2.3. Vorlage durch eine Beschwerdekammer
Das Erfordernis, dass die Vorlagefrage sich entweder auf eine uneinheitliche Rechtsanwendung durch die Kammern oder auf eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung beziehen muss, gilt sowohl für Vorlagen durch eine Kammer als auch für Vorlagen durch den Präsidenten (s. dieses Kapitel V.B.2.4.1).
G 1/12 (ABl. 2014, A114) betraf die Berichtigung von fehlerhaften Angaben zur Identität des Beschwerdeführers und in diesem Zusammenhang die Zulässigkeit einer Beschwerde. Die Große Beschwerdekammer stellte fest, dass die Vorlagefrage eine "Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung" betreffe, weil sie für eine große Zahl vergleichbarer Fälle relevant (s. auch T 271/85 date: 1988-03-09, ABl. 1988, 341, T 1242/04, ABl. 2007, 421 und T 1676/08: "eine beträchtliche Zahl vergleichbarer Fälle") und daher nicht nur für die an diesem konkreten Beschwerdeverfahren Beteiligten von großem Interesse sei (s. auch T 590/18 vom 4. Juli 2018 date: 2018-07-04). Die Klärung dieser Rechtsfrage sei nicht nur für die Nutzer des europäischen Patentsystems bedeutsam, sondern auch für die Beschwerdekammern und die erstinstanzlichen Abteilungen im Prüfungs- und Einspruchsverfahren. Eine Minderheit der Mitglieder der Großen Beschwerdekammer stimmte mit dieser Auffassung nicht überein und hielt die Vorlage für unzulässig. Die Mehrheitsmeinung unterstelle, dass "Bedeutung" im Sinne des Art. 112 EPÜ nicht mehr als bloße Relevanz sei. Die Zahl der betroffenen Fälle sei aber weder ein geeignetes noch ein angemessenes Kriterium für die Zulässigkeit einer Vorlage. In G 1/13 (ABl. 2015, A42) bestätigte die Große Beschwerdekammer die von der Mehrheit in G 1/12 vertretene Auffassung.
In T 26/88 (ABl. 1991, 30) entschied die Kammer, dass eine Rechtsfrage nicht hinreichend wichtig ist, wenn sich der ihr zugrunde liegende rechtliche Rahmen (hier: R. 58 (5) EPÜ 1973) zwischenzeitlich geändert hat und die Frage sich künftig nicht mehr sehr oft stellen dürfte. Ebenso urteilte die Kammer in T 2459/12, dass eine Rechtsfrage, deren Beantwortung nur eine relativ geringe Zahl von Anmeldern während eines begrenzten Zeitraums betreffen und die danach hinfällig würde (hier: aufgrund einer Änderung von R. 164 EPÜ), keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung sei.
Die fehlende Rechtsprechung zu einer bestimmten Frage ist für sich genommen noch kein ausreichender Grund, die Große Beschwerdekammer mit dieser Frage zu befassen (T 998/99). In G 1/19 befand die Große Beschwerdekammer, dass das Erfordernis der grundsätzlichen Bedeutung trotz der geringen Zahl von Kammerentscheidungen auf dem Gebiet der Streitanmeldung erfüllt war. Sie fügte hinzu, dass in einer unbekannten Zahl von Fällen die Probleme, die in der zugrunde liegenden Beschwerde eine Rolle spielten, durch Techniken der Anspruchsformulierung umgangen worden seien; die Vorlagefragen könnten auch für diese Fälle relevant sein.
In J 5/81 (ABl. 1982, 155) beantragte der Beschwerdeführer die Vorlage einer Frage, bei der es sich nach Ansicht der Kammer um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung handelte. Die Kammer wies den Antrag des Beschwerdeführers dennoch zurück, da die Antwort zweifelsfrei aus dem EPÜ abzuleiten sei (s. z. B. auch J 14/91, ABl. 1993, 479; T 1196/08; T 1676/08; T 2477/12). Nach Auffassung der Kammer in T 39/05 liegt bereits keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung vor, wenn sich die Antwort zweifelsfrei aus dem EPÜ ableiten lässt.
In J 10/15 war die Juristische Beschwerdekammer der Auffassung, dass die Rechtslage im vorliegenden Fall eindeutig aus dem EPÜ und dem PCT abzuleiten ist, sodass keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung vorliegt, die eine Vorlage an die Große Beschwerdekammer rechtfertigen könnte.