1 gestrichen worden sei.
- Unter Berufung auf eine am 20. September 1989 eingereichte eidesstattliche Erklärung des federführenden Patentanwalts machte die Beschwerdeführerin geltend, daß Anfang 1981, als die Stammanmeldung zum europäischen Patent eingereicht worden sei, Unklarheit über die tatsächliche Bedeutung der Regel 29 (1) b) EPÜ bestanden habe. Die Anmelderin, die damals keine Erfahrungen mit dem EPÜ gehabt habe, sei der Meinung gewesen, daß die Merkmale a, b und c - entsprechend der Patentpraxis in den Vereinigten Staaten - zunächst alle in den Anspruch 1 aufgenommen und dann später - je nach dem Ergebnis des Recherchenberichts - einzeln beansprucht werden könnten. Wegen dieser Unklarheit wäre es unter den vorliegenden Umständen auch gerechtfertigt, daß die Prioritätsunterlage zum Vergleich hergezogen werde.
In der mündlichen Verhandlung ging die Kammer auch auf die Entscheidungen T 401/88 (ABl. EPA 1990, 297) und T 331/87 (ABl. EPA 1991, 22) ein.
VII. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der Entscheidung über die Zurückweisung der Teilanmeldung und die Erteilung eines Patents auf der Grundlage des Anspruchs 1 in der unter Nummer IV angegebenen Fassung. Hilfsweise beantragte sie, daß die Anmeldung zur weiteren Prüfung an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen wird.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Erweiterung der Ansprüche
2.1 In dieser Beschwerde geht es um die Frage, ob die vorliegende Teilanmeldung Artikel 76 (1) EPÜ entspricht, d. h. ob die Anmeldung nur für einen Gegenstand eingereicht worden ist, der nicht über den Inhalt der früheren (Stamm-)Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Die Prüfung nach Artikel 76 (1) EPÜ entspricht somit derjenigen nach Artikel 123 (2) EPÜ.
2.2 Bei der Prüfung nach Artikel 76 (1) EPÜ ist der Gegenstand der Teilanmeldung mit dem Inhalt der Stammanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung zu vergleichen. Entscheidend ist dabei die Frage, was unter dem Inhalt der Anmeldung zu verstehen ist.
Nach der im EPA geltenden Praxis umfaßt der Inhalt einer Anmeldung die gesamte ausdrückliche oder implizite Offenbarung, die unmittelbar und eindeutig aus dieser Anmeldung hervorgeht, einschließlich etwaiger implizit enthaltener, für den Fachmann bei Durchsicht der Anmeldung sofort und eindeutig ersichtlicher Informationen. Somit ist unter dem Inhalt der Anmeldung der gesamte Informationsgehalt der Offenbarung zu verstehen. Dies schließt die ursprünglichen Aussagen über die Aufgabenstellung ein, die bestimmte Ziele und Wirkungen voraussetzt. Diese Aussagen können zwar begrifflich durch präzisere Formulierungen ersetzt werden, damit beispielsweise im Hinblick auf einen neu angeführten naheliegenden Stand der Technik die erfinderische Tätigkeit beurteilt werden kann (vgl. T 1/80, "Reaktionsdurchschreibepapier/BAYER", ABl. EPA 1981, 206); die so neu formulierte Aufgabe würde jedoch als Änderung nicht zugelassen werden, wenn dadurch der Informationsgehalt erweitert würde.
Daher bleiben die ursprünglichen Aussagen einschließlich der impliziten Funktionen der Erfindung für die Zwecke des Artikels 123 (2) EPÜ Teil der Offenbarung in der ursprünglich eingereichten Fassung.
Es muß andererseits erwähnt werden, daß in diesem Zusammenhang die Prioritätsunterlagen nicht zum Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung gehören (vgl. T 260/85, "Koaxialverbinder/AMP", ABl. EPA 1989, 105, Nr. 3).
2.3 In der obigen Entscheidung T 260/85 wurde außerdem hervorgehoben, daß es unzulässig sei, aus einem unabhängigen Anspruch ein Merkmal zu streichen, das in der ursprünglich eingereichten Anmeldung durchweg als wesentliches Merkmal der Erfindung hingestellt worden sei. In Ergänzung dieses Grundsatzes wurde andererseits in der Entscheidung T 331/87 ("Streichung eines Merkmals/HOUDAILLE", ABl. EPA 1991, 22) darauf hingewiesen, daß es gewisse Fälle gebe, in denen das zu streichende Merkmal unwesentlich sei. Dementsprechend wurde eine Prüfung auf Wesentlichkeit nach einem der folgenden drei Kriterien angeregt. Danach ist das Weglassen eines Merkmals aus einem Anspruch zumindest dann nach Artikel 123 (2) EPÜ nicht zulässig, 1. wenn das Merkmal in der ursprünglichen Offenbarung als wesentlich dargestellt wird, 2. wenn es für die Funktion der Erfindung im Hinblick auf die technische Aufgabe, zu deren Lösung es nach der ursprünglichen Offenbarung beiträgt, unentbehrlich ist oder 3. wenn das Weglassen des Merkmals zum Ausgleich eine Änderung anderer Merkmale erforderlich macht. Natürlich ist das erste Kriterium nicht nur dann erfüllt, wenn ausdrücklich auf die Wesentlichkeit hingewiesen wird; auch die vom Anmelder gewählte Darstellungsweise der Erfindung kann ein Hinweis darauf sein, daß er ein Merkmal für wesentlich hält.
2.4 Im Hinblick auf die Bedeutung des Informationsgehalts der ursprünglichen Offenbarung und die Beziehung, in der eine Änderung zu diesem Informationsgehalt steht, ist auch vorgeschlagen worden, daß eine Neuheitsprüfung durchgeführt wird, um die Zulässigkeit der Änderung festzustellen (vgl. T 201/83, "Bleilegierungen/SHELL", ABl. EPA 1984, 481, Nr. 3). Der Maßstab für die Neuheitsprüfung sollte daher ebenso für die Feststellung der Zulässigkeit von Änderungen gelten und ist somit auch für den vorliegenden Fall relevant. In der Entscheidung im Fall T 194/84 ("Cellulosefasern/GENERAL MOTORS" vom 22.9.88, ABl. EPA 1990, 59) wurde diese Auffassung bestätigt und hinzugefügt, daß im Falle der Erweiterung durch Verallgemeinerung oder Weglassen eines Merkmals die Prüfung auf den durch die Änderung entstandenen zusätzlichen Gegenstand anzuwenden ist. Diese Überlegung ist unabhängig vom Umfang der Ansprüche, da das Hinzufügen eines neuen, weder ausdrücklich noch implizit offenbarten Merkmals normalerweise als Erweiterung des Inhalts der Anmeldung angesehen wird, wobei es unerheblich ist, ob dieses Merkmal nun konjunktiv (einschränkend) oder disjunktiv (den Umfang eines Anspruchs erweiternd) hinzugefügt wird.
Nach Auffassung der Kammer widersprechen die bisher vorgeschlagenen Methoden zur Klärung der Frage, ob durch Weglassen eines Merkmals vor der Erteilung eine Erweiterung erfolgt ist, nämlich die Prüfung auf Wesentlichkeit (oder Unwesentlichkeit) zum einen und die Neuheitsprüfung zum anderen, einander nicht, sondern beruhen auf dem gleichen Grundsatz. In beiden Fällen geht es um die Kernfrage, ob die Änderung mit der ursprünglichen Offenbarung vereinbar ist oder nicht.
2.5 Wenn die Hinzufügung eines neuen Merkmals eine unzulässige Erweiterung darstellt, dann müßte das Weglassen von Merkmalen dem ersten Anschein nach zu einer Verminderung des Informationsgehalts führen. Es wäre jedoch durchaus möglich, daß dadurch - zumindest implizit - ein neuer Gegenstand hinzugefügt wird. Wenn beispielsweise für den Fachmann offensichtlich ist, daß die betreffende Offenbarung ausdrücklich oder stillschweigend eine Bedingung einschließt, die das betreffende Merkmal untrennbar mit den übrigen Merkmalen verknüpft, würde durch das Weglassen des Merkmals eine neue Bedingung - d. h. nach der Neuheitsprüfung neue Informationen - eingeführt, die die Gültigkeit der ursprünglichen Bedingung in Frage stellt. Die Änderung wäre unvereinbar mit der ursprünglichen Offenbarung, es sei denn, die Notwendigkeit für die Verknüpfung hätte real gar nicht existiert.
2.6 Außerdem leuchtet ein, daß das Weglassen wesentlicher Merkmale einen Widerspruch, d. h. eine Unvereinbarkeit, zur Folge hat. Beim Weglassen unwesentlicher Merkmale aus (konjunktiven) Merkmalskombinationen hingegen kann dies nicht der Fall sein, da hier die neu entstandenen Ausführungsarten durch die ursprüngliche Offenbarung "vorweggenommen" werden (vgl. T 194/84, ibid.). Der fachmännische Leser würde nämlich erkennen, daß die Teilkombination der Merkmale - wie nach den in der Entscheidung T 331/87 (s. o.) vorgeschlagenen Kriterien gefordert - den offenbarten Zwecken dient. Das gleiche gilt normalerweise auch für die Streichung einer Ausführungsart oder Variante aus einer (disjunktiven) Auswahlliste von Möglichkeiten, vorausgesetzt, daß die verbleibenden Möglichkeiten keine neue Auswahlerfindung darstellen, die einer neuen Lösung anderer technischer Aufgaben entspricht. In keinem der beiden Fälle wird der Kern der Erfindung berührt, da die Grundfunktion die gleiche bleibt. Diese Kriterien sind in der Regel ebenfalls erfüllt, wenn bestimmte Einheiten mit klar definierten, präzisen Aufgaben innerhalb des Funktionierens der gesamten Kombination erkannt und beansprucht werden, vorausgesetzt, daß sie eindeutig zum Offenbarungsgehalt gehören.
2.7 Die Kammer vertritt daher die Auffassung, daß bei einem während des Verfahrens erweiterten Anspruch nicht nur alle Merkmale oder Elemente durch die ursprüngliche Offenbarung formal gestützt sein müssen, sondern daß auch der Anspruch mit dieser Offenbarung insgesamt vereinbar sein muß. Dies bedeutet, daß er unmittelbar und eindeutig aus der ursprünglichen Gesamtoffenbarung ableitbar sein muß und nicht in Widerspruch zu ihr stehen darf. In der ursprünglichen Anmeldung (oder Stammanmeldung) muß eine Grundlage für den erweiterten Anspruch vorhanden sein (vgl. T 66/85, "Verbinder/AMP", ABl. EPA 1989, 167, Nr. 2). Diese Grundlage braucht nicht in einer ausdrücklichen Formulierung zu bestehen; sie muß aber so klar sein, daß sie für den Fachmann unmittelbar und eindeutig als solche erkennbar ist, und darf nicht unbestimmter, allgemeiner Art sein.
2.8 Im vorliegenden Fall unterscheidet sich Anspruch 1 der Teilanmeldung von Anspruch 1 der Stammanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung unter anderem darin, daß er die Merkmale b und c, welche die Kolben/Einfüllkanal-Einheit definieren, nicht enthält. Diese Merkmale lauten wie folgt:
"(b) der Kolben eine axiale Öffnung besitzt, die mit der axialen Öffnung des genannten Stempels (der Stempel) kommuniziert, wobei die genannten Öffnungen zusammen einen Einfüllkanal bilden, der so ausgeführt ist, daß er eine Einfüllkanüle aufnehmen kann; und
(c) im Einfüllkanal ein Septum bzw. ein selbstdichtendes Einwegventil angebracht ist".
Die Streichung dieser Merkmale bedeutet, daß der nunmehrige Anspruch 1 auch Infusionsgeräte umfaßt, die zum Beispiel über die Stopfeneinheit gefüllt werden können oder bei denen die Blase zum einmaligen Gebrauch des Geräts bei der Herstellung vorgefüllt werden kann (vgl. S. 2 der Beschwerdebegründung).
2.9 Um feststellen zu können, ob das Weglassen der Merkmale b und c zur inhaltlichen Erweiterung gegenüber der Stammanmeldung geführt hat, werden im folgenden zur Ermittlung des Inhalts der Stammanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung deren relevante Teile betrachtet.
Der einführende Teil der Beschreibung bezieht sich auf bekannte Infusionsgeräte mit einer auswechselbaren Patroneneinheit und einem Gehäuse, die - wie dort ausgeführt wird - vom Aufbau her so komplex sind, daß sie nicht ohne weiteres in automatisierter Fertigung hergestellt werden können und daher teuer sind. Nach dieser Einführung wird auf den Seiten 2 und 3 der Beschreibung - eingeleitet durch die Wendung "Entsprechend der Erfindung" - der Anspruch 1 wiedergegeben, wobei die Merkmale a, b und c durch das Wort "und" miteinander verknüpft sind, was auf eine konjunktive Verbindung dieser Merkmale schließen läßt.
Die "Grundelemente der bevorzugten Ausführungsart des Infusionsgeräts" sind in den Abbildungen 1 und 2 dargestellt und auf Seite 3, Zeile 22 bis Seite 4, Zeile 5 erwähnt; sie umfassen die Kolben/Einfüllkanal-Einheit 14. Der (die) axiale(n) Stempel 22, 44, die durch das Merkmal a definiert sind und den Hohlraum der entleerten Blase 15 im wesentlichen ausfüllen, sowie die Kolben/ Einfüllkanal-Einheit 14, die ein Septum 48 und einen Kolben mit einer axialen Öffnung 47 umfaßt, die mit der axialen Öffnung des Stempels (der Stempel) kommuniziert (Merkmale b und c), werden ausführlicher auf den Seiten 4 und 5 erläutert. Auf Seite 5, Zeile 23 bis 26, heißt es, daß "diese Merkmale zur völligen Entleerung der Flüssigkeit aus der Blase und zum leichten Füllen der Flüssigkeit in die Blase beitragen".
Auf Seite 5 unten wird das Füllen der Blase unter Verwendung einer Injektionsspritze 59 mit einer Kanüle 62 beschrieben. Es wird darauf hingewiesen, daß die auf die Kolben/Einfüllkanal- Einheit 14 einwirkende Kraft "zum Durchstechen des Septums 48 über die angrenzenden Stempel 22, 44 auf die feststehende Stopfen/Durchflußregler-Einheit 13 übertragen wird. Auf diese Weise wird die Kolben/Einfüllkanal-Einheit zu Beginn des Füllvorgangs abgestützt. Ferner wird die Kanüle 62 nach dem Durchstechen des Septums durch den Stempel 44 geführt und so die Blase vor dem Durchstechen geschützt." 2.10 Aus den unter Nummer 2.9 gemachten Aussagen wird ersichtlich, daß die in der eingereichten Fassung der Stammanmeldung offenbarten Merkmale die vollständige Entleerung der Flüssigkeit aus der Blase und deren problemloses Nachfüllen bewirken, ohne daß diese dabei durchstochen wird.
Daher wird der Fachmann bei Durchsicht der Stammanmeldung in der eingereichten Fassung unmittelbar und eindeutig erkennen, daß dieser die Aufgabe zugrunde lag, ein leicht zu fertigendes Infusionsgerät zu entwickeln, das sowohl vollständig entleert als auch danach leicht nachgefüllt werden kann. Diese beiden Teilaufgaben sollen in der Stammanmeldung mit einer einzigen Vorrichtung gelöst werden.
2.11 In Anbetracht dieser deutlichen Verknüpfung zwischen den in der Stammanmeldung zu lösenden Teilaufgaben ist die Kammer aus dem nachstehenden Grund der Auffassung, daß es entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin nicht zulässig ist, die beiden Teilaufgaben im vorliegenden Fall zu trennen und damit das Merkmal a einerseits und die Merkmale b und c andererseits als separate Erfindungen zu betrachten. Bei der Ermittlung des Inhalts der Stammanmeldung in der eingereichten Fassung ist nämlich auch die ursprünglich angegebene technische Aufgabe zu berücksichtigen (vgl. Nr. 2.2).
Wie ferner aus der Beschreibung und dem Anspruch 1 der Stammanmeldung klar hervorgeht, besteht ein funktioneller Zusammenhang zwischen den Merkmalen a und b. Wie unter Nummer 2.9 dargelegt, sind die Merkmale b und c, welche die Kolben/Einfüllkanal-Einheit definieren, nicht funktionell unabhängig von Merkmal a, das den (die) Stempel umfaßt. Die Kolben/Einfüllkanal-Einheit benötigt den (die) Stempel zu ihrer Abstützung zu Beginn des Füllvorgangs, und die axiale Öffnung im Kolben kommuniziert mit der axialen Öffnung in dem (den) Stempel(n).
2.12 Das Weglassen der Merkmale b und c entspräche nicht den Kriterien 1 und 2, die oben unter Nummer 2.3 dargelegt wurden. Wie unter Nummer 2.9 und 2.10 gezeigt, sind die Merkmale b und c
1. als wesentlich offenbart und 2. für die Funktion der Erfindung im Sinne der zu lösenden technischen Aufgabe unentbehrlich. Sollten die Merkmale b und c weggelassen werden, so müßte auch die Konstruktion des Geräts etwas modifiziert werden, um das System an das Einfüllen und Entleeren anzupassen (Kriterium 3), es sei denn, es handelt sich um den extremen Fall eines Einweg- Infusionsgeräts, das nur einmal vom Hersteller vorgefüllt wird. Dies wäre mit der Darstellung der Erfindung durch die Anmelderin nicht vereinbar.
2.13 Die allgemeine Aussage auf Seite 8, Zeile 13 bis 16 der Stammanmeldung in der eingereichten Fassung kann nicht als Grundlage für eine Erweiterung des Umfangs eines Anspruchs und zur Begründung der Streichung der Merkmale b und c dienen. Auf Seite 8, Zeile 13 bis 16 steht: "Änderungen der in den Zeichnungen dargestellten und oben beschriebenen Ausführungsarten, die für den Fachmann für Gerätebau und -technik offensichtlich sind, sollen im Umfang der folgenden Ansprüche enthalten sein." Eine derart unbestimmte Erklärung kann nicht als eine für die Zwecke des Artikels 83 EPÜ hinreichend klare Offenbarung von Abänderungen einer Anmeldung angesehen werden, zumal daraus nicht hervorgeht, wie die Ausführungsarten unter Umständen abgeändert werden müssen.
2.14 Der von der Beschwerdeführerin angeführte Fall T 151/84 (ibid.) ist zum vorliegenden Fall nicht analog, da die der Entscheidung zugrunde liegende Anmeldung genügend Informationen enthielt, aus denen hervorging, daß das aus der beanspruchten Vorrichtung zu streichende Merkmal (Dauermagneten) für ihre Funktion nicht unentbehrlich war, während dies bei der vorliegenden Anmeldung nicht der Fall ist.
3. Berichtigung nach Regel 88 EPÜ
3.1 Die Kammer kann sich der Ansicht der Beschwerdeführerin nicht anschließen, wonach aus dem englischen Sprachgebrauch klar hervorgehe, daß der Fachmann beim Lesen der Stammanmeldung in der eingereichten Fassung im Zweifel darüber bleibe, ob die Merkmale a, b und c als zusammengehörig oder jeweils als gesonderte Erfindung zu betrachten seien. Die Beschwerdeführerin hat behauptet, daß es im Englischen vertretbar sei, diese drei Merkmale als Alternativen anzusehen und das Wort "und", das die drei Merkmale a, b und c miteinander verbinde, als "oder" zu lesen.
Für diese Behauptung liefert jedoch die Stammanmeldung in der eingereichten Fassung keine Bestätigung. In Anbetracht der klaren, unmißverständlichen Offenbarung der Stammanmeldung (s. Nr. 2.9) sowie der Tatsache, daß die Merkmale a, b und c durch das Verbindungswort "und" verknüpft sind, das eine Konjunktion und nicht eine Disjunktion anzeigt, besteht kein Zweifel daran, daß alle diese Merkmale in Kombination miteinander offenbart wurden und für die Erfindung kennzeichnend sind.
Eine - von der Beschwerdeführerin hypothetisch erwogene - Änderung des die Merkmale a, b und c der Stammanmeldung verbindenden Wortes "und" in "oder" gemäß Regel 88 wäre zur Lösung des Problems nicht gerechtfertigt. Eine nach Regel 88 Satz 2 EPÜ beantragte Berichtigung kann nicht zugelassen werden, wenn die gewünschte Änderung nach Artikel 123 (2) EPÜ nicht zulässig ist (vgl. T 401/88, ABl. EPA 1990, 297, Nr. 2.2 der Entscheidungsgründe).
3.2 Die Beschwerdeführerin hat argumentiert, daß es im vorliegenden Fall zulässig wäre, die Prioritätsunterlage heranzuziehen, um eine Grundlage für die Streichung der Merkmale b und c zu finden. Obwohl in den Ansprüchen 1 und 2 und dem diesbezüglichen Text der Prioritätsunterlage US-113 224 die Merkmale b und c nicht erwähnt werden, kann die Kammer das Argument der Beschwerdeführerin aus dem folgenden Grunde nicht gelten lassen: Der Artikel 76 (1) EPÜ, um den es hier geht, bezieht sich auf "den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung". Wie in der Entscheidung T 260/85 festgestellt wird (ibid., vgl. Nr. 3 der Entscheidungsgründe), gehören Prioritätsunterlagen für die Zwecke des Artikels 123 (2) EPÜ nicht zum Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung. Somit ist der in der europäischen Patentanmeldung gegenüber der Prioritätsunterlage vorgenommene Verzicht auf einen bestimmten Gegenstand irreversibel und bindend. Dies gilt auch für Artikel 76 (1) EPÜ. Daher kann die Prioritätsunterlage nicht zur Stützung der Behauptung der Beschwerdeführerin herangezogen werden, daß die Streichung der Merkmale b und c im europäischen Verfahren nicht zu einem Gegenstand führe, der über den Inhalt der Stammanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehe.
3.3 Unter Bezugnahme auf die eidesstattliche Erklärung des Patentanwalts brachte die Beschwerdeführerin vor, daß bei Einreichung der europäischen Stammanmeldung Anfang 1981 Unklarheit über die tatsächliche Bedeutung der Regel 29 (1) b) EPÜ bestanden habe und daß es daher gerechtfertigt sei, die Prioritätsunterlage mit heranzuziehen. Diese Regel enthielt insofern keine Unklarheit, als die Formulierung eines Anspruchs auch damals im Lichte anderer ausdrücklicher Vorschriften des Übereinkommens zu betrachten war, welche die Änderungsfreiheit in späteren Verfahrensstufen einschränkten. Hätte eine solche Unklarheit tatsächlich bestanden, dann wären die Vertreter der Anmelderin bei der Formulierung der europäischen Patentanmeldung den sicheren Weg gegangen und hätten den Inhalt dieser Anmeldung gegenüber der prioritätsbegründenden Anmeldung nicht eingeschränkt, anstatt ihn ausdrücklich auf eine Kombination von Bedingungen zu beschränken. Die Anmelderin hat jedoch bei der Formulierung der europäischen Patentanmeldung, die jetzt die Stammanmeldung bildet, den Gegenstand der prioritätsbegründenden Anmeldung offenbar bewußt auf Ausführungsarten beschränkt, welche die Merkmale a, b und c in Kombination miteinander enthalten, d. h. auf die besondere Ausführungsart einer Kolben/Einfüllkanal- Einheit, und hat auf die frühere, allgemeinere Darstellung in der Prioritätsunterlage verzichtet. Dies zeigt sich daran, daß die Anmelderin die Erklärung auf Seite 8, Zeile 20 und 21 der Prioritätsunterlage gestrichen hat, die sich auf andere Mittel zum Füllen der Blase, z. B. auf einen radialen Einlaß zu einer Stempelöffnung, bezog.
4. Nach Prüfung des Vorbringens der Beschwerdeführerin ist die Kammer der Auffassung, daß der Gegenstand der Teilanmeldung über den Inhalt der Stammanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht und damit gegen Artikel 76 (1) EPÜ verstößt.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.