G 0002/93 (Hepatitis-A-virus) 21-12-1994
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Ausreichende Offenbarung
Angaben über die Hinterlegung einer Kultur
Sachverhalt und Anträge
I. In der Sache J 8/87 (ABl. EPA 1989, 9) hat die Juristische Beschwerdekammer die Auffassung vertreten, daß einem Anmelder, der die Angaben über die Hinterlegung einer Kultur nicht innerhalb der in Regel 28 (2) a) EPÜ vorgesehenen Frist von 16 Monaten einreiche, Gelegenheit gegeben werden müsse, diesen Mangel innerhalb einer weiteren Frist zu beseitigen. Zur Begründung gab die Kammer an, es bestünden Parallelen zu dem Fall, in dem die Prioritätsunterlagen nicht innerhalb der in Regel 38 (3) EPÜ (in der bis 31. Mai 1991 gültigen Fassung) vorgeschriebenen Frist von 16 Monaten eingereicht worden seien, weil hier wie dort der Mangel erst bei Ablauf der Frist vorgelegen habe. Obwohl die Frist nach Regel 28 (2) a) EPÜ in Artikel 91 EPÜ nicht erwähnt sei, sollte deshalb in beiden Fällen ähnlich entschieden werden. Außerdem müsse die Eingangsstelle entsprechend den Richtlinien für die Prüfung im EPA, A-IV, 4.2 dem Anmelder eine entsprechende Mitteilung machen, wenn die in Regel 28 (1) EPÜ verlangten Angaben Mängel aufwiesen oder nicht fristgerecht beigebracht würden.
II. In der Sache T 815/90 vertrat die zuständige Technische Beschwerdekammer 3.3.2 die Auffassung, daß eine Entscheidung darüber herbeigeführt werden müsse, ob ein Offenbarungsmangel heilbar sei, der darauf zurückzuführen sei, daß die Angabe des Aktenzeichens der hinterlegten nichtklonierten Hepatitis-A-Viren des Stamms HM-175 aus der Passagestufe 20, d. h. das ATCC- Aktenzeichen VR2093, erst fast sieben Jahre nach dem Prioritätstag der vorliegenden europäischen Patentanmeldung eingereicht worden sei.
Da die Technische Beschwerdekammer 3.3.2 nicht geneigt war, sich der rechtlichen Konstruktion der Entscheidung J 8/87 der Juristischen Beschwerdekammer (vgl. Nr. I) anzuschließen, beschloß sie in ihrer Zwischenentscheidung T 815/90 (ABl. EPA 1994, 389), der Großen Beschwerdekammer folgende Rechtsfrage vorzulegen:
"Kann die in Regel 28 (1) c) EPÜ vorgeschriebene Angabe des Aktenzeichens einer hinterlegten Kultur noch nach Ablauf der Frist gemäß Regel 28 (2) a) EPÜ vorgenommen werden?"
III. Die Technische Beschwerdekammer 3.3.2 nahm in dieser Entscheidung wie folgt Stellung:
- Regel 28 schreibe gemäß ihrer Stellung im Kontext des EPÜ bestimmte Bedingungen vor, die im Falle lebenden Materials zur Gewährleistung einer ausreichenden Offenbarung erfüllt sein müßten, und sei daher dem Prinzip des Europäischen Patentübereinkommens nachgeordnet, wonach eine Erfindung so beschrieben werden müsse, daß sie von einem Fachmann ausgeführt werden könne.
- Ein Offenbarungsmangel der ursprünglich eingereichten Anmeldung könne nicht mehr behoben werden; die einzige Ausnahme hiervon bilde die in Regel 28 (2) a) EPÜ vorgesehene Frist von 16 Monaten.
- Die Kammer teile deshalb die in der Entscheidung einer Prüfungsabteilung vom 14. November 1989 (ABl. EPA 1990, 156) vertretene Rechtsauffassung über den Zweck der Regel 28 EPÜ, wonach die Tatsache, daß das Aktenzeichen der Hinterlegung nicht innerhalb der in Regel 28 (2) a) EPÜ vorgeschriebenen Frist eingereicht worden sei, einen Offenbarungsmangel darstelle, der nicht heilbar sei. Jeder Versuch, dieser Frist ihren bindenden Charakter zu nehmen, würde dazu führen, daß eine unzureichende Offenbarung heilbar würde und daß die Absicht des Gesetzgebers und der Zweck der Regel 28, die kein reines Formerfordernis, sondern eine in Verbindung mit Artikel 83 EPÜ auszulegende Bestimmung sei, mißachtet würden.
- Den Materialien zu dieser Regel sei zu entnehmen, daß die in Regel 28 (2) a) EPÜ enthaltene Frist von 16 Monaten eingeführt worden sei, um sicherzustellen, daß die Angaben über die Hinterlegung stets vor der Unterrichtung der Öffentlichkeit eingereicht würden. Wenn der Fachmann zur Ausführung einer Erfindung gemäß Artikel 83 EPÜ lebendes Material benötige, das bei einer anerkannten Hinterlegungsstelle hinterlegt und nur durch das Aktenzeichen der Hinterlegung zu identifizieren sei, dann sei dies eine Vorbedingung für die ausreichende Offenbarung einer europäischen Patentanmeldung, die bereits am Anmeldetag erfüllt sein müsse, und nicht nur ein bloßes Formerfordernis.
IV. Der Präsident des EPA äußerte sich gemäß Artikel 11a der Verfahrensordnung der Großen Beschwerdekammer zu der der Kammer vorliegenden Rechtsfrage sinngemäß wie folgt:
- Wenn das Aktenzeichen einer hinterlegten Kultur nicht vor Ablauf des 16. Monats nach dem Anmeldetag (Prioritätstag) angegeben werde, so sei dies nicht als formaler Mangel zu werten, zu dessen Beseitigung der Anmelder nach Ablauf der Frist aufgefordert werden müsse.
- Welche Rechtsfolgen sich daraus ergäben, daß das Aktenzeichen der Hinterlegung einer Kultur nicht bis zum Ablauf der Frist von 16 Monaten angegeben worden sei, lasse sich erst im Stadium der Sachprüfung feststellen. Erst wenn feststehe, daß der hinterlegte Mikroorganismus tatsächlich zur Ausführung der Erfindung erforderlich sei, liege ein Offenbarungsmangel vor.
- Die Erfordernisse des Artikels 83 EPÜ müßten bereits für die Anmeldung in der eingereichten Fassung erfüllt sein. Dies lasse sich aus Artikel 123 (2) EPÜ herleiten. Weise die Offenbarung schwerwiegende Mängel auf, so könne dies später durch Einreichung zusätzlicher Beispiele oder Merkmale nicht behoben werden, ohne daß gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstoßen werde.
- Beziehe sich eine Erfindung auf ein mikrobiologisches Verfahren oder auf ein mit Hilfe dieses Verfahrens gewonnenes Erzeugnis und werde hierbei ein Mikroorganismus verwendet, der der Öffentlichkeit nicht zugänglich sei und in der europäischen Patentanmeldung nicht so beschrieben werden könne, daß ein Fachmann die Erfindung ausführen könne, so sei schon eine Situation gegeben, in der die Erfordernisse des Artikels 83 EPÜ a priori nicht erfüllt seien.
- Die Regel 28 EPÜ sehe eine Fiktion der ausreichenden Offenbarung bzw. eine Ausnahme von der Regel vor, daß die Erfindung in der Anmeldung zu offenbaren sei; hierfür müßten jedoch bestimmte Vorbedingungen erfüllt sein.
- Die Regel 28 (2) EPÜ könne als weitere Ausnahme zu Artikel 83 EPÜ angesehen werden, da sie eine Frist für die Einreichung eines wesentlichen Bestandteils der Offenbarung festsetze.
- Die ausnahmslose Gewährleistung einer umfassenden Unterrichtung der Öffentlichkeit im Veröffentlichungsstadium sei denn auch der Grund dafür, weshalb die Frist keinesfalls länger als 16 Monate sein dürfe. Es sei nicht zulässig, die Ausnahme zu Artikel 83 EPÜ in Verbindung mit Artikel 123 (2) EPÜ über das für die Zwecke der Unterrichtung der Öffentlichkeit erforderliche Maß hinaus auszudehnen.
- Ein in einer Erfindung verwendeter Mikroorganismus könne vermittels einer doppelten Fiktion als Bestandteil der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung angesehen werden: Ein für die ursprüngliche Offenbarung wesentlicher Bestandteil (der Mikroorganismus) gelte nämlich als in der Anmeldung vollständig offenbart - obwohl er es eigentlich nicht sei -, wenn er tatsächlich (spätestens am Anmeldetag) hinterlegt und das (formale) Kriterium der Frist nach Regel 28 (2) EPÜ erfüllt worden sei.
- Die Angabe des Aktenzeichens nach Regel 28 (1) c) EPÜ könne deshalb nach Ablauf der Frist nach Regel 28 (2) a) EPÜ nicht mehr vorgenommen werden.
V. Auf einen Bescheid der Großen Beschwerdekammer vom 14. März 1994 hin nahm der Beschwerdeführer in der Sache T 815/90 am 29. Mai 1994 zu der vorgelegten Rechtsfrage Stellung. Am 24. Oktober 1994 fand eine mündliche Verhandlung statt, in der Herr D. C. Evans für den Beschwerdeführer in der Sache T 815/90 auftrat. Das Vorbringen des Beschwerdeführers läßt sich wie folgt zusammenfassen:
- Bei Hinterlegung einer Kultur in einer Sammlung müsse in der Praxis die Kultur vom Hinterleger identifiziert werden, bevor sie zur Hinterlegung angenommen werde. Somit liege zum Zeitpunkt der Hinterlegung nur ein einziges Aktenzeichen für die hinterlegte Kultur vor, nämlich das des Hinterlegers. Das Aktenzeichen der Hinterlegungsstelle werde später vergeben. Für die Zwecke der Offenbarung sei es wichtig, daß die Hinterlegung nach dem Budapester Vertrag erfolge (damit die Kultur der Öffentlichkeit zugänglich sei) und daß der Mikroorganismus in den Anmeldungsunterlagen entsprechend beschrieben sei. Wie die hinterlegte Kultur bezeichnet werde, könne und dürfe im Hinblick auf das Erfordernis einer ausreichenden Beschreibung in den Anmeldungsunterlagen keine Rolle spielen.
- Zwecke der Regel 28 EPÜ sei es, dem Fachmann einen unzumutbaren Aufwand zu ersparen. Im vorliegenden Fall habe der Fachmann durch den zuvor in Immun. 32 (2) 1981 veröffentlichten Artikel oder auch durch die Anmeldeschrift von der Kultur gewußt und hätte bei der ATCC anhand der ihm zum damaligen Zeitpunkt vorliegenden Informationen eine Probe der Kultur beantragen können. Das Aktenzeichen der ATCC sei hierfür nicht erforderlich.
- Somit diene die Angabe eines ATCC-Aktenzeichens in einem Dokument der interessierten Öffentlichkeit als Nachweis dafür, daß die betreffende Kultur echt und von der ATCC angenommen worden sei. Wenn jedoch das ATCC-Aktenzeichen nicht angegeben worden sei, so genüge es zur Ermittlung der Kultur in der Praxis, daß das interessierte Mitglied der Öffentlichkeit wisse, wo sie hinterlegt worden sei, und eine einigermaßen genaue Beschreibung habe.
- Enthalte die Anmeldung genügend Angaben, anhand deren die Zellinie in einer Sammlung identifiziert werden könne, so sei die Offenbarung de facto ausreichend. Im Hinblick auf Regel 28 (1 ) c) EPÜ müsse ein Aktenzeichen in die Anmeldung aufgenommen werden, damit die Offenbarung rechtlich gesehen vollständig sei.
- Die Angabe des der Kultur von der Hinterlegungsstelle zugeteilten amtlichen Aktenzeichen stelle lediglich eine von der Regel 28 EPÜ verlangte Erleichterung dar und sei somit nicht eine "Erweiterung" im Sinne des Artikels 123 (2 ) EPÜ, da es die in der Anmeldung von Anfang an enthaltene technische Information weder wiederhole noch ihr etwas hinzufüge. Das Fehlen eines Aktenzeichens, im besonderen eines "amtlichen", stelle lediglich einen formalen Mangel der Anmeldung dar.
- Das EPA habe bisher nach dem gesunden Menschenverstand gehandelt und das Fehlen eines Aktenzeichens lediglich als "Mangel" betrachtet, der beseitigt werden könne und müsse. Diese Haltung habe sich auch die Juristische Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung J 8/87 zu eigen gemacht; sie stellte fest, daß es als Mangel zu werten sei, wenn das Aktenzeichen nicht innerhalb der Frist nach Regel 28 (2) a) EPÜ angegeben werde, und dem Anmelder infolgedessen Gelegenheit gegeben werden müsse, diesen Mangel zu beheben. Diese Auslegung sei korrekt, da sie berücksichtige, wie bei der Hinterlegung einer Probe einer Kultur bei einer Hinterlegungsstelle in der Praxis verfahren werde.
- Der der Entscheidung einer Prüfungsabteilung vom 14. November 1989 (ABl. EPA 1990, 156) zugrunde liegende Sachverhalt weise Ähnlichkeit mit dem hier vorliegenden Fall auf, allerdings mit dem Unterschied, daß hier die Prüfungsabteilung nicht aufgefordert worden sei, den Fall sachlich zu prüfen, und deshalb zu einer falschen Entscheidung gelangt sei.
- Es liege auf der Hand, daß die bei der Hinterlegung einer Kultur angewandte Praxis die Auffassung bestätige, daß die fehlende Angabe des von der Hinterlegungsstelle ausgestellten amtlichen Aktenzeichens lediglich einen Mangel darstelle. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Anmeldung sei eine ausreichende Offenbarung gewährleistet, weil die Zellinie aufgrund der Regel 11 des Budapester Vertrags von Rechts wegen zugänglich sei. Wenn die eigene Bezeichnung des Anmelders verwendet worden sei, dann werde sie zum "amtlichen" Aktenzeichen im Sinne des Übereinkommens, da seine Angabe zu den gesetzlichen Erfordernissen der bei Einreichung der Anmeldung vorzunehmenden Ersthinterlegung gehöre (s. Budapester Vertrag).
- Die Offenbarung könne vor Veröffentlichung der Anmeldung allein schon deshalb nicht unvollständig sein, weil der Fachmann bis dahin keinen Zugang zur Anmeldung habe. Somit könne sich bis zum Veröffentlichungstag die Frage der Unvollständigkeit gar nicht stellen, da die Anmeldung dem Fachmann von Rechts wegen nicht zugänglich sei. Daraus folge, daß die vom Präsidenten des EPA angesprochene "Fiktion" der ausreichenden Offenbarung nach Regel 28 EPÜ nicht schlüssig sei. Der Anspruch des Fachmanns auf Herausgabe einer Probe entstehe erst mit der Veröffentlichung.
- Es sei Aufgabe der Anmelder zu entscheiden, welches der beiden Aktenzeichen in der Anmeldung verwendet werden solle. Nach dem Wortlaut der Regel 28 EPÜ dürften beide verwendet werden. Außerdem handle es sich bei dem Austausch eines Aktenzeichens gegen ein anderes um eine nach Artikel 123 2) EPÜ zulässige Änderung, die bis zum Ergehen der Mitteilung nach Regel 51 (4) EPÜ, also lange nach Ablauf der in Regel 28 (2) a) EPÜ vorgeschriebenen Frist von 16 Monaten nach dem Anmeldetag, jederzeit vorgenommen werden könne.
- Auch sei darauf hinzuweisen, daß in der Entscheidung T 39/88 festgestellt worden sei, daß vor 1986 die Rechtslage hinsichtlich der Hinterlegung von Mikroorganismen unklar gewesen sei und daß es unbillig wäre, dem Anmelder diese Unklarheit anzulasten, die dem Hinterlegungssystem zum damaligen Zeitpunkt eigen gewesen sei. Da die streitige Anmeldung am 18. September 1985, also vor Ergehen der Entscheidung in der Sache T 39/88, eingereicht worden sei, sollte dem Beschwerdeführer, eingedenk der Unklarheit des damaligen Systems für die Hinterlegung von Mikroorganismen, Gelegenheit gegeben werden, anstelle des in der ursprünglichen Anmeldung angegebenen Bezugszeichens das amtliche Aktenzeichen des hinterlegten nichtklonierten HM-175-Stamms einzusetzen, zumal ihn der Beschwerdeführer ja rechtzeitig bei der ATCC hinterlegt habe.
- Die Rechtsfrage, die die Technische Beschwerdekammer 3.3.2 der Großen Beschwerdekammer mit der Zwischenentscheidung T 815/90 vorgelegt habe (vgl. Nr. II), sei für die streitige Anmeldung nicht unmittelbar relevant, da der nichtklonierte HM-175-Stamm der Öffentlichkeit bereits vor dem in der streitigen Anmeldung beanspruchten Prioritätstag zugänglich gewesen sei. In diesem Zusammenhang werde auf die eidesstattliche Versicherung von Herrn Adler und das Schreiben des Beschwerdeführers vom 16. November 1992 in der Sache T 815/90 verwiesen, aus denen hervorgehe, daß der nichtklonierte HM-175-Stamm auf Antrag bei der NIH uneingeschränkt zugänglich gewesen sei; nichtklonierte Viren des Stamms HM-175 selbst seien in der zum Stand der Technik gehörenden Veröffentlichung "Infection and Immunity, 32(1), April 1981, Seiten 388 - 393" offenbart worden.
Entscheidungsgründe
Zulässigkeit und Gegenstand der Vorlage
1. Die der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Rechtsfrage bezieht sich nur auf die Frist für die Einreichung der Angaben nach Regel 28 (1) c) EPÜ und die Folgen der Versäumung der Frist nach Regel 28 (2) a) EPÜ.
2. Die Große Beschwerdekammer ist nicht mit der Frage befaßt, ob der Mikroorganismus der Öffentlichkeit z. B. durch eine Hinterlegung für die Zwecke des Verfahrens zur Erteilung des nationalen US-Patents, dessen Priorität hier in Anspruch genommen worden ist, oder durch eine andere Hinterlegung bereits zugänglich war, so daß eine Hinterlegung nach Regel 28 EPÜ nicht erforderlich gewesen wäre. Auch braucht sie weder auf das Erfordernis, wonach für die Zwecke des europäischen Patenterteilungsverfahrens eine Hinterlegung nach Regel 28 EPÜ bzw. nach dem Budapester Vertrag vorgenommen werden muß (vgl. Mitteilung des EPA, ABl. EPA 1986, 269, hier 271 und 272, Nr. 7 und 8), noch auf die Bedingungen für die Umwandlung einer außerhalb des Geltungsbereichs der Regel 28 EPÜ oder des Budapester Vertrags vorgenommenen Hinterlegung in eine Hinterlegung für solche Zwecke (vgl. ABl. EPA 1991, 461) einzugehen. Schließlich geht es bei der der Großen Beschwerdekammer vorgelegten Rechtsfrage auch nicht um die Hinterlegung mehrerer Virusstämme mit derselben "Hausbezeichnung" (vgl. Vorlageentscheidung, Nr. 4.3 - 4.5). Die vorlegende Kammer wird sich mit dieser Frage befassen, wie sie dies für zweckdienlich erachtet.
3. In der Zwischenentscheidung T 815/90 (vgl. Nr. II) und insbesondere der Nummer 4.6 ihrer Entscheidungsgründe hat die Technische Beschwerdekammer 3.3.2 dargelegt, weshalb nach ihrem Dafürhalten die der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Rechtsfrage für die Endentscheidung in der Sache T 815/90 von größter Bedeutung sein könnte. Sie hat ferner angegeben, daß sie beabsichtige, von der rechtlichen Konstruktion der Entscheidung J 8/87 der Juristischen Beschwerdekammer (vgl. Nr. I) abzuweichen. Daher sind die Bedingungen für eine Befassung der Großen Beschwerdekammer nach Artikel 112 (1) a) EPÜ erfüllt.
Beziehung zwischen Artikel 83 und Regel 28 EPÜ
4. Gemäß Artikel 83 EPÜ ist die Erfindung in einer europäischen Patentanmeldung "so deutlich und vollständig zu offenbaren, daß ein Fachmann sie ausführen kann". Um die Erfordernisse des Artikels 83 EPÜ zu erfüllen, muß eine europäische Patentanmeldung also genügend Informationen enthalten, damit ein Fachmann anhand seines allgemeinen Fachwissens die der beanspruchten Erfindung innewohnende technische Lehre erkennen und entsprechend ausführen kann.
5. Für Erfindungen, die sich auf ein mikrobiologisches Verfahren oder ein damit gewonnenes Erzeugnis beziehen und bei denen ein Mikroorganismus verwendet wird, der der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist und in der europäischen Patentanmeldung nicht so beschrieben werden kann, daß ein Fachmann die Erfindung danach ausführen kann, enthält die Regel 28 EPÜ Bestimmungen, die sicherstellen sollen, daß der in Artikel 83 EPÜ verankerte allgemeine Grundsatz (vgl. Nr. 4) angesichts des besonderen Charakters dieser Erfindungen verwirklicht werden kann.
6. Nach Regel 28 (1) EPÜ gilt eine solche Erfindung nur dann als ordnungsgemäß offenbart, wenn
"a) eine Kultur des Mikroorganismus spätestens am Anmeldetag bei einer anerkannten Hinterlegungsstelle hinterlegt worden ist,
b) die Anmeldung in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung die dem Anmelder zur Verfügung stehenden maßgeblichen Angaben über die Merkmale des Mikroorganismus enthält und
c) die Hinterlegungsstelle und das Aktenzeichen der Hinterlegung der Kultur in der Anmeldung angegeben sind."
7. Aus dem Wortlaut der Regel 28 (1) c) EPÜ geht klar hervor, daß mit dem Aktenzeichen der Hinterlegung der Kultur dasjenige gemeint ist, das die Hinterlegungsstelle und nicht der Hinterleger der hinterlegten Kultur zugeteilt hat. Der Begriff "Aktenzeichen" entspricht der "Eingangsnummer", die die Hinterlegungsstelle nach dem Budapester Vertrag (vgl. Regel 7.3 v)) und dem "Musterabkommen" (Nr. 17 b) v), veröffentlicht in ABl. EPA 1982, 454, 459) vergibt.
8. Bei einer Erfindung der in Regel 28 (1) EPÜ genannten Art besteht der Zweck der Hinterlegung einer Kultur in erster Linie darin, die sonst unvollständige schriftliche Offenbarung zu vervollständigen. Die Hinterlegung der Kultur stellt damit einen wesentlichen Bestandteil der Offenbarung dar.
9. Die Regel 28 (1) EPÜ nimmt Bezug auf Artikel 83 EPÜ und dient dazu, die in diesem Artikel verankerten allgemeinen Erfordernisse für eine spezielle Gruppe von Erfindungen zu konkretisieren und zu ergänzen, bei denen eine bloße Beschreibung nicht ausreicht, um den Fachmann in die Lage zu versetzen, die Erfindung auszuführen. Deshalb sind die Bestimmungen der Regel 28 EPÜ den Erfordernissen des Artikels 83 EPÜ nachgeordnet. Für mikrobiologische Erfindungen, bei denen lebendes Material verwendet wird, das der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist und nicht so beschrieben werden kann, daß es nachgearbeitet werden kann, liefern diese Bestimmungen einen zuverlässigen Anhaltspunkt dafür, welche Angaben in einer europäischen Patentanmeldung notwendig sind und unter welchen Bedingungen eine hinterlegte Kultur der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Infolgedessen muß die Offenbarung einer Erfindung der in Regel 28 (1) EPÜ genannten Art nicht nur die Bestimmungen dieser Regel, sondern auch die Erfordernisse des Artikels 83 EPÜ erfüllen.
10. Eine ausreichende Offenbarung im Sinne des Artikels 83 EPÜ setzt unter anderem voraus, daß der in einer europäischen Patentanmeldung beanspruchte Gegenstand eindeutig identifiziert werden kann. Dieses Erfordernis muß bereits am Anmeldetag erfüllt sein, weil eine unzureichende Bezeichnung des beanspruchten Gegenstands in einer europäischen Patentanmeldung in der eingereichten Fassung ein Mangel ist, der später nicht mehr geheilt werden kann, ohne daß gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstoßen wird; dort heißt es nämlich, daß der Gegenstand einer europäischen Patentanmeldung nicht in der Weise geändert werden darf, daß er über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht.
11. Eine im Sinne des Artikels 83 EPÜ ausreichende Offenbarung einer Erfindung der in Regel 28 (1) EPÜ genannten Art setzt voraus, daß die hinterlegte Kultur des Mikroorganismus als wesentlicher Bestandteil der Offenbarung (vgl. Nr. 8) in der ursprünglichen Patentanmeldung angegeben ist. Ist das von der Hinterlegungsstelle vergebene Aktenzeichen (die Eingangsnummer) der hinterlegten Kultur in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung noch nicht angegeben, so muß der Mikroorganismus so bezeichnet werden, daß das später eingereichte Aktenzeichen (die Eingangsnummer) zweifelsfrei zugeordnet werden kann. Dies erfolgt in der Regel durch Angabe des Bezugszeichens, das der Hinterleger dem Mikroorganismus gemäß der Regel 6.1 iv) des Budapester Vertrags oder der Nummer 12 a) iv) des "Musterabkommens" (veröffentlicht in ABl. EPA 1982, 454, 457) zugeteilt hat, sowie des Namens der Hinterlegungsstelle. Dieses Bezugszeichen ist dem Anmelder schon an oder vor dem Anmeldetag bekannt, unabhängig davon, ob die Hinterlegungsstelle das betreffende Aktenzeichen (die Eingangsnummer) schon zugeteilt hat oder nicht. Die dem Hinterleger von der Hinterlegungsstelle ausgestellte Empfangsbestätigung enthält sowohl das Bezugszeichen, das er dem Mikroorganismus zugeteilt hat, als auch die Eingangsnummer, die die Hinterlegungsstelle der hinterlegten Kultur zugeteilt hat (vgl. Regel 7.3 iv) und v) des Budapester Vertrags und Nr. 17 b) iv) und v) des "Musterabkommens" [ABl. cit., 459]).
Rechtlicher Charakter der Frist nach Regel 28 (2) a) EPÜ
12. Um im Sinne des Artikels 83 EPÜ vollständig zu sein, muß die Offenbarung einer Erfindung in einer europäischen Patentanmeldung den Fachmann ferner in die Lage versetzen, die Erfindung auszuführen. Dieses Erfordernis ist gemäß Regel 28 EPÜ erfüllt, wenn eine hinterlegte Kultur der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Dies wird durch Angabe der Hinterlegungsstelle und des Aktenzeichens (der Eingangsnummer) der hinterlegten der Kultur in der europäischen Patentanmeldung bewirkt (R. 28 (1) c) EPÜ), weil nach Regel 28 (2) EPÜ "die Mitteilung dieser Angaben" vorbehaltlos und unwiderruflich als Zustimmung des Anmelders gilt, daß die hinterlegte Kultur nach Maßgabe der Regel 28 EPÜ der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Die bloße Angabe des dem Mikroorganismus vom Hinterleger zugeteilten Bezugszeichens (vgl. Nr. 11) hat nicht diese rechtliche Wirkung.
13. Die Angabe des Aktenzeichens (der Eingangsnummer) einer hinterlegten Kultur in einer Patentanmeldung ist somit wesentlich, weil sie nach dem EPÜ maßgeblich dazu beiträgt, daß der Fachmann die Erfindung auszuführen kann. Deshalb kann sich die Große Beschwerdekammer der rechtlichen Konstruktion der Entscheidung J 8/87 (vgl. Nr. I) nicht anschließen, wonach ein Verstoß gegen Regel 28 (2) a) EPÜ vergleichbar sei mit einem Verstoß gegen die Erfordernisse gemäß Regel 38 (3) EPÜ betreffend die Einreichung von Prioritätsunterlagen. Regel 28 (2) a) EPÜ sieht eine angemessene Frist vor, die gewährleisten soll, daß die hinterlegte Kultur gleichzeitig mit der Veröffentlichung der dazugehörigen europäischen Patentanmeldung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Das Aktenzeichen (die Eingangsnummer) muß gemäß Regel 28 (2) EPÜ innerhalb von 16 Monaten nach dem Anmeldetag oder, wenn eine Priorität in Anspruch genommen worden ist, nach dem Prioritätstag eingereicht werden. Wird diese Frist nicht eingehalten, so sind die Erfordernisse der Regel 28 (1) c) und (2) a) EPÜ nicht erfüllt, und die Erfindung kann nicht als offenbart im Sinne der Regel 28 (1) EPÜ in Verbindung mit Artikel 83 EPÜ gelten. Ob es im Einzelfall de facto möglich ist, das Aktenzeichen der hinterlegten Kultur auch dann noch in der Patentanmeldung zu veröffentlichen, wenn es erst nach Ablauf der Frist von 16 Monaten eingereicht worden ist, ist unerheblich. Aus Gründen der Rechtssicherheit hat der Gesetzgeber eine bindende Frist festgesetzt, um sicherzustellen, daß die notwendigen Angaben rechtzeitig vor der Veröffentlichung der Patentanmeldung vorliegen.
Grundsatz des Vertrauensschutzes
14. Es bleibt der vorlegenden Beschwerdekammer überlassen, anhand etwaiger ihr vorgelegter Tatsachen und Beweismittel zu prüfen, ob die "Richtlinien für die Prüfung im EPA", Teil A, Kapitel IV, Nr. 4.2, eine darauf beruhende allgemeine Praxis des EPA oder sonstige besondere Umstände im vorliegenden Fall den Beschwerdeführer dazu veranlaßt haben, darauf zu vertrauen, daß die Frist nach Regel 28 (2) a) EPÜ möglicherweise verlängert werden könne.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden, die der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Rechtsfrage wie folgt zu beantworten:
Die in Regel 28 (1) c) EPÜ vorgeschriebene Angabe des Aktenzeichens einer hinterlegten Kultur kann nach Ablauf der Frist gemäß Regel 28 (2) a) EPÜ nicht mehr vorgenommen werden.