4. Besorgnis der Befangenheit von Mitgliedern der erstinstanzlichen Organe
In T 433/93 (ABl. 1997, 509) erklärte die Kammer im Leitsatz: Ist eine Entscheidung eines erstinstanzlichen Organs mit einem wesentlichen Verfahrensmangel behaftet, so ist sie auf Antrag eines Beteiligten aufzuheben. Hat ein Beteiligter triftige Gründe für die Befürchtung, dass die Einspruchsabteilung in derselben Besetzung von ihrer früheren Entscheidung beeinflußt und somit befangen wäre, so muß die Sache auf Antrag dieses Beteiligten vor einer anders besetzten Einspruchsabteilung erneut verhandelt werden. Wenn nämlich die Einspruchsabteilung in derselben Besetzung weiter über den Fall verhandeln und entscheiden würde, müssten ihre Mitglieder vorher das Ergebnis ihrer eigenen früheren Entscheidung aus ihrem Gedächtnis tilgen. Die Kammer entschied, dass es weder darauf ankomme, ob die Mitglieder der Einspruchsabteilung nach Aktenlage schon im bisherigen Verfahren nachweislich parteiisch gewesen seien (abweichend von T 261/88 vom 16. Februar 1993 date: 1993-02-16), noch darauf, ob die bisherigen Mitglieder der Einspruchsabteilung bei einer erneuten Verhandlung des Falls tatsächlich unvoreingenommen oder unparteilich wären. Entscheidend sei vielmehr, ob ein Beteiligter aus gutem Grund die Befürchtung haben könnte, dass ihm kein faires Verfahren zuteilwürde, wenn die Einspruchsabteilung erneut in derselben Besetzung über den Fall verhandeln würde (s. auch T 628/95 vom 13. Mai 1996, und T 611/01). Auch in T 2362/08 ordnete die Beschwerdekammer die Neubesetzung der Einspruchsabteilung nach der Zurückverweisung an. Nach den Verfahrensmängeln im ersten Verfahren hielt sie es für entscheidend, dass die Beteiligten keinen Anlass zu der Befürchtung hätten, ihnen könnte im weiteren Verfahren keine faire Verhandlung zuteilwerden, was durchaus der Fall sein könnte, wenn dieselbe Einspruchsabteilung das Patent erneut widerriefe, auch wenn dies nach einem einwandfrei geführten Verfahren geschähe.
In T 611/01 befand die Kammer, dass ein wesentlicher Verfahrensmangel vorliege, und verwies die Sache zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurück, wobei sie darauf hinwies, dass das neue Prüfungsverfahren von einer anders besetzten Prüfungsabteilung durchgeführt werden sollte, d. h. von einer aus drei neuen Mitgliedern bestehenden Abteilung. Eine solche Anweisung werde typischerweise getroffen, wenn es um eine mögliche Befangenheit gegenüber einem Beteiligten gehe. Dies sei hier aber nicht der Fall. Ein anders besetztes Organ könne auch angebracht sein, wenn ein Beteiligter aus guten Gründen meine, es gebe andernfalls keine faire erneute Verhandlung (s. T 433/93, ABl. 1997, 509; s. auch T 628/95 vom 13. Mai 1996). Selbst wenn der Beschwerdeführer keine neue Besetzung beantragt habe, sollte es nach Ansicht der Kammer keinerlei Grund zur Unzufriedenheit mit der Durchführung des weiteren Verfahrens geben. Dazu könnte es aber – selbst nach einem einwandfrei durchgeführten Verfahren – kommen, wenn dieselbe Prüfungsabteilung die Anmeldung erneut zurückweise.
In T 1647/15 merkte die Kammer an, dass unter normalen Umständen der mögliche Verdacht der Befangenheit eines Mitglieds der Einspruchsabteilung ein triftiger Grund für eine Zurückverweisung sein könne, dies aber im vorliegenden Fall nicht zutreffe, weil dieser Verdacht nicht den gesamten Entscheidungsfindungsprozess betraf, sondern auf einem unkontrollierten Ausbruch am Ende einer außergewöhnlich langen und intensiven mündlichen Verhandlung beruhte. Die angefochtene Entscheidung basierte auf Gründen, die vor besagtem Vorfall in der mündlichen Verhandlung ausführlich diskutiert worden seien. Die Kammer bezweifelte, dass eine Zurückverweisung an die erstinstanzliche Abteilung – auch in anderer Besetzung – im Interesse der Gerechtigkeit sei, weil die Zurückverweisung die abschließende Entscheidung übermäßig verzögern würde. Die Kammer entschied deshalb, die Sache nicht an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.
In T 2475/17 hob die Beschwerdekammer nach einem wesentlichen Verfahrensmangel (Verstoß gegen Art. 113 (2) EPÜ) die angefochtene Entscheidung auf und verwies die Angelegenheit nach Art. 111 (1) EPÜ und Art. 11 VOBK 2020 zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurück. Der Beschwerdeführer hatte beantragt, die Kammer solle anordnen, dass das Prüfungsverfahren von einer vollständig anders besetzten Prüfungsabteilung durchgeführt werde. Die Kammer stellte fest, dass der Beschwerdeführer nicht überzeugend dargelegt hatte, dass die Verfahrensfehler in der Zusammensetzung der Prüfungsabteilung begründet waren. Die bloße Behauptung des Beschwerdeführers, dass die festgestellten Verfahrensfehler eine Befangenheit zum Ausdruck brächten und deshalb zu befürchten sei, dass die Prüfungsabteilung bei der Fortsetzung des Verfahrens voreingenommen agieren würde, konnte nach Ansicht der Kammer eine Anordnung der Änderung der Zusammensetzung der Prüfungsabteilung nicht rechtfertigen.