9.3.2 Ungeprüfte Fragen der Patentierbarkeit
In T 1966/16 befand die Kammer, dass der einzige in der angefochtenen Entscheidung angegebene Grund für die Zurückweisung, nämlich mangelnde erfinderische Tätigkeit, nicht stichhaltig war. Sie stellte fest, dass hier insofern besondere Gründe vorlagen, als es die Prüfungsabteilung unterlassen hatte, eine beschwerdefähige Entscheidung zu wesentlichen offenen Fragen hinsichtlich Art. 83, 84 und 123 (2) EPÜ zu erlassen. Laut Art. 12 (2) VOBK 2020 besteht das vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens darin, die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen. Eine vollständige Sachprüfung der Anmeldung durch die Kammer würde diesem Grundsatz widersprechen. Art. 11 VOBK 2020 ist daher nicht so zu verstehen, dass die Kammer die Anmeldung umfassend auf die Erfüllung der Erfordernisse nach Art. 83, 84 und 123 (2) EPÜ prüft, für die noch keine erstinstanzliche Entscheidung vorliegt (s. auch T 2519/17).
In T 731/17 führte die Kammer aus, dass Art. 11 VOBK 2020 in Verbindung mit Art. 12 (2) VOBK 2020 zu lesen ist, wonach das vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens darin besteht, die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen. Sie stellte fest, dass die erfinderische Tätigkeit gegenüber D1 bis D4 noch nicht im Detail beurteilt worden war. Ferner müsse eventuell noch ermittelt werden, ob D2 überhaupt Stand der Technik nach Art. 54 (2) EPÜ ist. Ohne Zurückverweisung müsste die Kammer diese Aufgaben sowohl im erstinstanzlichen als auch im letztinstanzlichen Verfahren ausführen und würde de facto die Prüfungsabteilung ersetzen, anstatt die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen (s. auch T 658/17).
In T 986/16 stellte die Kammer fest, dass der Hauptzweck des Beschwerdeverfahrens darin besteht, der unterlegenen Partei eine Möglichkeit zu geben, die Entscheidung der Einspruchsabteilung sachlich anzufechten (s. G 10/91, ABl. 1993, 420), weshalb die Kammern eine Zurückverweisung gemäß Art. 111 (1) EPÜ in der Regel dann in Erwägung gezogen haben, wenn die Einspruchsabteilung eine Entscheidung allein aufgrund eines bestimmten Aspekts (z. B. der Neuheit) erlassen, aber andere wesentliche Aspekte, wie z. B. die erfinderische Tätigkeit außer Acht gelassen hat.
In T 1627/17 war die ausreichende Offenbarung der einzige Einspruchsgrund, auf dessen Grundlage eine Entscheidung ergangen war. Alle Beteiligten am Beschwerdeverfahren beantragten, die Sache an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen, um die weiteren Einspruchsgründe zu prüfen, die der Einsprechende in seiner Einspruchsschrift erhoben hatte (mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit). Die Kammer führte aus, dass zwar das EPÜ den Beteiligten kein absolutes Recht garantiere, alle Aspekte in der Sache von zwei Instanzen prüfen zu lassen, es aber unbestritten sei, dass jeder Beteiligte die Gelegenheit erhalten könne, die wichtigen Bestandteile eines Falls in zwei Instanzen prüfen zu lassen. Der wesentliche Zweck einer Beschwerde sei die Überprüfung, ob die Entscheidung der erstinstanzlichen Abteilung richtig war. Im vorliegenden Fall seien die oben genannten Fakten, einschließlich des gemeinsamen Antrags aller Beteiligten, besondere Gründe im Sinne von Art. 11 VOBK 2020. S. auch T 516/18.
In T 2450/17 stützte sich die angefochtene Entscheidung ausschließlich auf die Einspruchsgründe nach Art. 100 b) EPÜ und Art. 100 c) EPÜ. Da der Zweck des Beschwerdeverfahrens vorrangig darin besteht, die Entscheidung der ersten Instanz zu überprüfen, und die Einsprüche gegen das Patent nicht umfassend hinsichtlich der Einwände fehlender Neuheit und fehlender erfinderischer Tätigkeit geprüft wurden, lagen hier besondere Gründe vor, die es rechtfertigten, die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurückzuverweisen, wie von allen Parteien beantragt. Andernfalls müsste die jeweils unterliegende Seite eine erstmalige, aber zugleich abschließende Entscheidung ohne Rechtsmittelmöglichkeit zu essenziellen Patentierungsvoraussetzungen hinnehmen, nur weil zuvor bereits eine Entscheidung zu anderen Patentierungsvoraussetzungen ergangen war, die einer rechtlichen Prüfung indes nicht standgehalten hatte. S. die vergleichbar gelagerten Fällen T 731/17, T 1754/15 und T 1966/16.