11.6. Wesentlicher Verfahrensmangel
In T 12/03 befand die Kammer, dass ein wesentlicher Verfahrensmangel ein objektiver Mangel im Verfahren in dem Sinne ist, dass die Verfahrensvorschriften nicht entsprechend dem Übereinkommen angewandt wurden. Nach J 6/79 (ABl. 1980, 225) liegt ein "wesentlicher Verfahrensmangel" auch dann vor, wenn das EPA eine falsche Information über die Anwendung von Verfahrensregeln gibt, die bei ihrer Befolgung dieselben Folgen nach sich zieht wie die falsche Anwendung dieser Regeln. In T 690/06 stellte die Kammer fest, dass eine fehlerhafte Beurteilung von Sachfragen durch die Prüfungsabteilung keinen Mangel "im Verfahren" darstellt (s. auch T 698/11, T 658/12). S. auch dieses Kapitel V.A.11.6.10.
In T 990/91 entschied die Kammer, dass die fehlende Gelegenheit zur Stellungnahme zu einem neuen – zusätzlich und am Rand angeführten – Argument der Prüfungsabteilung in ihrer Entscheidung über die Zurückweisung der Anmeldung nicht als Verfahrensmangel angesehen werden konnte (s. auch T 1085/06).
In T 683/14 befand die Kammer, dass die Prüfungsabteilung eher einen materiellrechtlichen als einen verfahrensrechtlichen Fehler gemacht hatte. Die verfahrensrechtlichen Konsequenzen entstanden ausschließlich aus der Umsetzung ihrer irrigen materiellrechtlichen Annahme und stellten keinen unabhängigen Verfahrensmangel für die Zwecke der R. 103 (1) a) EPÜ dar. Die Prüfungsabteilung hatte es fälschlicherweise abgelehnt, eine Vertraulichkeitsvereinbarung zu berücksichtigen, weil sie der Auffassung war, dass die sachliche Debatte beendet und in der mündlichen Verhandlung eine Entscheidung ergangen war. Die Kammer erklärte, die mündliche Verhandlung sei nicht mit einer formalen Entscheidung abgeschlossen worden und die Debatte hätte, selbst wenn sie formal beendet worden wäre, wieder eröffnet werden können. Unter Verweis auf T 595/90 stellte die Kammer fest, dass bei einer Wiedereröffnung der sachlichen Debatte dieselben Überlegungen, die für die Beschwerdekammer gelten, analog auch für die erste Instanz gälten, nämlich "dass [nach Abschluss der sachlichen Debatte] eingehende Schriftsätze […] nur berücksichtigt werden [könnten], wenn die Kammer die Debatte wieder eröffnen würde (Art. 113 EPÜ), was in ihrem Ermessen liegt."
In T 68/16 wies die Kammer darauf hin, dass die Einspruchsabteilung nicht den Aufgabe-Lösungs-Ansatz angewendet hatte. Die Kammer gab an, dass diese Tatsache an sich noch keinen wesentlichen Verfahrensmangel darstelle. Der Aufgabe-Lösungs-Ansatz sei nicht im EPÜ verankert und seine Anwendung nicht zwingend vorgeschrieben. Die Kammer pflichtete der Auffassung bei, dass eine Abteilung, die den Aufgabe-Lösungs-Ansatz nicht anwendet, dies grundsätzlich begründen sollte, und sei es nur, um den Eindruck zu zerstreuen, sie handele willkürlich. Die Richtlinien für die Prüfung dagegen weisen lediglich darauf hin, dass nur in Ausnahmefällen davon abgewichen werden sollte (s. Richtlinien G‑VII, 5 – Stand November 2017; diese Passage wurde in der Ausgabe vom November 2018 gestrichen) und nicht, dass eine Begründung erforderlich ist.