3.2. Arten der Zugänglichmachung
Nach T 877/90 ist eine mündliche Offenbarung als der Öffentlichkeit zugänglich anzusehen, wenn es Mitgliedern der Öffentlichkeit zum maßgeblichen Zeitpunkt möglich war, von ihrem Inhalt Kenntnis zu erhalten, und ihre Verwendung oder Verbreitung nicht aus Vertraulichkeitsgründen in irgendeiner Weise beschränkt war (s. auch T 838/97).
Wird eine schriftliche Offenbarung veröffentlicht, die auf einer mündlichen Offenbarung anlässlich einer einige Jahre zurückliegenden öffentlichen Konferenz basiert, kann man erfahrungsgemäß nicht ohne Weiteres davon ausgehen, dass die schriftliche Offenbarung mit der mündlichen genau übereinstimmt. Zusätzliche Umstände müssen behauptet und bewiesen werden, die diesen Schluss rechtfertigen (T 153/88). Im Fall T 86/95 ging die Kammer von einer Übereinstimmung aus, da das fragliche Merkmal ein wesentliches Merkmal war und es sehr unwahrscheinlich erschien, dass der Referent es auf der Konferenz verschwiegen hätte.
Die Kammer bestätigte in T 348/94, dass eine schriftliche Veröffentlichung, die angeblich auf einem Vortrag beruhte, der auf einer öffentlichen Tagung gehalten wurde, die einige Zeit zuvor (hier: 10 Monate) stattgefunden hatte, nicht unbedingt mit dem mündlich Vorgetragenen identisch sein müsse, sondern zusätzliche Informationen enthalten könne. Die Beweislast für den Umfang der mündlichen Offenbarung trage der Einsprechende.
Im Verfahren T 1212/97 brachte der Einsprechende vor, die Erfindung sei der Öffentlichkeit in einem Vortrag zugänglich gemacht worden, der einige Tage vor dem Prioritätstag vor rund hundert bis zweihundert Personen gehalten worden sei. Es galt zu klären, ob es einen sicheren und ausreichenden Beweis für den der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Informationsgehalt des Vortrags gab. Nach Ansicht der Kammer genügte die Aussage des Vortragenden allein nicht, um nachzuweisen, was der Öffentlichkeit im Rahmen des Vortrags zugänglich gemacht worden war. Selbst ein Tonband- oder Videomitschnitt eines Vortrags wäre mit Vorsicht zu behandeln, wenn mehrfaches Anhören oder Ansehen erforderlich wäre, um den gesamten Informationsgehalt zu erfassen, es sei denn, der Mitschnitt selbst wäre öffentlich zugänglich gemacht worden. Informationen, die in den während des Vortrags von mindestens zwei Zuhörern gemachten schriftlichen Notizen enthalten seien, gälten üblicherweise als ausreichend, während Informationen in den Notizen eines einzelnen Zuhörers unzureichend sein könnten, da sich darin die Gedanken des Zuhörers und nicht allein der Inhalt des Vortrags widerspiegeln könnten. Hätte der Vortragende seinen Vortrag von einer maschinen- oder handgeschriebenen Vorlage abgelesen oder ihn im Nachhinein niedergeschrieben und wäre der Vortrag anschließend in dieser Form im Rahmen der Veranstaltung veröffentlicht worden, dann hätte die schriftliche Fassung bis zu einem gewissen Grad als Beweis für den Inhalt des Vortrags herangezogen werden können, wenn auch mit Vorsicht, da nicht garantiert gewesen wäre, dass das Manuskript vollständig und verständlich abgelesen worden bzw. die Niederschrift nicht ausführlicher abgefasst gewesen wäre. Am nützlichsten wäre ein an das Publikum während des Vortrags verteiltes Handout mit einer Zusammenfassung der wichtigsten Punkte des Vortrags und Kopien der gezeigten Folien. Kein Beweismittel dieser Art lag im betreffenden Fall vor (s. auch T 1057/09; T 428/13, wo unter Anwendung dieses Prinzips befunden wurde, dass die eidesstattliche Versicherung des Referenten kein ausreichender Beweis dafür sei, was tatsächlich mündlich offenbart worden war).
In T 2003/08 vom 31. Oktober 2012 date: 2012-10-31 hielt die Kammer fest, dass anders als bei einem schriftlichen Dokument, dessen Inhalt fixiert ist und immer wieder gelesen werden kann, eine mündliche Präsentation flüchtiger Natur ist. Das Beweismaß, das erforderlich ist, um den Inhalt einer mündlichen Offenbarung festzustellen, ist deshalb hoch. Was gesagt worden ist bzw. was nach Art. 54 (2) EPÜ "der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist", muss zweifelsfrei festgestellt werden. Die Kammer verwies auf die Entscheidung T 1212/97, in der die Kammer die Ansicht vertreten hatte, dass "während des Vortrags von mindestens zwei Zuhörern gemachte schriftliche Notizen ... üblicherweise als ausreichend" für diesen Zweck gälten. Die Kammer hatte ferner darauf hingewiesen, dass die zur zweifelsfreien Feststellung des Inhalts einer mündlichen Präsentation erforderliche Beweismenge von Fall zu Fall zu beurteilen sei, da sie von der Qualität der Beweise im Einzelfall abhänge. Nach Auffassung der Kammer im vorliegenden Fall kann die Entscheidung T 1212/97 nicht so interpretiert werden, dass sie einen absoluten Standard für das Beweismaß festsetzt, das zum Nachweis des Inhalts einer mündlichen Offenbarung erforderlich ist. Es kann Umstände geben, unter denen Beweise des Referenten und nur eines Zuhörers überzeugend genug sind, damit das erforderliche Beweismaß – nämlich der zweifelsfreie Nachweis – erfüllt ist. Im vorliegenden Fall jedoch betrachtete die Kammer die Beweise des Referenten und eines Zuhörers in Form eidesstattlicher Erklärungen und mündlicher Aussagen nicht als zweifelsfreien Nachweis dafür, dass der Gegenstand des Anspruchs während des Vortrags offenbart worden ist. Die Entscheidungen T 1212/97 und T 2003/08 date: 2012-10-31 sind in der Entscheidung T 843/15 angeführt. In T 843/15 wurde aufgrund von Zweifeln beschlossen, dass ein in der Präsentation eines Referenten enthaltenes Schema nicht öffentlich zugänglich war, und der Fall von T 335/15 abgegrenzt.
In Bezug auf mündliche Konferenzbeiträge stellte die Kammer in T 667/01 fest, dass eine Erklärung des Referenten zum Inhalt der Präsentation in der Regel nicht als ausreichend gelten kann, weil der Referent bei der Präsentation möglicherweise von dem abgewichen ist, was er präsentieren wollte und woran er sich später erinnert, oder weil er möglicherweise relevante Punkte so präsentiert hat, dass die Zuhörer diese nicht zur Kenntnis nehmen konnten. Wenn ungewiss bleibt, in welchem Umfang die Zuhörer die präsentierten Punkte verstanden haben, ist nach dem üblichen Beweismaß in der Regel eine weitere, unabhängige Erklärung einer Person erforderlich, die die Präsentation verfolgt hat. Es sind erhebliche Zweifel angebracht, ob sich der Referent nach 12 Jahren noch genau an den Inhalt seiner Präsentation erinnern kann.