T 0069/83 (Thermoplastische Formmassen) 05-04-1984
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1. Wird mit dem Weglassen einer nach dem Stand der Technik vorteilhaften Komponente eines Stoffgemisches bloss der damit verbundene Nachteil in Kauf genommen, so liegt hierin keine Überwindung eines Vorurteils.
2. Zwang der Stand der Technik den Fachmann aufgrund eines wesentlichen Teils der bestehenden technischen Aufgabe zu einer bestimmten Lösung, so wird diese nicht zwangsläufig dadurch erfinderisch, dass damit gleichzeitig eine Teilaufgabe überraschend mitgelöst wird.
Erfinderische Tätigkeit
Vorurteil (verneint)
Stand der Technik - nächstliegender
Effekt - in den Schoss fallender
Sachverhalt und Anträge
I. Auf die europäische Patentanmeldung 78 101 145.7, die am 14. Oktober 1978 unter Inanspruchnahme der Priorität aus der deutschen Voranmeldung vom 26. Oktober 1977 angemeldet worden ist, ist am 15. Juli 1981 das europäische Patent 0 001 624 auf der Grundlage eines Patentanspruchs erteilt worden.
Dieser lautet:
"Thermoplastische Formmassen aus:
A) 25-95 Gew.-%
eines Pfropfpolymerisates von
70-30 Gew.-%
eines Gemisches von
95-50 Gew.-%
Styrol und
5-50 Gew.-%
Acrylnitril auf
30-70 Gew.-% EDM-Kautschuk,
und
B) 5-75 Gew.-%
eines Terpolymerisates aus Acrylnitril, Maleinsäureanhydrid und Styrol, dadurch gekennzeichnet, daß das Terpolymerisat
10-30 Gew.-%
Acrylnitril
7,5-15 Gew.-%
Maleinsäureanhydrid
82,5-55 Gew.-%
Styrol einpolymerisiert enthält,
wobei sich die Prozentangaben zu 100 ergänzen."
Nachfolgend gelten die Abkürzungen:
AN = Acrylnitril;
S=Styrol;
MA = Maleinsäureanhydrid;
SAN = Styrol/Acrylnitril-Harz;
SAN-MA = Styrol / Acryrylnitril / Maleinsäureanhydrid-Harz;
ABS = Pfropfpolymerisat von Styrol und
Acrylnitril auf Polybutadien;
AES = Pfropfpolymerisat von Styrol und
Acrylnitril auf EPDM-Kautschuk.
II. Gegen die Erteilung des europäischen Patents haben die Einsprechenden am 23. Januar bzw. 3. April 1982 Einspruch eingelegt und den Widerruf des Patents wegen mangelnder Neuheit und erfinderischer Tätigkeit beantragt. Die Begründung wurde auf neu genannten Stand der Technik gestützt, nämlich
(1) DE-A-1 949 487
(2) DE-A-1 965 283
(3) GB-A-1 375 508, der nach Ablauf der Einspruchsfrist ergänzt wurde durch
(4) "EPDM Elastomers in rubber modified plastics" in Rubber Chemistry and Technology, September 1971, Band 44, Nr. 4. Seiten 1130-1146.
III. Durch Entscheidung vom 4. November 1982 hat die Einspruchsabteilung den Einspruch zurückgewiesen und hierzu ausgeführt, daß der Gegenstand des Patents nicht nur neu sei, sondern auch eine erfinderische Auswahl aus dem Stand der Technik gemäß (1) darstelle. Ausgewählt seien einerseits als Pfropfgrundlage die EPDM-Kautschuke aus sämtlichen Kautschuken mit einer Glasübergangstemperatur von unter -30°C, andererseits bestimmte Terpolymerisate aus einer Gruppe, die derartige Terpolymerisate in wesentlich weiter gefaßten Mengenverhältnissen, MA-S-Copolymerisate, sowie Mischungen beider Gruppen mit SAN-Copolymerisaten umfaßten, wobei außerdem noch erfindungsgemäß der Anteil des Pfropfpolymeren fast doppelt so hoch sein könne wie nach dem Stand der Technik. Die Auswahl habe somit keineswegs lediglich darin gelegen, einfach die einzige unter den Anspruch von (1) fallende Kautschukklasse auszuwählen, die in dieser Druckschrift nicht erwähnt wird. Die getroffene Auswahlkombination führe ausweislich des Vergleichsversuchs zu dem Ergebnis, daß die erfindungsgemäßen Formmassen bei steigender Temperatur besser verarbeitbar werden, während bei analogen Produkten auf Polybutadienbasis die Verarbeitbarkeit schlechter werde (Beschreibung Seite 4, Zeile 36 ff.).
Allein schon die Auswahl des EPDM-Kautschuks als Pfropfgrundlage für die Komponente A bringe gegenüber dem Stand der Technik (mit Polybutadien als Pfropfgrundlage) eine Umkehr der Temperaturabhängigkeit im Spiral-flow-Test.
Dieses Ergebnis sei überraschend. Die Einsprechende II verneine zwar die Aussagekraft dieses Vergleichsversuches, weil Beispiel 25 aus (1) als nächstliegender Stand der Technik als Vergleich hätte herangezogen werden müssen. Es sei jedoch Sache der Einsprechenden gewesen, durch eigene Vergleichsversuche zu beweisen, daß ein solcher Vergleich aussagekräftiger gewesen sei. Ferner werde in (1) ausgesagt, daß zwar die dort beschriebenen Formmassen, wie diejenigen des vorliegenden Patents, aus dem Zweikomponentengemisch Pfropfpolymerisat-Terpolymerisat bestehen können, daß jedoch die Anwesenheit einer dritten Komponente, nämlich eines SAN-Copolymerisats, von besonderem Vorteil sei (vgl. Seite 3, Absatz 3, Zeilen 4-8). Unter diesen Umständen habe für den Fachmann sogar ein Vorurteil dagegen bestanden, die von der Patentinhaberin beanspruchte Kombination auszuwählen.
Die übrigen Entgegenhaltungen lägen von der Erfindung noch weiter ab. Gegen diese Entscheidung hat die Einsprechende II am 30. Dezember 1982 Beschwerde eingelegt unter gleichzeitiger Entrichtung der hierfür vorgesehenen Gebühr. Die Beschwerde wurde am 28. Februar 1983 im wesentlichen etwa wie folgt begründet: Aus (1) sei bekannt, daß ein Gemisch aus einem SAN-MA-Terpolymerisat mit einem SAN-Pfropfpolymerisat auf einen Kautschuk eine höhere Vicat-Temperatur habe als das Pfropfpolymerisat alleine. Ferner lehre (3), daß Pfropfcopolymere auf EPDM-Kautschuk verbesserte Beständigkeit gegen Oxidation und Bestrahlung durch Licht hätten. Es habe daher nahegelegen, ein Pfropfpolymeres auf EPDM-Basis mit einem Terpolymeren nach (1) zu kombinieren. Im übrigen könne der naheliegende Anmeldungsgegenstand nicht durch einen zusätzlichen Effekt schutzfähig werden. Es wurde daher Widerruf des Patents beantragt.
IV. Die Patentinhaberin tritt dem Vorbringen der Beschwerdeführerin entgegen und beantragt die Zurückweisung der Beschwerde.
V. Die Kammer hat sich in einer Mitteilung an die Beteiligten darum bemüht, die für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit bedeutsame technische Aufgabe zu ermitteln, die dem angegriffenen Patent zugrunde liegt. Hierzu wurde vordergründig auf (3) verwiesen und angedeutet, daß sich die dort beschriebenen Formmassen von denen nach dem angegriffenen Patent nur durch den Ersatz des SAN-Copolymerisats durch ein SAN-MA-Terpolymerisat unterschieden, was nach den Angaben in der Patentschrift zu offenbar (gleich) guter Fließfähigkeit, unvermindert guter Zähigkeit und einer um mindestens 12°C erhöhten Wärmestandfestigkeit führe. Demnach dürfte die Aufgabe in der Verbesserung dieser Eigenschaft bestanden haben.
Es frage sich dann allerdings, ob die vorgeschlagene Lösung dieser Aufgabe nicht nahegelegen habe im Hinblick auf (1), wonach die hohe Wärmeformbeständigkeit offenbar der SAN-MA-Komponente (vgl. Beispiel 25) zuzuschreiben ist (vgl. S. 5, Z. 1 bis 4). Was die allgemeinen Angaben in der Patentschrift bezgl. guter Wetterbeständigkeit, hoher Wärmeformbeständigkeit, hoher Zähigkeit und leichter Verarbeit barkeit angehe, so sei derzeit nicht erkennbar, daß diesbezüglich den patentierten Formmassen gegenüber (3) eine Verbesserung erzielt werde. Bezüglich des Vergleichsversuches wurde darauf hingewiesen, daß bisher die Bedeutung des erzielten Effekts für die Praxis nicht in der Weise erläutert wurde, daß hieraus etwas für die Definition der Aufgabe zu gewinnen wäre.
VI. In ihrer Antwort vertritt die Patentinhaberin die Auffassung, daß die Entscheidung darüber, ob (1) oder (3) nächstliegender Stand der Technik und damit für die Ermittlung der Aufgabe relevant sei, der Kammer überlassen bleiben müsse.
In grober Vereinfachung betreffe das angegriffene Patent ein Gemisch aus SAN-MA und AES, (3) ein Gemisch aus SAN und AES und (1) ein Gemisch aus SAN-MA und ABS. Tatsächlich müßten die Zusammenhänge differenzierter betrachtet werden: Beispielsweise müßten die Zusammensetzung der Produkte in die Betrachtung einbezogen und berücksichtigt werden, daß (1) unter 27 Beispielen nur eines hat, in dem SAN-MA vorkommt, und hier in Kombination mit einem Pfropfprodukt, das kein ABS ist, sondern ein Pfropfpolymerisat auf Acrylatkautschukbasis. Sehe man (1) als den nächstliegenden Stand der Technik an, dann sei der überraschende Effekt in der besseren Verarbeitbarkeit bei steigenden Temperaturen zu sehen. Angenommen, (3) sei der nächstliegende Stand der Technik, dann sei der Effekt eine beträchtliche Erhöhung der Wärmestandfestigkeit, ohne Verlust an anderen wesentlichen Eigenschaften. Seit Jahren habe man die Erfahrung gemacht, daß die Verbesserung einer Eigenschaft in polymeren Produkten der in Rede stehenden Art mit Einbußen an anderen Eigenschaften erkauft werden müsse. Zum Beispiel gehe die Verbesserung der Wärmeformbeständigkeit normalerweise mit einem Verlust an Verarbeitbarkeit oder eine Verbesserung der Zähigkeit mit einem Verlust an Oberflächenbeschaffenheit Hand in Hand.
Der Effekt sei also nicht allein in der Verbesserung der Wärmeformbeständigkeit, sondern darin zu sehen, daß diese Verbesserung nicht zu Verlusten an anderen Eigenschaften führe. Dies ergebe sich aus (1) zweifelsfrei nicht; dort werde auf Seite 2, Absatz 2 zwar gesagt, die dort beschriebenen Produkte hätten erhöhte Wärmeformbeständigkeit, aber die mechanischen Eigenschaften werden als brauchbar bezeichnet, nicht etwa als gut oder überragend.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 sowie Regel 64 EPÜ; sie ist daher zulässig.
2. Zunächst ist die Frage zu klaren, welche von den beiden Druckschriften (1) und (3) dem Gegenstand des angegriffenen Patents am nächsten steht. Letzterer betrifft thermoplastische Formmassen aus einem Gemisch von AES (Komponente A) und SAN-MA (Komponente B), wobei innerhalb der Komponenten und zwischen den Komponenten die im Anspruch näher bezeichneten Grenzen einzuhalten sind. Die Gemische zeichnen sich insbesondere durch ihre gute Wetterbeständigkeit. hohe Wärmeformbeständigkeit, hohe Zähigkeit und leichte Verarbeitbarkeit aus (vgl. S. 3, Z. 37/38). Die Vorinstanz hat diesen Gegenstand als Auswahl aus (1) und damit (1) als nächststehende Entgegenhaltung betrachtet. Diese betrifft in erster Annäherung Gemische aus ABS und SAN-MA. Diese unterscheiden sich von denen nach dem geltenden Patentanspruch durch den Austausch von ABS gegen AES, also in der Pfropfpolymerenbasis. Wählt man andererseits als Vergleichsbasis die Entgegenhaltung (3), die - grob gesehen - Gemische aus AES und SAN beschreibt, so liegt hier der Unterschied zu den Gemischen des angegriffenen Patents im Austausch von SAN gegen SAN-MA, also in der Copolymerenbasis. In dieser Situation muß die Wahl zwischen (1) und (3) als Bezugsbasis für den Patentgegenstand auf den ersten Blick willkürlich scheinen. Hier hilft auch keine eingehendere Betrachtung des Mischungsverhältnisses beider Komponenten weiter, weil die Formmassen nach (3) ebenso wie die nach dem geltenden Anspruch wahlweise jeden der beiden Bestandteile als Hauptkomponente enthalten können (vgl. (3) Ansprüche 1, 12 und 16 i.V.m. S. 3, Z. 57-72 und 106-108). Auch (1) läßt die Frage nach der Hauptkomponente zumindest im Grenzbereich (50:50) unbeantwortet. Auch ein Vergleich der Zusammensetzung der Einzelkomponenten führt nicht weiter (vgl. den vorliegenden Patentanspruch mit dem aus (1) sowie Entgegenhaltung (3) Ansprüche 1 und 12 und die Tabellen und 2).
In Fällen, in denen konstitutionelle Gesichtspunkte zusammen mit dem allgemeinen Anwendungsgebiet (thermoplastische Formmassen) für die Wahl des nächstliegenden Standes der Technik versagen, können zusätzlich die anvisierten speziellen Eigenschaften solcher Gemische von Bedeutung sein. Wie eingangs erwähnt, zielen die vorliegend beanspruchten Gemische auf gute Wetterbeständigkeit, hohe Zähigkeit und leichte Verarbeitbarkeit ab. Angesichts dieser Anforderungen müssen Gemische auf der Basis von ABS-Pfropfpolymeren wie die nach (1) wegen ihrer bekannten ungenügenden Witterungsbeständigkeit von vornherein ausscheiden, während Gemische auf AES-Pfropfpolymerenbasis - bei gleichzeitig hoher Zähigkeit - hierfür gut geeignet sind (vgl. (3) S., 1, Z. 37-44, Seite 2. Z. 1-9 und die vorliegende europäische Patentschrift S. 2, Z. 3-7); denn die unzureichende Wetterbeständigkeit ist dem ABS-System inhärent und kann nicht wie die Wärmeformbeständigkeit und Verarbeitbarkeit durch Abwandlung der Copolymerenkomponente (vgl. (1) S. 3. Abs. 3 u. S. 5, Abs. 1), sondern nur durch den Zusatz von Alterungsschutzmitteln und UV-Stabilisatoren beeinflußt werden, wodurch (1) in seiner Zusammensetzung gedanklich wieder weiter vom Gegenstand des Patents abrücken würde. Aus diesen Gründen steht (3) dem Gegenstand des angegriffenen Patents objektiv näher als (1). Diese Druckschrift (3) muß daher Ausgangspunkt für die Ermittlung der diesem Patent zugrundeliegenden technischen Aufgabe sein.
3. Wie bereits ausgeführt, werden in (3) AES-Pfropfpolymere (vgl. Anspruch 1 i.V.m. Anspruch 16, S. 3, Z. 57-72 i.V.m. S. 2, Z. 77-119) und deren thermoplastische Gemische mit SAN (vgl. Anspruch 16, S. 3, Z. 57-72 i.V.m. S. 2, Z. 116-119) beschrieben, die in hohem Maße wetterbeständig sind (vgl. S. 1, Z. 37-50) und gute mechanische und physikalische Eigenschaften, besonders hohe Kerbschlagzähigkeit, besitzen (vgl.S.2, Z. 1-6, S. 3, Z. 51-56 und die Beispiele 1-21).
Zur Ermittlung der technischen Aufgabe ist zu prüfen, was demgegenüber durch die Gemische nach dem angegriffenen Patent erreicht wird. In diesem Zusammenhang macht die Patentinhaberin eine Verbesserung der Wärmeformbeständigkeit bei sonst gleich guten Eigenschaften wie Zähigkeit und Fließfähigkeit geltend. Betrachtet man hierzu Tabelle 1 der vorliegenden europäischen Patentschrift, in der AES-SAN-MA (Beispiele 1-5) und AES-SAN (Beispiel 6) bezüglich Schlagzähigkeit (an), Kerbschlagzähigkeit (ak), Wärmeformbeständigkeit (Vicat) und Fließverhalten (MFI) untersucht werden, so stellt man zunächst für die Verbindungen nach den Beispielen 1-5 eine signifikante Verbesserung der Wärmeformbeständigkeit (11 - 16°C nach Vicat B) fest. Bezüglich der Kerbschlagzähigkeit kann von einer ähnlichen Verbesserung nicht gesprochen werden, weil die Werte je nach den dabei angewendeten Temperaturen mehr oder weniger stark nach oben und unten vom Wert für die Vergleichssubstanz (Beispiel 6) abweichen. Im Fließverhalten sind die patentierten Gemische (Beispiele 1-5) den AES-SAN-Gemischen unterlegen.
Gegenüber (3) bestand somit die technische Aufgabe, ebenfalls witterungsbeständige thermoplastische Formmassen auf der Basis AES-Pfropfpolymerer vorzuschlagen, die bei vergleichbarer Zähigkeit (Schlagzähigkeit) und in Kauf genommener geringerer Fließfähigkeit (=Verarbeitbarkeit) (vgl. Schreiben der Patentinhaberin vom 14.9.1983, S. 2, Abs. 2) verbesserte Wärmeformbeständigkeit aufweisen.
Zur Lösung dieser Aufgabe werden die im Patentanspruch näher definierten Gemische aus AES-Pfropfpolymerisaten und SAN-MA-Terpolymerisaten bereitgestellt.
4. Diese Lehre ist dem angezogenen Stand der Technik - unstreitig - nicht zu entnehmen, also neu. Es ist daher zu prüfen, ob sie auf erfinderischer Tätigkeit beruht. Wie bereits ausgeführt, unterscheidet sich der Gegenstand des angegriffenen Patents von den thermoplastischen Gemischen nach (3) im wesentlichen durch den Austausch des SAN-Copolymerisats durch das SAN-MA-Terpolymerisat, so daß sich die Frage stellt, ob hierfür von (1) eine Anregung ausgeht. Nach dem Vorschlag dieser Druckschrift wird der Nachteil der geringen Wärmeformbeständigkeit thermoplastischer Gemische aus SAN-Copolymeren einerseits und mittels S und AN pfropfpolymerisierten Kautschuks andererseits (vgl. S. 1, Abb 1) dadurch überwunden, daß man ein S-MA-Copolymerisat oder SAN-MA-Terpolymerisat zusetzt (Ausführungsform, in der im Gemisch die Komponenten A, B und C gemäß Patentanspruch vorhanden sind) oder das SAN-Copolymere durch ein Terpolymerisat der o.g. Art ersetzt (Mischung der Komponenten A und C gemäß Patentanspruch). In dem von Seite 4 nach Seite 5 übergreifenden Absatz wird die Verträglichkeit der 3 Komponenten bestätigt, die dazu führt, daß die hohe Wärmeformbeständigkeit der S-MA Komponente (A), die anspruchsgemäß auch SAN-MA sein kann, die guten Eigenschaften der SAN-Komponente (B) und die Zähigkeit der Pfropfolymerenkomponente (C) erhalten bleiben. Die guten Eigenschaften der wahlweise einsetzbaren Komponente (B) werden übrigens - neben besserer Lösungsmittelbeständigkeit - in der hier interessierenden Verbesserung der Verarbeitungseigenschaften gesehen (vgl. S. 3, Zeilen 18-22).
Daraus ist zu entnehmen, daß jede Komponente zu den wertvollen Eigenschaften der Mischung ihren speziellen Beitrag leistet, ohne daß sich die Komponenten gegenseitig ungünstig beeinflussen. Diese Aussage steht im Widerspruch zu der unbelegten Behauptung der Patentinhaberin, wonach man seit Jahren die Erfahrung gemacht habe, daß die Verbesserung einer Eigenschaft der hier interessierenden polymeren Produkte mit Einbußen bei anderen Eigenschaften erkauft werden müßte.
Der Fachmann, der sich ausgehend von thermoplastischen Gemischen nach (3) vorrangig die Verbesserung deren Wärmeformbeständigkeit zur Aufgabe gemacht hatte, durfte im Vertrauen auf die Aussage aus (1) von der Additivität der Eigenschaften ihrer Mischungskomponenten erwarten, daß das dort für die Wärmeformbeständigkeit verantwortliche SAN-MA-Terpolymerisat diese Wirkung auch bei ähnlichen Gemischen auf AES-Basis entfalten würde.
Dabei soll die strukturelle Besonderheit der AES-Pfropfpolymeren gegenüber den ABS-Pfropfpolymeren nicht verkannt werden (vgl. die vorliegende europäische Patentschrift S. 1, Abs. 1), die die verbesserte Wetterbeständigkeit des AES-Systems hervorruft. Jedoch verleiht jedes der beiden genannten Pfropfpolymerensysteme den thermoplastischen Massen nach (1) und (3) die erforderliche Zähigkeit, so daß die Systeme bezüglich dieser Eigenschaft als austauschbar angesehen werden konnten, ohne daß eine Beeinträchtigung dieser und auch anderer Eigenschaften beim Ersatz des SAN-Copolymerisats durch das SAN-MA-Terpolymerisat in den thermoplastischen Massen nach (3) zu befürchten war.
Der Fachmann, der angesichts der bestehenden Aufgabe, die Wärmeformbeständigkeit thermoplastischer Massen nach (3) ohne Einbuße an Zähigkeit zu verbessern, der Lehre nach (1) folgend den Ersatz von SAN durch SAN-MA vorgeschlagen hätte, war sich allerdings bewußt, daß dieser Austausch bei Fehlen der SAN-Komponente eine Abnahme der Fließfähigkeit zur Folge haben würde; denn ausweislich (1) verbessert die Anwesenheit dieser Komponente die Verarbeitbarkeit des ABS-Pfropfpolymerisat/SAN-MA-Gemisches (vgl. Seite 3, Zeilen 18-22). Diese Einbuße an Fließfähigkeit solcher thermoplastischer Massen wird auch tatsächlich beobachtet (vgl. die vorliegende europäische Patentschrift Tabelle 1, Spalte MFI, Beispiel 6 gegenüber Beispielen 1-5) und hingenommen, so daß die Patentinhaberin durch die Bereitstellung der Massen nach dem angegriffenen Patent nur das gelehrt hat, was aufgrund des Standes der Technik zu erwarten war. Das Weglassen einer nach dem Stande der Technik als vorteilhaft angesehenen Komponente (Komponente B aus (1)) spricht also hier für das bewußte Inkaufnehmen eines Nachteils, nicht aber für die Überwindung eines Vorurteils, wie die Vorinstanz meint. Wenn die Patentinhaberin geltend macht, die Zusammenhänge müßten differenzierter gesehen werden, zumal in den nach (1) beispielhaft beschriebenen 27 Formmassen nur in einer einzigen SAN-MA vorkomme (Beispiel 25), überdies in Kombination mit einem Pfropfpolymerisat auf Acrylatkautschukbasis (vgl. Beispiel 25 i.V.m. S. 5 letzte Zeile und Seite 6 Abs. 3), so stellt sie dabei unzulässigerweise auf die Beispiele, dieser Druckschrift ab. Abgesehen davon, daß von diesen Beispielen nur 14 die dort beanspruchten Gemische repräsentieren (Beispiele 14-27), sind nach der Rechtsprechung der Kammer für die Prüfung auf erfinderische Tätigkeit alle vorveröffentlichten Ausführungsformen heranzuziehen, die dem Fachmann Anregung zur Lösung der gestellten Aufgabe geben konnten, unabhängig davon, ob sie besonders hervorgehoben wurden (T 24/81 "Metallveredelung" Amtsblatt EPA 1983, 133, bes. Leitsatz II). Wie ausgeführt, trifft diese Voraussetzung sowohl für das SAN-MA Terpolymerisat als einzige Alternative des S-MA Copolymerisats (vgl. Patentanspruch und S. 2, Zeile 4/5 von unten) als auch für den Pfropfkautschuk ABS zu (vgl. Seite 6, Abs. 4).
5. Nun hat noch im Verfahren vor der Vorinstanz der in der vorliegenden europäischen Patentschrift enthaltene Vergleichsversuch eine Rolle gespielt, weil dessen Ergebnis (spiral flow-test) als überraschend und die erfinderische Auswahl aus (1) begründend angesehen wurde. Das Ergebnis zeigt, daß die Art des Pfropfpolymerisats im Gemisch mit dem Terpolymerisat SAN-MA die Verarbeitbarkeit des Gemisches über 220°C mit steigender Temperatur unterschiedlich beeinflußt, und zwar bei Verwendung von AES positiv, bei Einsatz von ABS dagegen negativ. Dies hat nach Auskunft durch die Patentinhaberin zur Folge, daß die thermoplastischen Massen nach dem angegriffenen Patent die Spritzform vollständiger und schneller füllen, so daß sie schneller gespritzt werden können als die nach (1). Um für die Bewertung der erfinderischen Tätigkeit relevant zu sein, muß ein Vergleichsversuch auf dem nächstliegenden Stand der Technik basieren. Wie unter Abschnitt 2 ausgeführt, werden die thermoplastischen Massen nach (1) diesem Erfordernis nicht gerecht, weil der Fachmann solche Massen auf ABS-Basis wegen deren ungenügender Wetterbeständigkeit nicht als Ausgangspunkt für die anvisierte Verbesserung ins Auge gefaßt hätte.
Aber selbst wenn man den Vergleichsversuch nicht berücksichtigt, bleibt die Tatsache bestehen, daß sich die Verarbeitbarkeit der Massen nach dem angegriffenen Patent bei Temperaturen über 220°C mit zunehmender Temperatur verbessert. Der Frage, ob dieser Effekt - wie die Patentinhaberin in der Patentschrift angibt - nur bei der von ihr beanspruchten Kombination beobachtet wird, braucht hier nicht nachgegangen zu werden, weil dieses Ergebnis, selbst wenn es überraschend wäre, dem planmäßig und damit nicht erfinderisch handelnden Fachmann durch den aus anderen Gründen naheliegenden Vorschlag eben dieser Massen in den Schoß fallen mußte und daher die erfinderische Tätigkeit nicht tragen kann.
6. Es ist einzuräumen, daß die im Patentanspruch des angegriffenen Patents angegebenen Bereiche der jeweils 3 Komponenten für das AES-Pfropfpolymerisat als auch das SAN-MA Terpolymerisat enger gefaßt sind als in (3) (vgl. Ansprüche 1 und 12, S. 3, Z. 7-10 und die Beispiele 1-21) bzw. (1) (vgl. den Anspruch u. S. 2. Z. 4/5 von unten). Dasselbe gilt für den Anteil des Pfropfpolymerisats in der hier beanspruchten thermoplastischen Formmasse gegenüber der nach (3) (vgl. S. 3, Z. 105-109 und die Beispiele 20 und 21). Hierbei handelt es sich größtenteils um geringfügige, keinesfalls um drastische Einschränkungen gegenüber dem Bekannten. Daß gerade hierin die Erfindung liegen soll, ist weder erkennbar, noch geltend gemacht worden. Solche Abwandlungen haben keine Erfindungsqualität, weil sie im Routinebereich fachmännischen Handelns liegen.
7. Zu keinem für die Patentinhaberin günstigeren Ergebnis gelangt man, wenn man nicht (3), sondern (1) als nächstliegenden Stand der Technik betrachten würde und demgegenüber die dem vorliegenden Patent zugrunde liegende technische Aufgabe in der Verbesserung der Wetterbeständigkeit ohne Einbuße an Wärmeformbeständigkeit und Zähigkeit ansieht; denn hier zwang bereits die anvisierte Erhöhung der Witterungsbeständigkeit den Fachmann zum Wechseln in der Pfropfpolymerenbasis vom ABS- zum AES-System, gemäß der Lehre nach (3). Da beide Pfropfpolymerisate den thermoplastischen Massen ein hohes Zähigkeitsniveau verleihen, brauchte bei diesem Austausch auch mit keiner Einbuße hinsichtlich dieser Eigenschaft gerechnet zu werden. Gleichzeitig ließ die Anwesenheit des SAN-MA Terpolymeren unvermindert gute Wärmeformbeständigkeit dieser Massen erwarten.
Was nun das Fließverhalten solcher Massen anlangt, so war bei Verzicht auf eine die Verarbeitbarkeit günstig beeinflussende SAN-Komponente nach (1) mit einer entsprechenden Einbuße zu rechnen; dies wird durch die Praxis bestätigt (vgl. Tabelle 1, Spalte MFI bei 220°C des vorliegenden Patents). Der "spiral flow test" nach dem Vergleichsversuch (Seite 4 der vorliegenden Patentschritt) zeigt bei 220°C sehr ähnliche Werte für ABS/SAN-MA Gemische (Fließlänge 30 cm) und AES/SAN-MA Gemische (Fließlänge 32 cm). Erst bei höheren Temperaturen nimmt die Fließlänge der Formmassen nach dem angegriffenen Patent deutlich zu, während die der Masse nach (1) langsam abnimmt. Selbst wenn man diesen Effekt in die Aufgabendefinition einbezieht (bei höheren Temperaturen besser und schneller verarbeitbare Formmassen) und einräumt, daß bezüglich der Lösung dieser Teilaufgabe der Stand der Technik keine Antwort bereithielt, so zwangen doch fehlende Erkenntnisse den Fachmann zum Experiment. Hierfür bot sich der Versuch mit dem AES/SAN-MA Gemisch als nächstliegende Möglichkeit an, weil solche thermoplastischen Formmassen die Lösung der anderen o.g. Teilaufgaben versprachen. Demnach mußte die Lösung gerade dieser Teilaufgabe dem Fachmann beim planmäßigen Handeln in den Schoß fallen. Zusammenfassend ergibt sich, daß von (1) die Anregung ausging, die gegenüber (3) bestehende Aufgabe auf die nach dem angegriffenen Patent vorgeschlagene Weise zu lösen, so daß diese als naheliegend und daher nicht erfinderisch zu bewerten ist.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird wie folgt entschieden:
1. Die Entscheidung der Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts vom 4. November 1982 wird aufgehoben.
2. Das europäische Patent Nr.0 001 624 wird widerrufen.