6.3. Heranziehen von Beschreibung und Zeichnungen zur Auslegung der Ansprüche
Dieser Abschnitt wurde aktualisiert, um die Rechtsprechung und Gesetzänderungen bis 31. Dezember 2023 zu berücksichtigen. Die vorherige Version dieses Abschnitts finden Sie in "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 10. Auflage (PDF). |
Bei der Beurteilung von Neuheit und erfinderischer Tätigkeit kann die Beschreibung nicht herangezogen werden, um ein implizites restriktives Merkmal in den Anspruch hineinzulesen, das dem expliziten Wortlaut des Anspruchs nicht zu entnehmen ist (T 1208/97, T 945/99, T 681/01, T 881/01, T 1105/04, T 223/05, T 1736/06, T 299/09, T 58/13, T 617/18, T 1648/18, T 1266/19, T 530/20). Im Verfahren vor dem EPA, in dem der Patentinhaber die Möglichkeit hat, die Ansprüche so zu beschränken, dass sie mit den in der Beschreibung genannten engeren Grenzen übereinstimmen, sollte der Umfang eines Anspruchs nicht dadurch beschränkt werden, dass Merkmale impliziert werden, die nur in der Beschreibung vorkommen, da Ansprüche damit ihrer gewollten Funktion beraubt würden (T 881/01).
In T 121/89 zog die Kammer zwar die Beschreibung zur Auslegung eines mehrdeutigen Begriffes ("loose ignition charge") heran, betonte aber gleichzeitig, dass nur in den Ansprüchen genannte oder aus diesen ableitbare Merkmale geltend gemacht werden können, um die Erfindung vom Stand der Technik abzugrenzen. Die in der Beschreibung eines Patents angeführten Beispiele schränken den Schutzbereich der Ansprüche nur ein, wenn sie in den Ansprüchen ausdrücklich erwähnt werden. S. auch T 544/89.
In T 932/99 war Anspruch 1 auf ein Erzeugnis als solches gerichtet. Der Anspruch definierte lediglich die Struktur einer Membran als solcher unabhängig von ihrem Einbau in eine Vorrichtung zur Gastrennung. Die Kammer wies darauf hin, dass die im Anspruch enthaltene Angabe "geeignet zur Trennung von Sauerstoff aus einem sauerstoffhaltigen Gasgemisch" aus diesem Grund lediglich dazu diene, eine Eignung der beanspruchten Membran zu definieren, ohne irgendwelche Einschränkungen beim tatsächlichen Einsatz der beanspruchten Struktur anzugeben. Die Beschwerdegegner hatten argumentiert, dass diese Einschränkungen offensichtlich würden, wenn Anspruch 1 im Lichte der Beschreibung ausgelegt würde. Dagegen befand die Kammer, dass unterschieden werden müsse zwischen der Tatsache, dass es erforderlich sein könnte, eine in der Beschreibung enthaltene explizite Definition zur Auslegung eines im Anspruch enthaltenen Begriffs heranzuziehen, und dem Versuch, Art. 69 EPÜ 1973 als Grundlage für das Hineinlesen von Einschränkungen aus der Beschreibung in die Ansprüche zu verwenden, um Einwände mangelnder Neuheit oder mangelnder erfinderischer Tätigkeit zu vermeiden. Das zweite Auslegungsverfahren, bei dem nur in der Beschreibung genannte Merkmale als notwendige Einschränkungen in den Anspruch 1 hineingelesen würden, sei nicht mit dem EPÜ vereinbar (unter Verweis auf T 1208/97). S. auch T 2049/07.
In T 1018/02 hob die Kammer hervor, dass ein Anspruch zwar nicht auf eine Weise ausgelegt werden darf, die unlogisch ist oder keinen Sinn ergibt, die Beschreibung jedoch nicht dazu herangezogen werden kann, einem Anspruchsmerkmal, das als solches dem fachmännischen Leser eine klare, glaubhafte technische Lehre vermittelt, eine andere Bedeutung zu geben. Das gilt auch dann, wenn das Merkmal ursprünglich nicht in der im Anspruch beschriebenen Form offenbart war. Ansonsten könnten sich Dritte nicht auf das verlassen, was in einem Anspruch tatsächlich steht, und Art. 123 (2) EPÜ würde in Bezug auf Anspruchsänderungen bedeutungslos. S. auch T 373/01, T 396/01, T 821/20, T 42/22.
In T 1404/05 befand die Kammer, dass Art. 69 EPÜ und das zugehörige Protokoll dazu gedacht waren, den Patentinhaber darin zu unterstützen, eine breitere Anspruchsinterpretation zu verfolgen, nicht dazu, den Schutzumfang zu verkleinern. Wenn der Patentinhaber in einem Verfahren vor dem EPA einen engen Schutzbereich des Patentanspruchs geltend machen möchte, sollte er dies auf den einfachen Wortlaut des Anspruchs stützen und nicht auf etwas, das nur in der Beschreibung enthalten ist, weil er in einem solchen EPA‑Verfahren die Möglichkeit hat – unter Einhaltung der Erfordernisse von Art. 123 (2) EPÜ – den Wortlaut der Ansprüche einzuschränken.
In T 416/87 (ABl. 1990, 415) war hingegen ein Merkmal nicht in den Ansprüchen enthalten, das in der Beschreibung bei richtiger Auslegung als übergeordnetes Erfordernis der Erfindung ausgewiesen war. Die Kammer vertrat die Auffassung, dass nach Art. 69 (1) EPÜ 1973 und dem zugehörigen Protokoll die Ansprüche als dieses Merkmal enthaltend ausgelegt werden könnten, auch wenn der Wortlaut der Patentansprüche für sich genommen nicht ausdrücklich ein solches Merkmal nenne (in einem obiter dictum bestätigt in T 717/98). S. auch T 2525/11.
In T 1473/19 führte die Kammer aus, dass bei der Auslegung eines Anspruchs zwar gemäß Art. 69 (1) Satz 2 EPÜ die Beschreibung und die Zeichnungen generell zu berücksichtigen sind, der in Art. 69 (1) Satz 1 EPÜ verankerte Grundsatz des Anspruchsprimats aber begrenzt, inwieweit die Bedeutung eines bestimmten Anspruchsmerkmals durch die Beschreibung und die Zeichnungen beeinflusst werden kann. Die Kammer wies darauf hin, dass dies voll und ganz im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung steht, wonach beschränkende Merkmale, die nur in der Beschreibung, nicht aber im Anspruch enthalten sind, nicht in einen Patentanspruch aufgenommen werden können. Der Vorrang der Ansprüche schränkt auch ein, inwieweit die Beschreibung als Wörterbuch für die in den Ansprüchen verwendeten Begriffe dienen kann.
Laut T 169/20 beschränkt Art. 84 Satz 2 EPÜ das Heranziehen der Beschreibung zur Auslegung der Ansprüche implizit auf die Ausnahmefälle, in denen ein solches Heranziehen sowohl notwendig als auch möglich ist. Die Beschreibung sollte nur dann herangezogen werden, wenn der Gegenstand der Erfindung klargestellt werden muss. Darüber hinaus ist ein Heranziehen nur insoweit möglich, als zwischen der Beschreibung und dem Gegenstand der beanspruchten Erfindung eine Übereinstimmung besteht. Die Beschreibung sollte nicht dazu verwendet werden, den Umfang der beanspruchten Merkmale gegenüber dem einzuschränken oder zu ändern, was ein Fachmann beim Lesen dieser Merkmale verstehen würde.
Diese Beschränkungen durch den Grundsatz des Anspruchsprimats wurden in T 73/19, T 2968/19, T 367/20, T 450/20, T 1494/21 und T 111/22 bestätigt.
In T 450/20 und T 1494/21 betonte die Kammer, dass nach Art. 69 (1) EPÜ die Beschreibung und die Zeichnungen nur für die Auslegung von Merkmalen verwendet werden können, die bereits in den Ansprüchen enthalten sind – nicht jedoch dafür, weitere – positive oder negative – Anspruchsmerkmale hinzuzufügen oder vorhandene Merkmale durch andere zu ersetzen. Die Kammer wies ferner darauf hin, dass die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung in der Regel keine Orientierungshilfe für die Auslegung der Ansprüche des Patents in der erteilten Fassung bieten kann.
In T 111/22 führte die Kammer aus, dass der Grundsatz des Anspruchsprimats bei der Auslegung der Ansprüche bedeutet, dass im Falle eines eindeutigen Widerspruchs zwischen den Ansprüchen und der Beschreibung die Ansprüche Vorrang haben. Versteht ein Fachmann einen Anspruch unter Berücksichtigung der grammatikalischen Regeln, der üblichen Bedeutung der verwendeten Begriffe und des allgemeinen Fachwissens ohne jeden Zweifel in einer bestimmten Weise, so hat diese Auffassung in der Regel Vorrang vor einer nebensächlichen und widersprüchlichen Aussage in der Beschreibung – insbesondere wenn diese Aussage lediglich eine vorgebliche Ausführungsform betrifft. Die Kammer gelangte zu dem Schluss, dass das strittige Merkmal nur so verstanden werden kann, dass es sich um Bestandteil ii) – und nicht um die gesamte Menge an Kohlenhydraten in der Zusammensetzung – handelt, die 10-45 Gew.-% Palatinose umfasst. Der erteilte Anspruch 1 umfasse daher eine gegen Art. 123 (2) EPÜ verstoßende unzulässige Erweiterung. Um diesen Einwand auszuräumen, habe der Beschwerdeführer das strittige Merkmal ersetzt durch: "15-45 Gew.-% des Bestandteils ii), bezogen auf die verfügbare Kohlenhydratzusammensetzung, besteht aus Palatinose". Nach Ansicht des Beschwerdeführers stellte dies keinen Verstoß gegen Art. 123 (3) EPÜ dar, weil die Beschreibung bei der Bestimmung des Schutzumfangs des erteilten Patents nach Art. 69 EPÜ zu berücksichtigen sei. Die Kammer widersprach und wies darauf hin, dass Art. 69 (1) Satz 2 EPÜ nicht dafür herangezogen werden kann, ein Anspruchsmerkmal durch ein anderes Merkmal zu ersetzen, das nur in der Beschreibung enthalten ist. Würde man den betreffenden Abschnitt der Beschreibung in den klaren Wortlaut von Anspruch 1 in der erteilten Fassung hineinlesen, um Übereinstimmung mit Art. 123 (3) EPÜ herzustellen, wäre der Wortlaut dieses Anspruchs nur noch eine leere Hülle. Dies würde den in Art. 69 (1) Satz 1 EPÜ verankerten und in T 1473/19 bekräftigten Grundsatz untergraben, dass die Patentansprüche bei der Bestimmung des Schutzumfangs des europäischen Patents Vorrang haben. Siehe auch II.E.2.3.1c).